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ID1300602200

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 13/6 Deutscher Stenographischer Bericht 6. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 157 A Zusatztagesordnungspunkt 1: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen (Drucksache 13/ 34) 157A Zusatztagesordnungspunkt 2: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Einsetzung von Ausschüssen (Drucksache 13/35) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Petra Bläss, Manfred Müller, weiterer Abgeordneter und der PDS: Einsetzung von Ausschüssen (Drucksache 13/33) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einrichtung eines Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (Drucksache 13/ 36) 157B Tagesordnungspunkt: Regierungserklärung des Bundeskanzlers (Fortsetzung der Aussprache) Gerhard Schröder, Ministerpräsident (Niedersachsen) 157 D Michael Glos CDU/CSU 163B Margareta Wolf-Mayer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 168C Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 170B Dr. Christa Luft PDS 176A Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU 177D Rudolf Dreßler SPD 180C Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 184A Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 186C Dr. Gisela Babel F D P. 188B Dr. Heidi Knake-Werner PDS 190 D Anke Fuchs (Köln) SPD 192B Dr. Norbert Blüm CDU/CSU 193A, 195A, 219C Hans-Eberhard Urbaniak SPD . . . 193B, 195B Ernst Hinsken CDU/CSU 194B Dr. Günter Rexrodt F.D.P 196B Otto Schily SPD 197A Dr. Heiner Geißler CDU/CSU 197D Rudolf Dreßler SPD . . . 198C, 199A, 256B Karl-Josef Laumann CDU/CSU . . . . 199C Jörg Tauss SPD 200D, 249B, 250A Dr. Uwe-Jens Rössel PDS 201 D Michael Müller (Düsseldorf) SPD . . . 203 A Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/ CSU 204 A Dr. Angela Merkel, Bundesministerin BMU 206A Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 208D Birgit Homburger F D P 210C Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/ CSU 212A II Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 Jochen Borchert, Bundesminister BML . 213C Horst Sielaff SPD 215A Dr. Gerald Thalheim SPD 215D Egon Susset CDU/CSU 216C Dr. Christa Luft PDS 216D Namentliche Abstimmung 217 C Ergebnis 221 C Ulla Schmidt (Aachen) SPD 217D Waltraud Schoppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 218D Michael Glos CDU/CSU 221 A Claudia Nolte, Bundesministerin BMFSFJ 224 A Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 226 C Cornelia Schmalz-Jacobsen F.D.P. . . . 228 D Christina Schenk PDS 231 C Maria Eichhorn CDU/CSU 233B Christel Hanewinckel SPD 234 D Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . 237 D Ortrun Schätzle CDU/CSU 238 D Ulla Schmidt (Aachen) SPD 240A Ilse Falk CDU/CSU . . . . . . . . . 241 A Klaus Kirschner SPD 243 A Horst Seehofer, Bundesminister BMG . 246C Peter Dreßen SPD 247D Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 251A Dr. Dieter Thomae F D P. 252 C Klaus Kirschner SPD 253 C Dr. Ruth Fuchs PDS 254 A Wolfgang Friedrich Lohmann (Lüdenscheid) CDU/CSU 255 A Dr. Ruth Fuchs PDS 255 B Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 256 A Nächste Sitzung 257 C Berichtigung 257 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 258* A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Christina Schenk (PDS) zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 13/35: Einsetzung von Ausschüssen (Zusatztagesordnungspunkt 2) 258* B Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 157 6. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 Beginn: 9.00 Uhr
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    Berichtigung Plenarprotokoll 13/5, Seite 149B, letzter Absatz: In der zweiten Zeile ist statt „ Verführer' " „Verschwörer" zu lesen. Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Beucher, Friedhelm SPD 24.11.94 Julius Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 24.11.94 Dr. Eid-Simon, Ursula BÜNDNIS 24.11.94 90/DIE GRÜNEN Graf (Friesoythe), Günter SPD 24.11.94 Frhr. von Hammerstein, CDU/CSU 24.11.94 Carl-Detlev Hasenfratz, Klaus SPD 24.11.94 Dr. Höll, Barbara PDS 24.11.94 Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 24.11.94 Labsch, Werner SPD 24.11.94 Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 24.11.94 Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 24.11.94 Erich Meckel, Markus SPD 24.11.94 Neumann (Gotha), SPD 24.11.94 Gerhard Nickels, Christa BÜNDNIS 24.11.94 90/DIE GRÜNEN Saibold, Hannelore BÜNDNIS 24.11.94 90/DIE GRÜNEN Schumann, Ilse SPD 24.11.94 Vergin, Siegfried SPD 24.11.94 Volmer, Ludger BÜNDNIS 24.11.94 90/DIE GRÜNEN Vosen, Josef SPD 24.11.94 Wallow, Hans SPD 24.11.94 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 24.11.94 Wieczorek (Duisburg), SPD 24.11.94 Helmut Dr. Zöpel, Christoph SPD 24.11.94 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Christina Schenk (PDS) zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 13/35: Einsetzung von Ausschüssen (Zusatztagesordnungspunkt 2) Abg. Christina Schenk (PDS): Ich werde gegen den genannten Antrag stimmen, insbesondere weil ich mich gegen die Zusammenlegung der Ausschüsse Frauen und Jugend einerseits und Familie und Senioren andererseits aussprechen möchte. In der Praxis der Bundesrepublik Deutschland ist die Gleichstellung von Frau und Mann trotz der Verankerung des Gleichberechtigungsgrundsatzes im Grundgesetz noch immer nicht verwirklicht. Nach wie vor bestehen hinsichtlich der sozialen Stellung, in bezug auf die soziale Sicherung und hinsichtlich der Chancen von Frauen und Männern im Beruf, im politischen Leben, in Bildung und Ausbildung und in der Familie sowie hinsichtlich der Möglichkeit, zu selbstbestimmten Lebensentwürfen zu kommen und diese auch umzusetzen, gravierende Ungleichheiten. Eine wachsende Frauenerwerbslosigkeit in Ost und West, die deutliche Zunahme von Gewalttaten gegen Frauen und nicht zuletzt die Negierung des Rechts auf selbstbestimmte Schwangerschaft durch das Bundesverfassungsgericht zeigen sogar einen deutlichen Trend zur Verschlechterung der Lage der Frauen. Um die Selbstbestimmung und Gleichstellung der Frauen gegenüber den gefestigten patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaft besser durchzusetzen, ist auf Bundesebene eine Politik erforderlich, die die Frage der Gleichstellung oder besser: Chancengleichheit von Frau und Mann in all en Politikfeldern behandelt. Eine solche Politik ist jedoch nur umsetzbar, wenn es in der Regierung und natürlich auch im Parlament eine strukturelle Grundlage dafür gibt. Daher fordert die PDS hier an dieser Stelle die Einsetzung eines Ausschusses des Bundestages für die Gleichstellung der Geschlechter. Dieser Ausschuß sollte, wie bereits angedeutet, im Querschnitt zu allen anderen Ausschüssen des Bundestages tätig werden und deshalb auch in die Arbeit aller anderen Ausschüsse einbezogen werden und in diesen Mitspracherecht haben. Die Einordnung der Gleichstellungsproblematik in die Fragen, die die Situation von Kindern, Jugendlichen und Senioren betreffen, wird weder ihrer Komplexität noch ihrem Umfang gerecht. Ich werde daher die vorgeschlagene Zusammenlegung der Ausschüsse ablehnen, und ich verbinde das mit der Bitte um Zustimmung zu unserem Antrag auf Einrichtung eines Ausschusses für Gleichstellungsfragen auf Drucksache 13/33.
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    Rede von Rudolf Dreßler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung soll die politischen Absichten der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. für die nächsten vier Jahre deutlich machen. Die Regierungserklärung soll erläutern, mit welchen Maßnahmen und Initiativen die Bundesregierung unser Land nach der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit wieder vorwärts bringen will.
    Deutschland müsse für die Zukunft fit gemacht werden, heißt es dort. Richtig, das muß es wirklich. Wir brauchen einen Aufbruch in die Zukunft, heißt es weiter. Auch richtig. Wer die Regierungserklärung und die ihr zugrundeliegende Koalitionsvereinbarung auf diesen Anspruch hin überprüft, wird feststellen: Hier geht es nicht um Aufbruch, hier geht es um Abgesang.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Wenn Regierungserklärungen Orientierungen bieten sollen, so ist das, was der Bundeskanzler gestern vorgetragen hat, ein Dokument der Desorientierung, kraftlos, ohne Feuer und ohne Inspiration.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Wir haben eine inhaltlich ausgebrannte und personell ausgeblutete Regierung vor ihrem letzten Gefecht, geprägt von der Angst, die fast verlorene parlamentarische Mehrheit vollends zu verlieren, erlebt.

    (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie träumen doch!)

    Diese Regierungserklärung, meine Damen und Herren, legt offen: Wir stehen vor einer Phase der politischen Lähmung. Keines der drängenden Probleme wird wirklich in Angriff genommen.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Sachsen-Anhalt!)




    Rudolf Dreßler
    Von der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, der Sicherung des Standorts Deutschland im internationalen Wettbewerb bis zu der Ausrichtung des Sozialstaats auf zukünftige Herausforderungen — nichts wird wirklich begonnen, alles wird hinter wohlfeilen, vagen Formeln versteckt.
    Robert Leicht hat recht, wenn er zu dieser Regierung und ihrer Politik jüngst in der „Zeit" feststellt:
    Die handelnden Personen verbergen ihre Unschlüssigkeit und Unsicherheit hinter Formelkompromissen, die vieles beschwören, ohne daß es wirklich zum Schwur kommt.

    (Beifall bei der SPD)

    Für die SPD-Fraktion steht fest: Würde diese Regierung der politischen Lähmung und der inneren Schwäche vier Jahre ihres Amtes walten,

    (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Tut sie nicht!)

    unserem Land bekäme das nicht gut. Diesem Land würden Belastungsproben abverlangt, die es in sich haben.
    Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sieht es daher als ihre Pflicht an, alles zu tun, um das unserem Land zu ersparen.

    (Beifall bei der SPD)

    Der wirtschaftliche Aufstieg unseres Landes und die Bewahrung des sozialen Friedens hängen in entscheidender Weise davon ab, wie und ob es gelingt, das Problem der Massenarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen und es schrittweise zu lösen.
    Die zentrale Frage lautet: Wie lange wollen und können wir uns die vorherrschende gesellschaftspolitische Praxis des Umgangs mit Massenarbeitslosigkeit eigentlich noch leisten?

    (Beifall bei der SPD)

    Es hängt von der Ernsthaftigkeit ab, mit der nach Antworten auf die Frage gesucht wird, ob sich ein drohender beschäftigungspolitischer und damit gesellschaftspolitischer GAU verhindern läßt. Die Regierungserklärung wie die Koalitionsvereinbarung stellen unter Beweis, daß die Koalition weder willens noch fähig ist, auf diese Frage ernsthafte Antworten zu finden.
    Beim Umgang mit dem Problem der Massenarbeitslosigkeit haben in dieser Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. offenkundig die Anhänger der reinen Lehre das Sagen. Die sagt: Der Preis für die Ware Arbeitskraft muß so weit sinken, daß sich dafür wieder Käufer finden.
    Die Kürzungskonzerte im Leistungskatalog des Arbeitsförderungsgesetzes, die diese Regierung seit ihrem Bestehen in jedem Haushaltsjahr veranstaltet, offenbaren die gesellschaftspolitische Haltung, die dahintersteht: Sozial Bedürftige und Arbeitslose sollen finanziell knapper gehalten werden, um dadurch vermeintliche Eigeninitiative und Arbeitsbereitschaft anzuregen.
    Daß diese „Brotkorb-höher-hängen-Philosophie" in die gesellschaftspolitische Rumpelkammer gehört, ist die eine Sache. Daß sie an den Beweggründen und Bewußtseinslagen der betroffenen Menschen völlig
    vorbeigeht, ist die andere und für die Folgen von Politik viel entscheidendere.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf des Abg. Wolfgang Friedrich Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU])

    — Wissen Sie, Herr Lohmann, Ihre Zwischenrufe waren schon einmal intelligenter.
    Die Erwartung, daß sich eine arbeitslose Textilfacharbeiterin aus Plauen im Vogtland oder Viersen am Niederrhein

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Wie kommen Sie auf Viersen?)

    unter Ihrer Androhung, Herr Louven, sozialer Verelendung motivieren ließe, bei einem Stuttgarter Zahnarzt oder Hamburger Studienrat als Dienstmädchen zu arbeiten, ist schlicht absurd.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Das Schlimme ist: Bei Ihnen von der CDU/CSU und von der F.D.P. beruht das auf einem Menschenbild, das mit der Freiheit des einzelnen sehr wenig, aber mit der beliebigen Verfügbarkeit seines Schicksals sehr viel zu tun hat.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Ich frage: Was soll eigentlich der Hinweis in der Koalitionsvereinbarung, man müsse den Bereich des privaten Haushaltes für den Arbeitsmarkt nutzbar machen und dort die Möglichkeit für neue Stellen schaffen? Soll das ein Beitrag zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit sein, Herr Blüm? Entsteht etwa ein neuer Beschäftigungsboom, wenn Kinderfrauen, Hausmädchen und Gartenboys für den privaten Haushalt steuerabzugsfähig gemacht werden?

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Natürlich!)

    Das glaubt ja in dieser Regierung noch nicht einmal der Herr Rexrodt, und das will allerdings was heißen.

    (Beifall bei der SPD — Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Der glaubt das! — Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Neidhammel!)

    Dahinter steht eine ganz bestimmte gesellschaftspolitische Philosophie: Je niedriger die soziale Mindestabsicherung, desto höher die Nachfrage selbst nach mies bezahlter Arbeit. Diese Regierung will Konjunktur für etwas schaffen, was man in der Fachsprache „bad jobs" nennt. Sie will ein Klima, in dem Arbeitnehmer aus Gründen ihrer Existenzsicherung bereit sind, wie es sprichwörtlich heißt, für einen Apfel und ein Ei zu arbeiten. Das geschieht in der nicht unberechtigten Erwartung, daß sich dann weitere finden, denen aus der Not heraus der Apfel reicht und die auf das Ei verzichten.
    Einer solchen Politik, meine Damen und Herren, geht es nicht mehr um Menschen, für die Arbeit zentrales Element einer sinnvollen Lebensführung darstellt, sondern ihr geht es um Menschen, die sich gefälligst produktionsgerecht verfügbar zu halten



    Rudolf Dreßler
    haben, wenn sie ihr Existenzminimum verdienen wollen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Die Frage, ob das nun der Aufbruch dieser Regierung in die Zukunft sein soll, ist ja wohl berechtigt. Es ist in Wahrheit eine Rückkehr in Produktions- und Arbeitsverhältnisse, die wir überwunden haben. Eine Fahrt in diese Vergangenheit macht die sozialdemokratische Bundestagsfraktion nicht mit.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Regierungserklärung belegt, daß die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. abermals auf eine aktive Arbeitsmarktpolitik verzichten und sich statt dessen auf das bloße Verwalten von Arbeitslosigkeit beschränken will. Tatsächlich ist sie drauf und dran, in der Wirklichkeit zu testen, welche Zukunft eine Gesellschaft hat, die immer mehr Menschen bestätigt, daß ihre Arbeitsleistung nicht mehr gefragt ist. Das wäre ein Test, der nur in einer sozialen Katastrophe enden kann.
    Ist Ihnen von der Regierung wirklich nicht klar, was Arbeit für den einzelnen, für seine Stellung im gesellschaftlichen Gefüge, bedeutet? Ich sage Ihnen: Wer Arbeit hat, gesichert und einträglich, der zeigt, daß er etwas „geworden ist". Er verdient sein Einkommen und kann sich Dinge leisten, die für sein Ansehen in der Familie, bei Nachbarn und Freunden wichtig sind. Einen Job zu haben sichert Kontakte und Gesprächsstoff, gibt Halt.
    Das mögen Banalitäten sein; aber es sind Banalitäten nur bis zu jenem Tag, an dem der Job wegbricht. Wer seine Arbeit verliert, der verliert nicht nur einen Teil seiner täglichen Bürde. Er verliert stets auch seine Würde. Ich empfinde es als unerträglich, daß diese Regierung in ihren Reden über Arbeitslosigkeit so tut, als sei das eine Art Zwangsurlaub, Familienpause oder Muße für Nachbarschaftserfahrungen oder andere angenehme Dinge.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich habe nicht den Eindruck, daß diese Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. auch nur näherungsweise die Probleme erfaßt hat, die am Arbeitsmarkt in Zukunft auf uns zukommen werden. Das PrognosInstitut faßt die zu erwartende Entwicklung in einem nüchternen Satz zusammen. Dort liest man:
    Der Produktivitätsfortschritt bis zum Jahre 2010 reicht aus, die Mehrproduktion ohne zusätzliche Arbeitskräfte zu erstellen.
    Wenn das stimmt — und ich zweifle daran nicht —, dann ist dies für jede verantwortungsbewußte Politik ein Alarmsignal; ein Alarmsignal, das zu höchster Aktivität am Arbeitsmarkt veranlassen sollte, aber nicht, wie bei dieser Regierung, zum arbeitsmarktpolitischen Nichtstun.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Im Problemdreieck von Rationalisierung, unterlassener Beschäftigungspolitik und Rezession verschwinden in Deutschland Tag für Tag bis zu 2 000 Arbeitsplätze, die nur zu einem immer kleineren Teil
    durch Expansion in den noch oder wieder wachsenden Wirtschaftssektoren neu entstehen. Wo wird in der praktischen Politik dieser Regierung oder ihrer Ankündigungen, wo wird in ihren Absichtserklärungen für die nächsten Jahre deutlich, daß sie aus dieser Entwicklung ihre Konsequenzen gezogen hat? Ich erkenne nichts. Ich lese nichts.
    In den alten Bundesländern liegen die Kosten pro Arbeitslosen bei knapp 40 000 DM. Rechnet man entgangene Steuereinnahmen hinzu, so liegen sie gar noch um einiges darüber. Es macht doch keinen Sinn, meine Damen und Herren, wenn Sie so weitermachen wie bisher. Aber es macht Sinn, wenn Sozialdemokraten fordern, diese 40 000 DM nicht für die Zahlung von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe, also für Lohnersatzleistungen, auszugeben, sondern mit diesem Geld Arbeitsplätze zu finanzieren, aus Arbeitslosen wieder Beitragszahler zu machen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Wir werden dieser Koalition nicht ersparen, darauf eine Antwort zu geben. Wir werden im Bundestag ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz vorlegen, das mit unserer Forderung Ernst macht: Arbeit schaffen statt Arbeitslosigkeit finanzieren.
    Wer sich den Tort antut, die Regierungserklärung, die der Bundeskanzler gestern vorgetragen hat, und die Koalitionsvereinbarungen von CDU/CSU und F.D.P. im einzelnen nachzulesen und auf ihre Konsequenzen hin zu überprüfen, wird feststellen, daß der Sozialstaat bei dieser Regierung in erster Linie die Funktion eines Störenfriedes oder Belastungsfaktors hat. Für CDU/CSU und F.D.P. besteht die Welt nur aus Kosten und Preisen, und das war es dann auch schon.
    Wer fast ausschließlich in ökonomischen Kategorien denkt, wie CDU/CSU und F.D.P. dies tun, dem ist letztlich gleichgültig, wenn sich unsere gesellschaftliche Wertordnung ins ausschließlich Ökonomische verschiebt; denn er mißt den gesellschaftlichen Erfolg oder Mißerfolg von Menschen vorrangig an ihrem wirtschaftlichen Ergebnis. Das ist es, was nach zwölf Jahren geistig-moralischer Erneuerung übriggeblieben ist. Der Beitrag von Menschen zu unserer Gesellschaft wird in cash gemessen, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Unter dieser Regierung sind Dynamik, Flexibilität oder Deregulierung zu fast uneingeschränkt positiv besetzten Begriffen geworden. Da wird nicht einmal die Frage gestellt, zu wessen Nutzen dynamisiert, flexibilisiert oder dereguliert werden soll.
    Diese Bundesregierung beklagt vordergründig, daß in weiten Kreisen unserer Gesellschaft Gemeinsinn, Solidarität und Mitmenschlichkeit verkümmert seien. Das ist wohl wahr. Aber daß die Ellenbogen zum entscheidenden Körperteil geworden sind, der das gesellschaftspolitische Fortkommen und die gesellschaftspolitische Teilhabe sichert, ist zu allererst



    Rudolf Dreßler
    Ergebnis zwölfjähriger Politik von Konservativen und sogenannten Liberalen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDISSES 90/DIE GRÜNEN — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Wenn man Sie als sogenannten Sozialdemokraten bezeichnen würde, wären Sie beleidigt! Unverschämtheit!)

    — Herr Weng, wenn ich Ihre Zwischenrufe höre, dann erinnere ich mich immer an den französischen Dichter Molière.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

    Dem wird der Satz zugeschrieben: Dem Mensch ist die Sprache gegeben, um seine Gedanken auszudrücken. Wenn er Herrn Weng gekannt hätte, hätte er sich nie zu dieser gewagten Formulierung hinreißen lassen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Da wird von Vertretern der Koalition im Gleichklang mit Unternehmern ständig über die Grenze der Belastbarkeit im Hinblick auf Steuern und Beiträge fabuliert, die von den aktiv Erwerbstätigen aufgebracht werden müssen. Da ist ja etwas dran. Das kann ja keiner wegleugnen. Aber ich frage: Was ist von einer Regierung zu halten, die die Grenze der Belastbarkeit noch nicht einmal andeutungsweise auch im Hinblick auf jene diskutiert, die auf Grund ihres Lebensschicksals auf Leistungen des Sozialstaates angewiesen sind? Gibt es denn dort keine solche Grenze?
    Wo sind Absichten dieser Regierung, die endlich den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs in Gang setzen, wieviel Geld wir für unseren Sozialstaat zukünftig ausgeben wollen? Diese Diskussion wird doch gar nicht geführt. Statt dessen wird von CDU/ CSU und F.D.P. von vornherein festgestellt, der Sozialstaat sei zu üppig, es werde zuviel für soziale Zwecke ausgegeben.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wollen ihn also ausbauen?)

    Der Sozialstaat ist in unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht die Abteilung für Bedürftige und Zukurzgekommene, in der es Almosen oder Gratifikationen zu verteilen gilt.

    (Zuruf von der SPD: Richtig! — Hans-Ulrich Köhler [Hainspitz] [CDU/CSU]: Aber Mißbrauch!)

    Er mißt den Menschen vielmehr Rechtsansprüche zu, die zu voller und aktiver gesellschaftspolitischer Teilhabe ertüchtigen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Die in der Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. gängige Forderung — sie findet sich auch in der Koalitionsvereinbarung wieder —, der Sozialstaat müsse auf die eigentlich Bedürftigen beschränkt werden, ist kein Schritt in die Zukunft, meine Damen und Herren, er ist ein Schritt in die Vergangenheit.

    (Beifall bei der SPD)

    Er ist deshalb ein Schritt in die Vergangenheit, weil es keine Sozialversicherung gibt, in der nur Arme, Alte und Kranke Mitglied sind. Es gibt sie nicht, weil eine Sozialversicherung nicht Leistungen auszahlen kann, ohne daß sie von anderen finanziert werden. Wer dennoch einer Beschränkung auf die eigentlich Bedürftigen das Wort redet, der soll aufhören, über Sozialversicherung zu sprechen. Denn er will in Wahrheit eine Bedürftigenfürsorge. Das wollen Sozialdemokraten nicht.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Der Sozialstaat bedrohe den Standort Deutschland. Auch das ist eine These dieser Regierung. Sie tut so, als ob wir einen Lohn- oder Lohnnebenkostenwettbewerb mit Billiglohnländern je gewinnen könnten. Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit müssen wir vielmehr durch andere Bedingungen sicherstellen: Verläßlichkeit der Rahmenbedingungen für die Produktion, stabile Sozialbeziehungen, Tarifautonomie, innovative Produkte und Produktionsverfahren und günstige Kapitalkosten. Ich möchte wissen, wie wir diese Bedingungen ohne einen funktionierenden Sozialstaat je gewährleisten wollen. Die Wahrheit ist doch eine andere: Ohne einen funktionierenden Sozialstaat ist der Standort Deutschland nicht mehr viel wert.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Im übrigen: Wer die gesicherte Wettbewerbsfähigkeit für die deutsche Volkswirtschaft in dieser Weise von der Höhe der Lohnnebenkosten abhängig macht und damit indirekt eine Vergleichbarkeit der sozialen Standards zwischen Deutschland und seinen Konkurrenten einfordert, der billigt unseren Konkurrenten einen maßgeblichen Einfluß auf Ausmaß und Umfang unserer sozialstaatlichen Sicherung zu. Das heißt dann in letzter Konsequenz: Sozialdumping in Malaysia oder Taiwan führt zu Sozialdumping in Deutschland.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Herr Dreßler!)

    — Herr Louven, ich sage nicht, daß diese Regierung das will, jedenfalls nicht in ihrer erkennbaren Mehrheit.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Dann lassen Sie es doch sein!)

    Aber ich benutze dieses Beispiel zum nachdrücklichen Appell gerade an Sie — Herr Louven, Sie sind nämlich einer der federführenden Verbalakrobaten —,

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Was?)

    aufzuhören mit derart einschlägigen Redereien, die andere in ihrer Koalition dann plötzlich mehrheitsfähig machen, wenn es wieder ans Rasieren geht. Das ist der eigentliche Punkt.

    (Beifall bei der SPD)

    Die sozial- und gesellschaftspolitische Orientierungslosigkeit der Koalition ist mit den Händen zu greifen — in der Arbeitsmarktpolitik wie bei der Fortentwicklung unserer Systeme der Sicherheit. Sie



    Rudolf Dreßler
    ersetzt gesellschaftspolitische Gestaltung weitgehend durch eine Politik platter Kostenminimierung.
    Das Urteil nach dieser Regierungserklärung von Herrn Kohl mag hart klingen, aber ich finde, es ist nicht ungerecht: Der Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland ist bei dieser Koalition in schlechten Händen.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)



Rede von Dr. Antje Vollmer
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Wort hat nun der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Norbert Blüm.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Norbert Blüm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich bin nicht so gebildet wie mein Vorredner.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Molière!)

    — Molière. Was aber wollte uns der Dichter mit der Rede, die wir gerade gehört haben, sagen?

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Was sollen wir jetzt tun? Ich habe immer den Bleistift gespitzt und auf Vorschläge gewartet. —Ich habe den Bleistift wieder weggelegt. Meine Damen und Herren, Besprecher haben wir genug, Bearbeiter braucht dieser Staat!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Konrad Gilges [SPD]: Sie regieren doch!)

    Kommt von den Marktplätzen des Wahlkampfes zurück in die Werkstatt der Problemlösung! Das ist meine Einladung.
    In der Tat, in der großen Herausforderung stimmen wir überein: Arbeit für alle schaffen. Das ist die große Herausforderung. Nur, Frau Luft, wenn ich das nebenbei noch sagen darf: Auf die Idee, daß die Massenarbeitslosigkeit der deutschen Einheit anzulasten sei, ist noch niemand gekommen. Wenn sie jemandem anzulasten ist, dann der SED. Deshalb hört sich das, was Sie sagen, merkwürdig an.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Sie haben das Land austrocknen lassen und reden hier wie ein Spezialist für Bewässerung. Sie sind doch diejenigen, die das Land im ruinierten Zustand hinterlassen haben.

    (Michael Glos [CDU/CSU]: Da bleibt einem ja die Luft weg!)

    Es gibt keine Patentrezepte, sondern nur die Anstrengung aller. Wer immer nur nach dem Staat ruft, der versucht eine Lösung, die sich gerade in der DDR als falsch erwiesen hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Ihre Vorschläge beinhalten an Stelle der Planwirtschaft eine ABM-Wirtschaft.
    Wir brauchen die Anstrengung aller, die der Unternehmer, der Tarifpartner, des Bundes, der Länder, der
    Finanz- und der Wirtschaftspolitik. Herr Schröder ist gerade weg.

    (Rudolf Dreßler [SPD]: Herr Kohl ist auch gerade weg!)

    — Ja, ich kritisiere das auch gar nicht.

    (Rudolf Dreßler [SPD]: Herr Kanther ist auch gerade weg! Wenn ich alle aufzähle, die gerade weg sind: Herr Kinkel ist auch gerade weg!)

    Ich frage nur, wie dieser Vorschlag zu verstehen ist: Die Sicherheit von Tschernobyl soll erhöht werden, indem wir in Deutschland aus der Kernenergie aussteigen. Kann mir das mal jemand erklären?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der SPD: Unsinn!)

    Den Verkehr in Hamburg sperren, damit die in München besser fahren können — das ist ungefähr das gleiche Niveau. Wieso steigt die Sicherheit der Kernenergie in Tschernobyl, wenn wir in Deutschland aussteigen?

    (Ingrid Matthäus-Maier [SPD]: Das hat er doch gar nicht gesagt!)

    — Doch, das hat er gesagt. — Teilnahme an der Weiterentwicklung auch der Kerntechnologie zu einem weltweit höheren Sicherheitsstandard, nicht die Augen verschließen, das ist unsere Antwort.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Zuruf von der SPD: Zuhören!)

    Aber, meine Damen und Herren, was kann denn die Sozialpolitik beitragen? Sie schultert das allein auch nicht. Auch die Arbeitsmarktpolitik schultert nicht die Arbeitslosigkeit, aber sie muß einen Beitrag leisten. Ich finde, die Sozialpolitik muß sich darauf konzentrieren, Hilfen und Brücken für die Langzeitarbeitslosen zu bauen. Diese haben es am schwersten, wieder in den Arbeitsmarkt zurückzukehren. Sie kommen nicht allein und ohne Hilfe in den Arbeitsmarkt zurück. Unser Ziel muß es sein, sie in den ersten Arbeitsmarkt, nicht in einen zweiten Arbeitsmarkt als Ghetto einer therapeutischen Selbstbeschäftigung zu führen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Auch der Behinderte, auch der Kranke, auch der Ältere hat einen Anspruch auf einen normalen Dauerarbeitsplatz im ersten Arbeitsmarkt.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Der zweite Arbeitsmarkt kann nur eine Brücke sein.
    Meine Damen und Herren, Sie dürfen es nicht so machen, daß die Festungsmauern des ersten Arbeitsmarktes immer höher gezogen werden; denn dann bleibt derjenige, der draußen ist, dort. Unsere Sorge muß das Herunterlassen der Zugbrücken sein. Wie schaffen wir das praktisch? Nicht mit den großen philosophischen Theorien, die ich gerade gehört habe. Sagen Sie das einmal ganz konkret.
    Ein Vorschlag war beispielsweise — das haben wir in der letzten AFG-Novelle durchgeführt —, daß ein Langzeitarbeitsloser während der Zeit, in der er sich



    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    noch qualifizieren, sich noch einarbeiten muß, sein Arbeitslosengeld bis zu zwölf Wochen behalten kann. Das ist eine Brücke.
    Oder ein anderes Beispiel: Wir machen jetzt den Vorschlag, daß ein solcher Langzeitarbeitsloser von der Bundesanstalt für Arbeit in den Betrieb verliehen wird. Wenn er sich dort bewährt, kann er dort bleiben, wenn nicht, geht er wieder zurück. Dieser Vorschlag ist im übrigen, bevor Sie gleich wieder pfui schreien, sowohl von den Gewerkschaften wie auch von den Arbeitgebern begrüßt worden. Das sind keine alten Trampelpfade, diese Phraseologie, die ich gerade 20 Minuten lang gehört habe, sondern ganz konkrete Vorschläge.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Eben hat eine Kollegin von Opel erzählt und damit von meiner Heimatstadt. Als ich noch bei Opel gelernt habe, gab es neben dem Facharbeiterberuf den Anlernberuf für junge Menschen, die die Qualifikationsanforderungen eines Facharbeiterberufes nicht erfüllen. Dann kamen die Hochseilartisten der Bildungspolitiker und haben den Anlernberuf gestrichen. Die haben vergessen, daß auch am Boden noch ein paar Leute arbeiten. Was ist das Ergebnis? Die sind jetzt als Ungelernte arbeitslos.
    Deshalb brauchen wir auch Berufsbilder für diejenigen, die den Facharbeiterberuf nicht schaffen. Wir müssen heraus aus den alten, starren Berufsordnungen. Das alles ist ganz konkret.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Die Diskussion über die Begrenzung der Arbeitslosenhilfe auf zwei Jahre ist aus meiner Sicht nur eine Stellvertreterdiskussion. In Wirklichkeit geht es darum, daß zwei Kassen, die Arbeitslosenhilfekasse und die Sozialhilfekasse, unverbunden nebeneinander bestehen.

    (Zuruf von der SPD: Gott sei Dank!)

    — Nein, nicht Gott sei Dank; das will ich Ihnen gleich erklären. — Beide Leistungen sind keine Beitragsleistungen. Die einen werden von den Kommunen verwaltet, die anderen von der Arbeitslosenhilfe.
    Jeder verwaltet nur seine Kasse; niemand blickt über den Tellerrand der eigenen Zuständigkeit hinaus. So kommt es zu dem völlig unkoordinierten Verhältnis: Arbeitslosenhilfe bekommst du, wenn du einmal beschäftigt warst, wenn es sein muß, für den Rest des Lebens. Wer dieses Glück nicht hatte, bekommt Sozialhilfe. Dort erhält der Familienvater bzw. die Familienmutter viel höhere Leistungen als in der Arbeitslosenhilfe. Dafür ist allerdings die Anrechnung des eigenen Eigentums weitergehender als in der Arbeitslosenhilfe. Warum Sie das dauernd verteidigen, weiß ich nicht. Bist du einmal in der Arbeitslosenhilfe, bekommst du auch Arbeitsmarktmaßnahmen. Hast du das Pech gehabt, nie beschäftigt zu sein, bekommst du auch keine ABM und keine Qualifizierung.
    Kann mir einmal jemand die Ratio einer solchen Regelung erklären? Das ist ein Tohuwabohu. Weil es die Kassenwarte immer verhindert haben, haben wir
    keine Koordination für diejenigen erreicht, die der Hilfe am meisten bedürfen. Da gehen wir jetzt ran.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

    Jetzt komme ich zum Sozialsystem. Ich stimme dem Kollegen Dreßler zu — ich halte hier keine Rede schwarz, weiß —: Sozialversicherung hat nichts mit Fürsorge zu tun. --- Kollege Dreßler, hören Sie zu, wenn ich Ihnen einmal recht gebe. —

    (Rudolf Dreßler [SPD]: Nur Mut!)

    Sozialversicherung hat etwas mit Leistung zu tun, nicht mit Bedürfnis.

    (Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    — Wer gefährdet denn die Sozialversicherung pausenlos mit Vorschlägen, z. B. eine Grundsicherung einzuführen? Der gefährdet doch den Leistungsbezug unserer Rentenversicherung.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Mit Ihnen, Herr Dreßler, verteidige ich die Lohnbezogenheit der Rente. Ich finde es gut, daß gerade in dieser Woche durch ein Gutachten von Prognos die Äußerungen aller Katastrophenspezialisten, die den Zusammenbruch unserer Rentenversicherung angekündigt haben, widerlegt wurden.
    Unsere Rentenreform, gemeinsam geschafft, hat sich als richtig und notwendig erwiesen. Die Beitragssätze sind sogar niedriger, als wir damals geschätzt haben. Sie hat auch genügend Hebel, um auf Herausforderungen zu antworten.
    Aber ein paar Sachen muß ich nun doch erwähnen: Herr Schröder hat heute morgen die Frühverrentungen verteidigt. Meine Damen und Herren, ich habe beim Vorruhestand ja mitgemacht, mitgepusht, auch beim Altersübergangsgeld. Ich stelle mit Betroffenheit fest: Was einmal als Ausnahme gedacht war, schleicht sich jetzt als der normale Weg ein, um Personalprobleme von Großbetrieben zu lösen. Da mache ich nicht mit.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Erstens mache ich aus Gerechtigkeitsgründen nicht mit. Die Sozialpläne der Großbetriebe werden zu zwei Dritteln von den Sozialkassen bezahlt, also auch von den Arbeitnehmern aus den Kleinbetrieben und Handwerksmeistern, die selber nicht das Geld für die Sozialpläne haben. Das ist aus meiner Sicht eine Ungerechtigkeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Zweitens. Wie wollen Sie, wenn sich die Frühverrentung einschleicht, Rentensicherheit gewähren? Wir brauchen doch eher eine Anhebung als eine Absenkung der Altersgrenze.
    Drittens — das hat Herr Schröder heute morgen klassisch bewiesen —: Wir stabilisieren ein Vorurteil: Die Jungen sind die Beweglichen, und die Alten sind die Starren. Er selber hat heute morgen gesagt, die Jungen bräuchten Arbeit, sie seien die Beweglicheren. Die Schlußfolgerung, dann sind die Alten die Starren, stimmt doch mit der Lebenswirklichkeit nicht überein. Ich kenne Alte, die sehr starr sind, und Junge,



    Bundesminister Dr. Norbert Blüm
    die sehr beweglich sind, und ich kenne Alte, die sehr beweglich sind, und Junge, die sehr starr sind.

    (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Was sind Sie denn?)

    —Ja, Frau Fuchs, Sie können das Beispiel vom jungen Dreßler und vom alten Blüm nehmen. Ich frage: Wer von den beiden ist beweglicher?

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. — Heiterkeit bei der SPD)

    Meine Damen und Herren, sicherlich können wir die Hände nicht in den Schoß legen. Wir müssen darauf achten, daß die Solidarkassen nicht unter Erosion leiden, daß neue berufsständische Versorgungswerke nicht nach der Risikoselektionsmethode gebildet werden: Die Jungen hauen ab. Das ist nicht meine Vorstellung von Solidarität. Solidarität heißt nicht seitwärts ins Gebüsch abhauen; Solidarität funktioniert nicht nach der Aschenputtelmethode: die Guten ins Töpfchen, die Schlechten ins Kröpfchen. Solidarität funktioniert nur, wenn gute und schlechte Risiken, jung und alt eine Solidargemeinschaft bilden, die seit über 100 Jahren unsere soziale Sicherheit garantiert.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)