Rede von
Volker
Kröning
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Rehabilitierung und Entschädigung der Opfer der nationalsozialistischen Militärjustiz ist aus zwei Gründen nötig. Zum ersten: Die Forschung, die Öffentlichkeit und ein Teil der dritten und der zweiten Gewalt sind inzwischen weithin der Auffassung, daß die Urteile der deutschen Militärstrafgerichte im Zweiten Weltkrieg Unrecht gewesen sind. Es sind Urteile einer rechtsstaatswidrigen Justiz in einem völkerrechtswidrigen Krieg gewesen.
Ich nenne als Beispiele für diesen Debattenstand, ohne auf Einzelheiten einzugehen:
erstens die von der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, der Neuen Richtervereinigung und der Berliner Senatsverwaltung für Justiz 1993 fertiggestellte und inzwischen in vielen Städten gezeigte Ausstellung über das Reichskriegsgericht, fünf Jahre nach der Ausstellung „Im Namen des Volkes", um die sich das Bundesjustizministerium bleibende Verdienste erworben hat;
zweitens die Koalitionsvereinbarung von CDU/ CSU und SPD in Mecklenburg-Vorpommern von 1994, die im Zusammenhang mit der Entschädigung für SED-Unrecht aus guten Gründen fordert, auch „auf eine Aufhebung der Urteile wegen Desertion gegen Angehörige der Deutschen Wehrmacht hinzuwirken";
drittens die bekannte Entscheidung des Bundessozialgerichts vom 11. September 1991, der bereits mit Rundschreiben vom 21. April 1992 der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung beigetreten ist.
Meine Damen und Herren, aus diesen Vorgängen hat der Deutsche Bundestag noch keine Konsequenzen gezogen. Nach wie vor handeln Bundesregierung, Landesbehörden und die Rechtsprechung uneinheitlich. SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN haben deshalb ihre bereits 1993/94 behandelten Anträge wieder eingebracht. Wir hoffen nunmehr auf eine Mehrheit, die den Opfern hilft - den wenigen, die noch leben.
Doch die Debatte ist hier und heute auch aus einem zweiten Grund nötig. Wir nähern uns dem 8. Mai 1995, und schon vor zehn Jahren hat der Deutsche Bundestag für die Beurteilung der NS-Justiz Maßstäbe gesetzt, hinter denen wir bei dem Thema der Militärjustiz nicht zurückbleiben dürfen. Das Haus hat damals einstimmig festgestellt,
daß die als „Volksgerichtshof" bezeichnete Institution kein Gericht im rechtsstaatlichen Sinne, sondern ein Terrorinstrument zur Durchsetzung der nationalsozialistischen Willkürherrschaft war.
Und das Parlament hat ausgesprochen, worauf viele Opfer und ein großer Teil der Öffentlichkeit gewartet hatten:
Den Entscheidungen des „Volksgerichtshofs" kommt ... nach Überzeugung des Deutschen Bundestages keine Rechtswirkung zu. ... Den Opfern und ihren Familien bezeugt der Deutsche Bundestag Achtung und Mitgefühl. Mit ihrem Widerstand gegen das Naziregime haben sie ein bleibendes Beispiel gesetzt.
Volker Kröning
Der SPD-Fraktion geht es um die Opfer der Militärjustiz und ihre Hinterbliebenen, aber nicht nur um sie. Die Opfer - oft nur „Deserteure" genannt - sind diejenigen, die zum Tode oder zu Zuchthaus verurteilt wurden, hingerichtet oder in Straflagern und Strafbataillonen zu Tode geschunden wurden und jahrzehntelang geächtet waren, weil sie den Kriegsdienst verweigerten, die Wehrkraft zersetzten - wie es damals hieß -, fahnenflüchtig wurden oder Ungehorsam übten.
Die deutsche Militärjustiz verhängte im Zweiten Weltkrieg mehr als einhundert-, wenn nicht zweihundertmal soviel Todesurteile wie im Ersten Weltkrieg und vollstreckte allein Todesurteile wegen Wehrkraftzersetzung und Fahnenflucht wahrscheinlich mehr als vierhundertmal häufiger. Die Zahl der Zuchthausstrafen, die unter KZ-ähnlichen Bedingungen vollstreckt wurden, ist noch viel höher und nicht mehr bezifferbar. Weder das Kaiserreich noch die Westalliierten kannten einen derartigen Exzess.
Es geht zunächst um die Würde dieser Opfer, der Toten und der wenigen noch Lebenden, und um die Nachteile, die sie und die Hinterbliebenen, die Witwen und Waisen, erlitten haben. Bis heute gelten sie als vorbestraft oder als Angehörige von Vorbestraften. Sie haben so gut wie keine Entschädigung erhalten.
Längst haben Geschichtsschreibung und Rechtspraxis unseres Staates den Widerstandskämpfern Gerechtigkeit verschafft, und keinem Soldaten - sei es der Wehrmacht oder der Waffen-SS - ist Entschädigung vorenthalten worden. Längst ist Gemeinplatz, daß es keine Kollektivschuld - weder der damals noch der heute Lebenden - gibt, und den meisten unserer Generation ist bewußt, daß wir den Vätern und Großvätern auch individuell Verständnis für ihr Tun und Unterlassen entgegenzubringen haben. Wir und unsere Kinder sollten dies auch mit größerem Abstand fertigbringen, besonders wenn wir bei den Eltern Einsicht angetroffen haben.
Doch die Opfer der NS-Justiz im allgemeinen und der NS-Militärjustiz im besonderen hatten und haben es besonders schwer. Niemand hat dies besser ausgedrückt als der ehemalige Bundesjustizminister Hans A. Engelhard und die ehemalige Berliner Justizsenatorin Frau Professor Limbach in ihren Vorworten zu den erwähnten Ausstellungen.
Engelhard schreibt:
Wie fast alle gesellschaftlichen und politischen Kräfte war auch die Justiz in den fünfziger und sechziger Jahren nicht bereit, sich ihrer Vergangenheit zu stellen, in einer offenen Diskussion Ursachen und Hintergründe ihres geradezu geräuschlosen Abgleitens in das NS-Unrechtssystem zu erörtern und daraus Konsequenzen zu ziehen.
Frau Limbach bemerkt zu dem „für die Nachkriegsgeneration beschämenden Kapitel" - wie sie sagt - „der Nachgeschichte der Wehrmachtsgerichte":
... keiner der Richter des Reichskriegsgerichts
- das gilt ebenso für alle übrigen Wehrmachtsgerichte - ist
je rechtskräftig verurteilt worden. Nicht nur haben sie sich problemlos in die deutsche Nachkriegsjustiz integriert. Sie haben darüber hinaus Geschichtsschreibung in eigener Sache betrieben.
Meine Damen und Herren, bei näherem Hinsehen bemerken wir noch mehr: Die Juristen der NS-Zeit haben nicht nur „Geschichtsschreibung in eigener Sache" betrieben, sondern auch dazu beigetragen, daß die Opfer der Militärjustiz zweimal bestraft worden sind: Durch die Gesetzgebung und Rechtsprechung der Nachkriegszeit zieht sich wie ein roter Faden die Auffassung „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein". Ich nenne noch einmal drei Beispiele:
Erstens. Die Leistungen nach §§ 1 und 2 des Bundesentschädigungsgesetzes von 1953 sind auf Verfolgte beschränkt. Der Bundesgerichtshof faßt unter diesen Begriff zwar auch Widerstandskämpfer, aber nach wie vor nicht Deserteure. An dieser Auslegung scheitert auch - und sogar - die Anerkennung von Rentenersatzzeiten.
Zweitens. Das Urteil des Bundessozialgerichtes von 1991, das die jahrzehntelange Rechtsprechung zu dem verunglückten § 1 Abs. 2 Buchst. d) des Bundesversorgungsgesetzes von 1950 korrigiert hat, beschränkt sich auf dieses Rechtsgebiet; seine Grundsätze sind kein Gemeingut der Wiedergutmachung von NS-Unrecht geworden.
Drittens. Schließlich erhalten die Opfer der NS-Militärjustiz nicht einmal Leistungen nach dem Allgemeinen Kriegsfolgengesetz; die Verurteilungen gelten nach wie vor als Ahndung von Unrecht. Die Bilanz der 1988 geschaffenen Härteregelung ist blamabel. Das Bundesfinanzministerium gibt den Betroffenen keinen Einblick in die Verwaltungsvorschriften.
Meine Damen und Herren, diese Praxis grenzt an Rechtsverweigerung. Hier kann nur noch der Deutsche Bundestag abhelfen. Deshalb geht es der SPD- Fraktion nicht nur darum, die Urteile der Militärstrafgerichte, zumindest soweit sie Deserteure betreffen, wie die Urteile der sogenannten zivilen Strafjustiz - des Volksgerichtshofes und der Sondergerichte - für nichtig zu erklären und die Opfer zu rehabilitieren, sondern auch und vor allem darum, die Entschädigung berechenbar und abschließend zu regeln.
Dazu gibt auch der Antrag von BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN nützliche Anregungen. Das Ergebnis der Ausschußberatungen muß für die Betroffenen materiell und zeitlich klar sein - ohne einen rechtlichen und bürokratischen Hürdenlauf, den sie nicht überleben werden.
Wir wollen aber auch - lassen Sie mich bitte damit den abschließenden Gesichtspunkt anschneiden - Klarheit und Konsequenz in einem weiteren Sinne.
Volker Kröning
Wir, die von Frau Limbach so apostrophierten Nachkriegsgenerationen, stehen vor der Alternative, ob wir es bei der historischen Aufbereitung des Nationalsozialismus - hier der Justiz in der NS-Zeit - bewenden lassen und so tun wollen, als ob es für die Opfer der Militärjustiz zu spät sei, oder ob wir auch eine Lehre formulieren und diese Lehre beherzigen. Es ist zu fragen, ob wir das sollen und können. Ich meine, ja. Wir schulden unseren Staatsbürgern und besonders den Angehörigen des Soldaten- und Juristenberufes eine Antwort. Diese Antwort - spät, aber nicht zu spät - kann und wird auch den Opfern helfen.
Mit dem ganzen Ernst der Verantwortung, dessen wir fähig sind, müssen wir zweierlei feststellen:
Erstens. Der Krieg und seine Justiz, die, wie ein Mitglied der Reichskriegsanwaltschaft 1940 gesagt hat, „ein Mittel, und zwar ein sehr wichtiges, zur Erringung des Sieges" war, sie waren nicht Recht, sie waren rechtsstaatswidrig und völkerrechtswidrig und damit Unrecht. Dies hat nicht einer gemacht und begangen; eine Unzahl von Deutschen war es: nicht nur die Nazi-Partei, sondern auch viele Angehörige der Eliten, auch der militärischen und juristischen Eliten. Gerade diesen Eliten gegenüber, die wir auch in der Demokratie und im Rechtsstaat brauchen, ist Deutlichkeit geboten.
Während die Täter zumeist davon gekommen sind, haben wir viele Opfer lange Zeit vergessen. Die Verweigerer und Verzweifelten, die die NS-Militärjustiz verurteilt hat, sind fast die letzten, an die uns zu erinnern wir inzwischen gelernt haben. Wer ihre Geschichte, ihr Schicksal kennt, kann ihnen die Würde nicht absprechen. Sie haben einen Anspruch auf Rehabilitation und Entschädigung nicht weniger als die Opfer des SED-Unrechts, denen bereits durch das Erste Unrechtsbereinigungsgesetz geholfen worden ist.
Zum zweiten: Wir haben gelernt, daß die spezifische Differenz zwischen unserer demokratischrechtsstaatlichen Lebensform und der NS-Herrschaft - ich stehe nicht an zu sagen: und beiden Diktaturen auf deutschem Boden in diesem Jahrhundert - unser Recht ist, das Verfassungsrecht, das einfache Gesetzesrecht, das nach ihm erlassen ist, und das Völkerrecht, in das wir eingebunden sind.
Absichtlich hat das Grundgesetz in Art. 102 die Todesstrafe abgeschafft. Absichtlich ist daran bei dem Erlaß der Wehrverfassung und der Notstandsverfassung in den fünfziger und sechziger Jahren festgehalten worden. Ebenso ist das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ein Signum unserer Verfassung und auch im Kriegsfall nach Art. 79 Abs. 3 nicht antastbar. Wir haben eine Verfassung, die den Angriffskrieg verbietet, die Anwendung und Androhung von Gewalt auf Verteidigung beschränkt. Und aus gutem Grund sind in Art. 96 Abs. 2 des Grundgesetzes die Grundzüge einer rechtsstaats- und völkerrechtskonformen Wehrgerichtsbarkeit geregelt, die von zivilem Personal ausgeübt wird und nicht dem Verteidigungs-, sondern dem Justizministerium zugeordnet ist. Dies muß auch nach 50 Jahren der Maßstab bleiben, auch und gerade nach der Wiederherstellung der deutschen Einheit.
Ich spitze es zu: Es geht im Parlament nicht in erster Linie um historisch-moralische Bewertung; die ist niemals abzuschließen, und die ist auch niemals zur Einmütigkeit zu führen. Es geht vielmehr um einen rechtlichen Maßstab. Auf die juristische Wirkungsgeschichte des unseligen Satzes „Was damals Recht war, kann heute nicht Unrecht sein" gibt es nur den knappen Kommentar, den die heutige Bundesverfassungsrichterin und frühere Bundessozialrichterin Renate Jäger neulich gegeben hat: „Unsere jetzigen Maßstäbe müssen gelten und nicht die der damaligen Zeit".
Dies ist die Antwort, die - und all dies müssen wir leisten - den Opfern moralisch und materiell hilft, die vor den Soldaten von damals und heute Bestand hat und die unsere Juristen und Verwaltungsbeamten in die Pflicht nimmt.
Diese Antwort gibt unser Antrag. Wir bitten um die Zustimmung.