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ID1300602000

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    Plenarprotokoll 13/6 Deutscher Stenographischer Bericht 6. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 157 A Zusatztagesordnungspunkt 1: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Bestimmung des Verfahrens für die Berechnung der Stellenanteile der Fraktionen (Drucksache 13/ 34) 157A Zusatztagesordnungspunkt 2: Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU, SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und F.D.P.: Einsetzung von Ausschüssen (Drucksache 13/35) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 3: Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Gregor Gysi, Petra Bläss, Manfred Müller, weiterer Abgeordneter und der PDS: Einsetzung von Ausschüssen (Drucksache 13/33) in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 4: Beratung des Antrags der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Einrichtung eines Ausschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (Drucksache 13/ 36) 157B Tagesordnungspunkt: Regierungserklärung des Bundeskanzlers (Fortsetzung der Aussprache) Gerhard Schröder, Ministerpräsident (Niedersachsen) 157 D Michael Glos CDU/CSU 163B Margareta Wolf-Mayer BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 168C Dr. Günter Rexrodt, Bundesminister BMWi 170B Dr. Christa Luft PDS 176A Dr.-Ing. Paul Krüger CDU/CSU 177D Rudolf Dreßler SPD 180C Dr. Norbert Blüm, Bundesminister BMA 184A Marieluise Beck (Bremen) BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 186C Dr. Gisela Babel F D P. 188B Dr. Heidi Knake-Werner PDS 190 D Anke Fuchs (Köln) SPD 192B Dr. Norbert Blüm CDU/CSU 193A, 195A, 219C Hans-Eberhard Urbaniak SPD . . . 193B, 195B Ernst Hinsken CDU/CSU 194B Dr. Günter Rexrodt F.D.P 196B Otto Schily SPD 197A Dr. Heiner Geißler CDU/CSU 197D Rudolf Dreßler SPD . . . 198C, 199A, 256B Karl-Josef Laumann CDU/CSU . . . . 199C Jörg Tauss SPD 200D, 249B, 250A Dr. Uwe-Jens Rössel PDS 201 D Michael Müller (Düsseldorf) SPD . . . 203 A Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/ CSU 204 A Dr. Angela Merkel, Bundesministerin BMU 206A Michaele Hustedt BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 208D Birgit Homburger F D P 210C Dr. Klaus W. Lippold (Offenbach) CDU/ CSU 212A II Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 Jochen Borchert, Bundesminister BML . 213C Horst Sielaff SPD 215A Dr. Gerald Thalheim SPD 215D Egon Susset CDU/CSU 216C Dr. Christa Luft PDS 216D Namentliche Abstimmung 217 C Ergebnis 221 C Ulla Schmidt (Aachen) SPD 217D Waltraud Schoppe BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 218D Michael Glos CDU/CSU 221 A Claudia Nolte, Bundesministerin BMFSFJ 224 A Rita Grießhaber BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 226 C Cornelia Schmalz-Jacobsen F.D.P. . . . 228 D Christina Schenk PDS 231 C Maria Eichhorn CDU/CSU 233B Christel Hanewinckel SPD 234 D Walter Link (Diepholz) CDU/CSU . . 237 D Ortrun Schätzle CDU/CSU 238 D Ulla Schmidt (Aachen) SPD 240A Ilse Falk CDU/CSU . . . . . . . . . 241 A Klaus Kirschner SPD 243 A Horst Seehofer, Bundesminister BMG . 246C Peter Dreßen SPD 247D Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 251A Dr. Dieter Thomae F D P. 252 C Klaus Kirschner SPD 253 C Dr. Ruth Fuchs PDS 254 A Wolfgang Friedrich Lohmann (Lüdenscheid) CDU/CSU 255 A Dr. Ruth Fuchs PDS 255 B Monika Knoche BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 256 A Nächste Sitzung 257 C Berichtigung 257 Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 258* A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Christina Schenk (PDS) zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 13/35: Einsetzung von Ausschüssen (Zusatztagesordnungspunkt 2) 258* B Deutscher Bundestag — 13. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 157 6. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 24. November 1994 Beginn: 9.00 Uhr
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    Berichtigung Plenarprotokoll 13/5, Seite 149B, letzter Absatz: In der zweiten Zeile ist statt „ Verführer' " „Verschwörer" zu lesen. Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Beucher, Friedhelm SPD 24.11.94 Julius Büttner (Ingolstadt), Hans SPD 24.11.94 Dr. Eid-Simon, Ursula BÜNDNIS 24.11.94 90/DIE GRÜNEN Graf (Friesoythe), Günter SPD 24.11.94 Frhr. von Hammerstein, CDU/CSU 24.11.94 Carl-Detlev Hasenfratz, Klaus SPD 24.11.94 Dr. Höll, Barbara PDS 24.11.94 Hörsken, Heinz-Adolf CDU/CSU 24.11.94 Labsch, Werner SPD 24.11.94 Dr. Graf Lambsdorff, Otto F.D.P. 24.11.94 Maaß (Wilhelmshaven), CDU/CSU 24.11.94 Erich Meckel, Markus SPD 24.11.94 Neumann (Gotha), SPD 24.11.94 Gerhard Nickels, Christa BÜNDNIS 24.11.94 90/DIE GRÜNEN Saibold, Hannelore BÜNDNIS 24.11.94 90/DIE GRÜNEN Schumann, Ilse SPD 24.11.94 Vergin, Siegfried SPD 24.11.94 Volmer, Ludger BÜNDNIS 24.11.94 90/DIE GRÜNEN Vosen, Josef SPD 24.11.94 Wallow, Hans SPD 24.11.94 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 24.11.94 Wieczorek (Duisburg), SPD 24.11.94 Helmut Dr. Zöpel, Christoph SPD 24.11.94 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Christina Schenk (PDS) zur Abstimmung über den Antrag auf Drucksache 13/35: Einsetzung von Ausschüssen (Zusatztagesordnungspunkt 2) Abg. Christina Schenk (PDS): Ich werde gegen den genannten Antrag stimmen, insbesondere weil ich mich gegen die Zusammenlegung der Ausschüsse Frauen und Jugend einerseits und Familie und Senioren andererseits aussprechen möchte. In der Praxis der Bundesrepublik Deutschland ist die Gleichstellung von Frau und Mann trotz der Verankerung des Gleichberechtigungsgrundsatzes im Grundgesetz noch immer nicht verwirklicht. Nach wie vor bestehen hinsichtlich der sozialen Stellung, in bezug auf die soziale Sicherung und hinsichtlich der Chancen von Frauen und Männern im Beruf, im politischen Leben, in Bildung und Ausbildung und in der Familie sowie hinsichtlich der Möglichkeit, zu selbstbestimmten Lebensentwürfen zu kommen und diese auch umzusetzen, gravierende Ungleichheiten. Eine wachsende Frauenerwerbslosigkeit in Ost und West, die deutliche Zunahme von Gewalttaten gegen Frauen und nicht zuletzt die Negierung des Rechts auf selbstbestimmte Schwangerschaft durch das Bundesverfassungsgericht zeigen sogar einen deutlichen Trend zur Verschlechterung der Lage der Frauen. Um die Selbstbestimmung und Gleichstellung der Frauen gegenüber den gefestigten patriarchalen Strukturen unserer Gesellschaft besser durchzusetzen, ist auf Bundesebene eine Politik erforderlich, die die Frage der Gleichstellung oder besser: Chancengleichheit von Frau und Mann in all en Politikfeldern behandelt. Eine solche Politik ist jedoch nur umsetzbar, wenn es in der Regierung und natürlich auch im Parlament eine strukturelle Grundlage dafür gibt. Daher fordert die PDS hier an dieser Stelle die Einsetzung eines Ausschusses des Bundestages für die Gleichstellung der Geschlechter. Dieser Ausschuß sollte, wie bereits angedeutet, im Querschnitt zu allen anderen Ausschüssen des Bundestages tätig werden und deshalb auch in die Arbeit aller anderen Ausschüsse einbezogen werden und in diesen Mitspracherecht haben. Die Einordnung der Gleichstellungsproblematik in die Fragen, die die Situation von Kindern, Jugendlichen und Senioren betreffen, wird weder ihrer Komplexität noch ihrem Umfang gerecht. Ich werde daher die vorgeschlagene Zusammenlegung der Ausschüsse ablehnen, und ich verbinde das mit der Bitte um Zustimmung zu unserem Antrag auf Einrichtung eines Ausschusses für Gleichstellungsfragen auf Drucksache 13/33.
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    Rede von Dr. Paul Krüger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wer von uns hätte vor fünf Jahren gedacht, daß wir am Ende dieses Jahrhunderts die Chance haben werden, die Zukunft in Frieden, Freiheit und Freundschaft mit all unseren Nachbarn zu gestalten? Wer hätte noch vor einigen Jahren gedacht, daß wir den Kalten Krieg schnell und endgültig friedlich überwinden werden? Wer hätte es für möglich gehalten, daß im Deutschen Bundestag Debatten über die Entwicklung im wiedervereinigten Deutschland stattfinden, so, als ob die Teilung schon weit hinter uns läge?

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Dabei bleibt, meine Damen und Herren, bezüglich der Angleichung der Lebensverhältnisse zwischen West und Ost in der Tat noch viel zu tun. Es ist gut, sich in diesem Zusammenhang gelegentlich zu vergegenwärtigen, wie es vor fünf Jahren im Ostteil Deutschlands aussah und welche Zustände zum Zusammenbruch des alten Systems führten. Meine Vorrednerin erinnert mich an diese Zustände.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Denken Sie, meine Damen und Herren, an verfallene Häuser, an bröckelnde Häuserfassaden, an menschenunwürdige Wohnungen dahinter! Denken Sie an schlechte und löchrige Straßen! Denken Sie an



    Dr.-Ing. Paul Krüger
    völlig unzureichende Telefonnetze, wobei — das haben wir täglich gespürt — die Gespräche ohnehin mitgehört werden konnten!
    Denken Sie an die maroden und nicht wettbewerbsfähigen Industriestrukturen! Sozialismus, meine Damen und Herren, heißt Vernichtung von Wirtschaft und Wirtschaftskraft.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Denken Sie dabei ganz besonders an das praktisch vollständige Vernichten eines Mittelstandes, der, soweit noch vorhanden, mit einem Steuerhöchstsatz — das sage ich allen Kollegen dieses Hauses — von 97 % belastet wurde!
    Denken Sie an eine an vielen Stellen zerstörte oder verseuchte oder vergiftete Umwelt!
    Denken Sie an die fehlende Freizügigkeit der Menschen, und denken Sie an die permanente staatliche Gängelung allenthalben! Denn wir wurden nicht in Ruhe gelassen.
    Denken Sie an die Präsenz des Staates durch die Stasi bis hinein in die intimsten Bereiche!
    Denken Sie an die willkürliche Beugung des Rechts durch die Schergen des Staates!
    Denken Sie nicht zuletzt an Menschen mit irreparablen Lebensperspektiven! Wir haben an diese Menschen zu denken.
    Es war und bleibt eine Aufgabe für Ost- und Westdeutsche, gemeinsam die Folgen der 40jährigen SED-Diktatur zu überwinden. Wir sollten dabei allerdings nicht zu schnell vergessen, wer für diesen Unrechtsstaat verantwortlich war und welche Errungenschaft Demokratie und Freiheit für die Menschen im Osten tatsächlich bedeuten.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, denken Sie auch daran, wohin real existierender Sozialismus führt!
    Vieles ist in den letzten fünf Jahren seit dem Mauerfall erreicht worden. Es ist mir wichtig, an dieser Stelle all diejenigen hervorzuheben, die mit ihrem Engagement und ihrer Tatkraft dazu beigetragen haben, daß sich die Lebensverhältnisse in den neuen Bundesländern entscheidend verbessern konnten.
    Die Veränderung beginnt immer und begann auch vor fünf Jahren nicht mit Opposition. Sie begann bereits damals mit dem Anpacken der Probleme. Die Veränderung begann damit, daß viele, die vor der Wende der Politik aus guten Gründen fernstanden, bereit waren, auf Bundes-, Landes- oder Kommunalebene Verantwortung zu übernehmen und am Aufbau mitzuwirken. Dafür möchte ich allen Beteiligten auch von dieser Stelle ganz herzlich danken:

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der F.D.P.)

    all denen, die damals die Ärmel hochgekrempelt haben, um den Wiederaufbau zu beginnen; all denen, die unternehmerische Initiative und Risikobereitschaft gezeigt und Arbeitsplätze im Osten geschaffen haben; all denen, die bereit waren, uneigennützige Hilfe zu leisten; und nicht zuletzt all denen, die durch Solidarbeiträge, auch durch Sozialversicherungsbeiträge, einen Finanztransfer von West nach Ost geleistet haben, der in der Geschichte — zumindest Deutschlands — einmalig ist.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Die Vollendung der Einheit ist eine Aufgabe, die die CDU/CSU, die Koalition und die von ihr getragene Regierung voll annehmen. „Aufbau Ost vor Ausbau West" — hinter diesem Schlagwort verbirgt sich doch die Erkenntnis, daß wir in den alten und den neuen Bundesländern fundamental unterschiedliche Lebensbedingungen hatten und trotz der bisherigen Aufbauleistung zum Teil noch haben.
    Die neuen Länder sind heute — auch dank der Anstrengung der Bundesregierung — die wirtschaftlich dynamischste Region Europas, die Wachstumsregion Europas. Die Einkommen der Beschäftigten und insbesondere der Rentner sind beträchtlich gestiegen. Der Arbeitsplatzabbau ist gestoppt, und die Beschäftigung beginnt wieder zuzunehmen. Doch von einer Angleichung der Lebensverhältnisse kann noch lange nicht die Rede sein. Dies müssen wir bei allem, was wir tun, klarmachen.
    Viele schwierige Aufgaben liegen vor uns. Hierbei ist es gut, die Sensibilität und die spezifischen Erfahrungen der Ostdeutschen zu nutzen, um die Lage in den neuen Bundesländern bei allen politischen Entscheidungen angemessen berücksichtigen zu können.
    Gleichzeitig geht es darum, den notwendigen Prozeß der schrittweisen Anpassung der Lebensbedingungen nicht einseitig zu vollziehen. Vielmehr sind Erkenntnisse und Erfahrungen der Menschen und des Aufbauprozesses im Osten in die Gestaltung unseres gemeinsamen Vaterlandes einzubeziehen.
    Dies haben wir in der vergangenen Legislaturperiode bereits mit Entscheidungen dieses Hauses wie dem Verkehrswegeplanungsbeschleunigungsgesetz oder dem Investitionserleichterungs- und Wohnbaulandgesetz erfolgreich praktiziert.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Bei der Privatisierung öffentlicher Aufgaben z. B. im Abwasserbereich sind die neuen Bundesländer mittlerweile Spitzenreiter.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    Im Vergleich zu westlichen Bundesländern vorbildlich sind auch die Bildungssysteme, die von den CDU-geführten Landesregierungen in Mecklenburg-Vorpommern, in Thüringen, in Sachsen-Anhalt und auch in Sachsen eingebracht wurden, etwa hinsichtlich der Schuldauer, der Begabtenförderung und auch der Rechtsstellung von Schulen in freier Trägerschaft.

    (Eduard Oswald [CDU/CSU]: Können Sie jetzt einmal klatschen, Herr Thierse? — Wolfgang Thierse [SPD]: Nein!)

    Meine Damen und Herren, es gibt — ich sprach gerade mit einem Kollegen darüber — hervorragende Erfahrungen bei der Beschleunigung von Genehmigungsverfahren. Investitionsprojekte werden in den neuen Bundesländern fast täglich mit einer Genehmi-



    Dr.-Ing. Paul Krüger
    gungspraxis beschleunigt realisiert, von der sich, mit Verlaub gesagt, die alten Bundesländer — das sage ich besonders in Richtung der Länderbank — eine große Scheibe abschneiden können.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Bundesregierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen haben in der Koalitionsvereinbarung der Entwicklung in den neuen Ländern einen großen Raum gewidmet. Viele der dort genannten Schwerpunkte beziehen sich darauf, die Lebensverhältnisse der Menschen in den neuen Bundesländern nachhaltig zu verbessern und die deutsche Einheit zu vollenden. Dabei gehen wir von dem Grundsatz aus, daß eine gute und umweltverträgliche Wirtschaftspolitik die beste Voraussetzung für eine gute Sozialpolitik ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Notwendige Bedingung dafür ist der weitere Ausbau einer wirtschaftsfreundlichen Infrastruktur. Wir benötigen darüber hinaus die Entwicklung und Markteinführung innovativer Produkte und Dienstleistungen — von Innovationen, wie wir sie heute nennen. Wir brauchen noch mehr unternehmerische Initiativen, und wir brauchen mehr staatliche und vor allem privatwirtschaftliche Investitionen in den neuen Bundesländern.
    Ich darf an dieser Stelle daran erinnern, daß die Investitionen in den letzten Jahren eine Erfolgsstory waren. Ich darf auch daran erinnern, daß wir allein im staatlichen Bereich 350 Milliarden DM für Infrastrukturmaßnahmen eingesetzt haben und daß wir im privaten Sektor 500 Milliarden DM für Investitionen in den neuen Bundesländern mobilisieren konnten. Ich meine, das ist eine beispiellose Bilanz. Schlagworte hierbei sind: Infrastruktur, Innovation, Initiative und Investition — wir nennen das manchmal spaßeshalber die vier I —, die ganz wichtig für die Entwicklung im wirtschaftlichen Sektor sind.
    Hier ist wirklich viel erreicht worden. Ich spreche auch von dem Neu- und Ausbau von 7 000 km Straßen und 3 000 km Schienen, umfangreichen Ausbaumaßnahmen im Bereich der Häfen und der Flugplätze. Man könnte diese Erfolgsstory beliebig fortsetzen.
    Ich sage mit allem Nachdruck: Diese Entwicklung in den neuen Bundesländern gilt es weiterhin erfolgreich fortzusetzen. Deshalb begrüße ich es, daß die Koalitionsvereinbarung auf breitem Raum festhält, was wir in den nächsten vier Jahren fortführen und weiter verstärken wollen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Vollendung der Verkehrsprojekte deutsche Einheit bleibt eine erstrangige Aufgabe. Ich nenne hier beispielhaft die für die Erschließung des Nordens ganz entscheidende Küstenautobahn A 20. Ich nenne außerdem die von der Basis gegen die Pläne einer rot-grünen Landesregierung durchgesetzte SüdharzAutobahn.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich nenne natürlich auch den Transrapid, dessen Bau
    nicht nur modernste umweltfreundliche Technik in
    die neuen Bundesländer bringt, sondern auch Tausende von Arbeitsplätzen im produzierenden Bereich entstehen lassen wird.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Die Mittelstandsförderung als wichtigste Komponente des Wirtschaftsaufbaus in den neuen Bundesländern wird fortgesetzt. Wichtigster Schwerpunkt dabei bleibt die Verbesserung der Eigenkapitalsituation der Unternehmen in den neuen Ländern, z. B. als notwendige Voraussetzung für Innovationen.
    Ich darf Sie daran erinnern, daß wir dieses Problem wirklich ganz ernst nehmen müssen. Wir hatten in den neuen Bundesländern nicht die Voraussetzung der Vermögensbildung, und wir haben immer noch nicht die Einkommensbasen, wie sie in den alten Ländern vorhanden sind. Das Eigenkapitalhilfeprogramm in den neuen Bundesländern wird deshalb zunächst bis 1998 fortgeführt. Ich halte die Verbesserung des Risikokapitalmarktes auch durch Schaffung staatlicher Ausfallbürgschaften in den neuen Bundesländern für besonders wichtig.
    Im Zuge der Deregulierungsoffensive sollen Planungs- und Genehmigungsverfahren weiterhin vereinfacht und beschleunigt werden. Zudem sollen Initiativen für mehr Existenzgründungen forciert werden. Auch hier haben wir noch Defizite.
    Gerade im Osten kommen wir nicht umhin, auf neue Produkte und Technologien zu setzen. Deshalb werden wir die kontinuierliche Förderung der Industrieforschung in den neuen Bundesländern verstärkt fortsetzen.
    Ich möchte die Gelegenheit nutzen, von dieser Stelle aus den Appell an die Industrie der alten Bundesländer zu richten wie ich es schon häufig getan habe —, die Möglichkeiten, die Potenzen, die bei den Forschern in den neuen Bundesländern, in den Entwicklungsabteilungen von ForschungsGmbHs und vielen anderen Forschungsinstituten liegen, stärker in Kooperation zu nutzen, d. h. auch zu ihrem eigenen Vorteil.
    All diese Maßnahmen, die ich hier nannte, zur Förderung der Infrastruktur, zur Förderung der Innovation, zur Ankurbelung privater Initiativen und zur Verstärkung privater Investitionen haben letztlich mehr Arbeitsplätze zur Folge. Dies gilt insbesondere für das produzierende Gewerbe und in immer stärkerem Maße auch für den Bereich der Dienstleistungen und des Umweltschutzes.
    Meine sehr verehrten Damen und Herren, gelegentlich wird, auch von Kollegen aus dem Westteil Deutschlands, die Behauptung geäußert, die Menschen in den neuen Bundesländern seien unzufrieden. Ich glaube, daß die Menschen in den neuen Ländern nicht unzufrieden sind. Ich glaube, sie sind eher gelegentlich verunsichert. Wir müssen dafür Verständnis aufbringen.
    Sie sind verunsichert bezüglich des möglichen Verlustes ihrer Arbeitsplätze. Sie sind verunsichert bezüglich einer für sie ungewohnten Kriminalität — die es sicher auch früher gab, aber die heute offener berichtet wird. Sie sind auch bezüglich steigender Mieten verunsichert. Die Mieten müssen aber einfach notwendigerweise steigen, will man im Wohnbereich



    Dr.-Ing. Paul Krüger
    etwas verändern. Letztlich sind sie bezüglich vieler ungewohnter, sich ständig verändernder Bedingungen verunsichert, mit denen sie fertigwerden müssen.
    Ich finde es unerträglich, wenn Politiker bestimmter Parteien diese Menschen weiter verunsichern und ihnen Angst einjagen. Ich halte das für eine schlimme Sache.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Wenngleich es in einer freiheitlichen Demokratie keine absolute Sicherheit geben kann, ist es doch besonders wichtig, die Unsicherheitspotentiale unter den noch instabilen Bedingungen der neuen Bundesländer weiter abzubauen.
    Neben der Stärkung der Wirtschaftskraft, über die ich soeben sprach, gilt es, die bereits laufenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen im notwendigen Umfang fortzuführen. Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen sind hierbei besonders für ältere Arbeitnehmer anzuwenden. Die Gewährleistung der inneren Sicherheit, die Bekämpfung der Kriminalität und der Schutz der Bürger bei Achtung ihrer Grund- und Freiheitsrechte sind deshalb insbesondere in den neuen Bundesländern politische Schwerpunktaufgaben.
    Die notwendige schrittweise Anpassung der Mieten ist unter Berücksichtigung der Einkommensentwicklung sozialverträglich zu gestalten. Vor allem das Defizit an Wohneigentum ist durch eine Verbesserung der Förderung der Bildung von Wohneigentum, insbesondere durch eine verstärkte Förderung des Eigenheimbaus, abzubauen. Neben der steuerlichen Wohneigentumsförderung und einer verstärkten Bausparförderung soll vor allem mit der geplanten Kostensenkungs- und Wohnbaulandinitiative ein ganz wesentlicher Impuls gegeben werden. Dabei sollen insbesondere Familien mit Kindern begünstigt werden, was ich für völlig richtig halte. Ich weiß, daß das die Zustimmung dieses Hauses, insbesondere meiner Fraktion, findet.
    Meine Damen und Herren, das Spektrum der besonderen Bedingungen in den neuen Bundesländern und der sich daraus ableitenden Notwendigkeit spezieller Maßnahmen ist enorm umfangreich und reicht von der verstärkten Förderung von Großgeräten der Grundlagenforschung bis hin zur Bundesbeteiligung an Kultureinrichtungen der neuen Bundesländer, wie das in der Koalitionsvereinbarung festgeschrieben ist.
    Ich glaube deshalb, daß mit der vorliegenden Koalitionsvereinbarung ganz wesentliche Schwerpunkte für den Aufbau im Ostteil Deutschlands und für die Vollendung der deutschen Einheit gesetzt werden. Auf dieser Basis bleibt die Lösung der vorhandenen Probleme allerdings eine langfristige Aufgabe für uns und für alle Menschen in Deutschland.
    Dabei bedarf nicht nur die Annäherung der Menschen in Ost und West, sondern die menschliche Dimension dieser Aufgabe überhaupt unserer besonderen Aufmerksamkeit. Wir haben dabei besonders darauf zu achten, daß die Menschen in Ost und West trotz unterschiedlicher Entwicklungen, trotz unterschiedlicher Qualifikationen, trotz unterschiedlicher Vermögens- und Einkommensverhältnisse, trotz unterschiedlicher Erfahrungen, trotz unterschiedlicher Biographien — kurz gesagt: trotz einer unterschiedlichen Vergangenheit — gleiche Chancen für die Zukunft bekommen. Das, meine Damen und Herren, ist ein ganz dringlicher Appell, den ich an Sie richten möchte.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)

    Damit ist die Vollendung der inneren Einheit Deutschlands nicht nur eine historische Aufgabe, sondern sie ist auch eine historische Chance für uns Deutsche.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU) Lassen Sie uns diese Chance weiterhin nutzen! Vielen Dank.


    (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.)



Rede von Dr. Antje Vollmer
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das Wort hat jetzt der Kollege Rudolf Dreßler.

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    Rede von Rudolf Dreßler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Regierungserklärung soll die politischen Absichten der Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. für die nächsten vier Jahre deutlich machen. Die Regierungserklärung soll erläutern, mit welchen Maßnahmen und Initiativen die Bundesregierung unser Land nach der schwersten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit wieder vorwärts bringen will.
    Deutschland müsse für die Zukunft fit gemacht werden, heißt es dort. Richtig, das muß es wirklich. Wir brauchen einen Aufbruch in die Zukunft, heißt es weiter. Auch richtig. Wer die Regierungserklärung und die ihr zugrundeliegende Koalitionsvereinbarung auf diesen Anspruch hin überprüft, wird feststellen: Hier geht es nicht um Aufbruch, hier geht es um Abgesang.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Wenn Regierungserklärungen Orientierungen bieten sollen, so ist das, was der Bundeskanzler gestern vorgetragen hat, ein Dokument der Desorientierung, kraftlos, ohne Feuer und ohne Inspiration.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Wir haben eine inhaltlich ausgebrannte und personell ausgeblutete Regierung vor ihrem letzten Gefecht, geprägt von der Angst, die fast verlorene parlamentarische Mehrheit vollends zu verlieren, erlebt.

    (Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Sie träumen doch!)

    Diese Regierungserklärung, meine Damen und Herren, legt offen: Wir stehen vor einer Phase der politischen Lähmung. Keines der drängenden Probleme wird wirklich in Angriff genommen.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Sachsen-Anhalt!)




    Rudolf Dreßler
    Von der Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit, der Sicherung des Standorts Deutschland im internationalen Wettbewerb bis zu der Ausrichtung des Sozialstaats auf zukünftige Herausforderungen — nichts wird wirklich begonnen, alles wird hinter wohlfeilen, vagen Formeln versteckt.
    Robert Leicht hat recht, wenn er zu dieser Regierung und ihrer Politik jüngst in der „Zeit" feststellt:
    Die handelnden Personen verbergen ihre Unschlüssigkeit und Unsicherheit hinter Formelkompromissen, die vieles beschwören, ohne daß es wirklich zum Schwur kommt.

    (Beifall bei der SPD)

    Für die SPD-Fraktion steht fest: Würde diese Regierung der politischen Lähmung und der inneren Schwäche vier Jahre ihres Amtes walten,

    (Anke Fuchs [Köln] [SPD]: Tut sie nicht!)

    unserem Land bekäme das nicht gut. Diesem Land würden Belastungsproben abverlangt, die es in sich haben.
    Die sozialdemokratische Bundestagsfraktion sieht es daher als ihre Pflicht an, alles zu tun, um das unserem Land zu ersparen.

    (Beifall bei der SPD)

    Der wirtschaftliche Aufstieg unseres Landes und die Bewahrung des sozialen Friedens hängen in entscheidender Weise davon ab, wie und ob es gelingt, das Problem der Massenarbeitslosigkeit in den Griff zu bekommen und es schrittweise zu lösen.
    Die zentrale Frage lautet: Wie lange wollen und können wir uns die vorherrschende gesellschaftspolitische Praxis des Umgangs mit Massenarbeitslosigkeit eigentlich noch leisten?

    (Beifall bei der SPD)

    Es hängt von der Ernsthaftigkeit ab, mit der nach Antworten auf die Frage gesucht wird, ob sich ein drohender beschäftigungspolitischer und damit gesellschaftspolitischer GAU verhindern läßt. Die Regierungserklärung wie die Koalitionsvereinbarung stellen unter Beweis, daß die Koalition weder willens noch fähig ist, auf diese Frage ernsthafte Antworten zu finden.
    Beim Umgang mit dem Problem der Massenarbeitslosigkeit haben in dieser Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. offenkundig die Anhänger der reinen Lehre das Sagen. Die sagt: Der Preis für die Ware Arbeitskraft muß so weit sinken, daß sich dafür wieder Käufer finden.
    Die Kürzungskonzerte im Leistungskatalog des Arbeitsförderungsgesetzes, die diese Regierung seit ihrem Bestehen in jedem Haushaltsjahr veranstaltet, offenbaren die gesellschaftspolitische Haltung, die dahintersteht: Sozial Bedürftige und Arbeitslose sollen finanziell knapper gehalten werden, um dadurch vermeintliche Eigeninitiative und Arbeitsbereitschaft anzuregen.
    Daß diese „Brotkorb-höher-hängen-Philosophie" in die gesellschaftspolitische Rumpelkammer gehört, ist die eine Sache. Daß sie an den Beweggründen und Bewußtseinslagen der betroffenen Menschen völlig
    vorbeigeht, ist die andere und für die Folgen von Politik viel entscheidendere.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf des Abg. Wolfgang Friedrich Lohmann [Lüdenscheid] [CDU/CSU])

    — Wissen Sie, Herr Lohmann, Ihre Zwischenrufe waren schon einmal intelligenter.
    Die Erwartung, daß sich eine arbeitslose Textilfacharbeiterin aus Plauen im Vogtland oder Viersen am Niederrhein

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Wie kommen Sie auf Viersen?)

    unter Ihrer Androhung, Herr Louven, sozialer Verelendung motivieren ließe, bei einem Stuttgarter Zahnarzt oder Hamburger Studienrat als Dienstmädchen zu arbeiten, ist schlicht absurd.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Das Schlimme ist: Bei Ihnen von der CDU/CSU und von der F.D.P. beruht das auf einem Menschenbild, das mit der Freiheit des einzelnen sehr wenig, aber mit der beliebigen Verfügbarkeit seines Schicksals sehr viel zu tun hat.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Ich frage: Was soll eigentlich der Hinweis in der Koalitionsvereinbarung, man müsse den Bereich des privaten Haushaltes für den Arbeitsmarkt nutzbar machen und dort die Möglichkeit für neue Stellen schaffen? Soll das ein Beitrag zum Abbau der Massenarbeitslosigkeit sein, Herr Blüm? Entsteht etwa ein neuer Beschäftigungsboom, wenn Kinderfrauen, Hausmädchen und Gartenboys für den privaten Haushalt steuerabzugsfähig gemacht werden?

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Natürlich!)

    Das glaubt ja in dieser Regierung noch nicht einmal der Herr Rexrodt, und das will allerdings was heißen.

    (Beifall bei der SPD — Hans-Eberhard Urbaniak [SPD]: Der glaubt das! — Hartmut Schauerte [CDU/CSU]: Neidhammel!)

    Dahinter steht eine ganz bestimmte gesellschaftspolitische Philosophie: Je niedriger die soziale Mindestabsicherung, desto höher die Nachfrage selbst nach mies bezahlter Arbeit. Diese Regierung will Konjunktur für etwas schaffen, was man in der Fachsprache „bad jobs" nennt. Sie will ein Klima, in dem Arbeitnehmer aus Gründen ihrer Existenzsicherung bereit sind, wie es sprichwörtlich heißt, für einen Apfel und ein Ei zu arbeiten. Das geschieht in der nicht unberechtigten Erwartung, daß sich dann weitere finden, denen aus der Not heraus der Apfel reicht und die auf das Ei verzichten.
    Einer solchen Politik, meine Damen und Herren, geht es nicht mehr um Menschen, für die Arbeit zentrales Element einer sinnvollen Lebensführung darstellt, sondern ihr geht es um Menschen, die sich gefälligst produktionsgerecht verfügbar zu halten



    Rudolf Dreßler
    haben, wenn sie ihr Existenzminimum verdienen wollen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Die Frage, ob das nun der Aufbruch dieser Regierung in die Zukunft sein soll, ist ja wohl berechtigt. Es ist in Wahrheit eine Rückkehr in Produktions- und Arbeitsverhältnisse, die wir überwunden haben. Eine Fahrt in diese Vergangenheit macht die sozialdemokratische Bundestagsfraktion nicht mit.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Regierungserklärung belegt, daß die Koalition aus CDU/CSU und F.D.P. abermals auf eine aktive Arbeitsmarktpolitik verzichten und sich statt dessen auf das bloße Verwalten von Arbeitslosigkeit beschränken will. Tatsächlich ist sie drauf und dran, in der Wirklichkeit zu testen, welche Zukunft eine Gesellschaft hat, die immer mehr Menschen bestätigt, daß ihre Arbeitsleistung nicht mehr gefragt ist. Das wäre ein Test, der nur in einer sozialen Katastrophe enden kann.
    Ist Ihnen von der Regierung wirklich nicht klar, was Arbeit für den einzelnen, für seine Stellung im gesellschaftlichen Gefüge, bedeutet? Ich sage Ihnen: Wer Arbeit hat, gesichert und einträglich, der zeigt, daß er etwas „geworden ist". Er verdient sein Einkommen und kann sich Dinge leisten, die für sein Ansehen in der Familie, bei Nachbarn und Freunden wichtig sind. Einen Job zu haben sichert Kontakte und Gesprächsstoff, gibt Halt.
    Das mögen Banalitäten sein; aber es sind Banalitäten nur bis zu jenem Tag, an dem der Job wegbricht. Wer seine Arbeit verliert, der verliert nicht nur einen Teil seiner täglichen Bürde. Er verliert stets auch seine Würde. Ich empfinde es als unerträglich, daß diese Regierung in ihren Reden über Arbeitslosigkeit so tut, als sei das eine Art Zwangsurlaub, Familienpause oder Muße für Nachbarschaftserfahrungen oder andere angenehme Dinge.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich habe nicht den Eindruck, daß diese Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. auch nur näherungsweise die Probleme erfaßt hat, die am Arbeitsmarkt in Zukunft auf uns zukommen werden. Das PrognosInstitut faßt die zu erwartende Entwicklung in einem nüchternen Satz zusammen. Dort liest man:
    Der Produktivitätsfortschritt bis zum Jahre 2010 reicht aus, die Mehrproduktion ohne zusätzliche Arbeitskräfte zu erstellen.
    Wenn das stimmt — und ich zweifle daran nicht —, dann ist dies für jede verantwortungsbewußte Politik ein Alarmsignal; ein Alarmsignal, das zu höchster Aktivität am Arbeitsmarkt veranlassen sollte, aber nicht, wie bei dieser Regierung, zum arbeitsmarktpolitischen Nichtstun.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Im Problemdreieck von Rationalisierung, unterlassener Beschäftigungspolitik und Rezession verschwinden in Deutschland Tag für Tag bis zu 2 000 Arbeitsplätze, die nur zu einem immer kleineren Teil
    durch Expansion in den noch oder wieder wachsenden Wirtschaftssektoren neu entstehen. Wo wird in der praktischen Politik dieser Regierung oder ihrer Ankündigungen, wo wird in ihren Absichtserklärungen für die nächsten Jahre deutlich, daß sie aus dieser Entwicklung ihre Konsequenzen gezogen hat? Ich erkenne nichts. Ich lese nichts.
    In den alten Bundesländern liegen die Kosten pro Arbeitslosen bei knapp 40 000 DM. Rechnet man entgangene Steuereinnahmen hinzu, so liegen sie gar noch um einiges darüber. Es macht doch keinen Sinn, meine Damen und Herren, wenn Sie so weitermachen wie bisher. Aber es macht Sinn, wenn Sozialdemokraten fordern, diese 40 000 DM nicht für die Zahlung von Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe, also für Lohnersatzleistungen, auszugeben, sondern mit diesem Geld Arbeitsplätze zu finanzieren, aus Arbeitslosen wieder Beitragszahler zu machen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Wir werden dieser Koalition nicht ersparen, darauf eine Antwort zu geben. Wir werden im Bundestag ein Arbeits- und Strukturförderungsgesetz vorlegen, das mit unserer Forderung Ernst macht: Arbeit schaffen statt Arbeitslosigkeit finanzieren.
    Wer sich den Tort antut, die Regierungserklärung, die der Bundeskanzler gestern vorgetragen hat, und die Koalitionsvereinbarungen von CDU/CSU und F.D.P. im einzelnen nachzulesen und auf ihre Konsequenzen hin zu überprüfen, wird feststellen, daß der Sozialstaat bei dieser Regierung in erster Linie die Funktion eines Störenfriedes oder Belastungsfaktors hat. Für CDU/CSU und F.D.P. besteht die Welt nur aus Kosten und Preisen, und das war es dann auch schon.
    Wer fast ausschließlich in ökonomischen Kategorien denkt, wie CDU/CSU und F.D.P. dies tun, dem ist letztlich gleichgültig, wenn sich unsere gesellschaftliche Wertordnung ins ausschließlich Ökonomische verschiebt; denn er mißt den gesellschaftlichen Erfolg oder Mißerfolg von Menschen vorrangig an ihrem wirtschaftlichen Ergebnis. Das ist es, was nach zwölf Jahren geistig-moralischer Erneuerung übriggeblieben ist. Der Beitrag von Menschen zu unserer Gesellschaft wird in cash gemessen, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD, dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Unter dieser Regierung sind Dynamik, Flexibilität oder Deregulierung zu fast uneingeschränkt positiv besetzten Begriffen geworden. Da wird nicht einmal die Frage gestellt, zu wessen Nutzen dynamisiert, flexibilisiert oder dereguliert werden soll.
    Diese Bundesregierung beklagt vordergründig, daß in weiten Kreisen unserer Gesellschaft Gemeinsinn, Solidarität und Mitmenschlichkeit verkümmert seien. Das ist wohl wahr. Aber daß die Ellenbogen zum entscheidenden Körperteil geworden sind, der das gesellschaftspolitische Fortkommen und die gesellschaftspolitische Teilhabe sichert, ist zu allererst



    Rudolf Dreßler
    Ergebnis zwölfjähriger Politik von Konservativen und sogenannten Liberalen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDISSES 90/DIE GRÜNEN — Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Wenn man Sie als sogenannten Sozialdemokraten bezeichnen würde, wären Sie beleidigt! Unverschämtheit!)

    — Herr Weng, wenn ich Ihre Zwischenrufe höre, dann erinnere ich mich immer an den französischen Dichter Molière.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)

    Dem wird der Satz zugeschrieben: Dem Mensch ist die Sprache gegeben, um seine Gedanken auszudrücken. Wenn er Herrn Weng gekannt hätte, hätte er sich nie zu dieser gewagten Formulierung hinreißen lassen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Da wird von Vertretern der Koalition im Gleichklang mit Unternehmern ständig über die Grenze der Belastbarkeit im Hinblick auf Steuern und Beiträge fabuliert, die von den aktiv Erwerbstätigen aufgebracht werden müssen. Da ist ja etwas dran. Das kann ja keiner wegleugnen. Aber ich frage: Was ist von einer Regierung zu halten, die die Grenze der Belastbarkeit noch nicht einmal andeutungsweise auch im Hinblick auf jene diskutiert, die auf Grund ihres Lebensschicksals auf Leistungen des Sozialstaates angewiesen sind? Gibt es denn dort keine solche Grenze?
    Wo sind Absichten dieser Regierung, die endlich den notwendigen gesellschaftlichen Diskurs in Gang setzen, wieviel Geld wir für unseren Sozialstaat zukünftig ausgeben wollen? Diese Diskussion wird doch gar nicht geführt. Statt dessen wird von CDU/ CSU und F.D.P. von vornherein festgestellt, der Sozialstaat sei zu üppig, es werde zuviel für soziale Zwecke ausgegeben.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wollen ihn also ausbauen?)

    Der Sozialstaat ist in unserer Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung nicht die Abteilung für Bedürftige und Zukurzgekommene, in der es Almosen oder Gratifikationen zu verteilen gilt.

    (Zuruf von der SPD: Richtig! — Hans-Ulrich Köhler [Hainspitz] [CDU/CSU]: Aber Mißbrauch!)

    Er mißt den Menschen vielmehr Rechtsansprüche zu, die zu voller und aktiver gesellschaftspolitischer Teilhabe ertüchtigen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Die in der Regierung aus CDU/CSU und F.D.P. gängige Forderung — sie findet sich auch in der Koalitionsvereinbarung wieder —, der Sozialstaat müsse auf die eigentlich Bedürftigen beschränkt werden, ist kein Schritt in die Zukunft, meine Damen und Herren, er ist ein Schritt in die Vergangenheit.

    (Beifall bei der SPD)

    Er ist deshalb ein Schritt in die Vergangenheit, weil es keine Sozialversicherung gibt, in der nur Arme, Alte und Kranke Mitglied sind. Es gibt sie nicht, weil eine Sozialversicherung nicht Leistungen auszahlen kann, ohne daß sie von anderen finanziert werden. Wer dennoch einer Beschränkung auf die eigentlich Bedürftigen das Wort redet, der soll aufhören, über Sozialversicherung zu sprechen. Denn er will in Wahrheit eine Bedürftigenfürsorge. Das wollen Sozialdemokraten nicht.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)

    Der Sozialstaat bedrohe den Standort Deutschland. Auch das ist eine These dieser Regierung. Sie tut so, als ob wir einen Lohn- oder Lohnnebenkostenwettbewerb mit Billiglohnländern je gewinnen könnten. Unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit müssen wir vielmehr durch andere Bedingungen sicherstellen: Verläßlichkeit der Rahmenbedingungen für die Produktion, stabile Sozialbeziehungen, Tarifautonomie, innovative Produkte und Produktionsverfahren und günstige Kapitalkosten. Ich möchte wissen, wie wir diese Bedingungen ohne einen funktionierenden Sozialstaat je gewährleisten wollen. Die Wahrheit ist doch eine andere: Ohne einen funktionierenden Sozialstaat ist der Standort Deutschland nicht mehr viel wert.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS)

    Im übrigen: Wer die gesicherte Wettbewerbsfähigkeit für die deutsche Volkswirtschaft in dieser Weise von der Höhe der Lohnnebenkosten abhängig macht und damit indirekt eine Vergleichbarkeit der sozialen Standards zwischen Deutschland und seinen Konkurrenten einfordert, der billigt unseren Konkurrenten einen maßgeblichen Einfluß auf Ausmaß und Umfang unserer sozialstaatlichen Sicherung zu. Das heißt dann in letzter Konsequenz: Sozialdumping in Malaysia oder Taiwan führt zu Sozialdumping in Deutschland.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Herr Dreßler!)

    — Herr Louven, ich sage nicht, daß diese Regierung das will, jedenfalls nicht in ihrer erkennbaren Mehrheit.

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Dann lassen Sie es doch sein!)

    Aber ich benutze dieses Beispiel zum nachdrücklichen Appell gerade an Sie — Herr Louven, Sie sind nämlich einer der federführenden Verbalakrobaten —,

    (Julius Louven [CDU/CSU]: Was?)

    aufzuhören mit derart einschlägigen Redereien, die andere in ihrer Koalition dann plötzlich mehrheitsfähig machen, wenn es wieder ans Rasieren geht. Das ist der eigentliche Punkt.

    (Beifall bei der SPD)

    Die sozial- und gesellschaftspolitische Orientierungslosigkeit der Koalition ist mit den Händen zu greifen — in der Arbeitsmarktpolitik wie bei der Fortentwicklung unserer Systeme der Sicherheit. Sie



    Rudolf Dreßler
    ersetzt gesellschaftspolitische Gestaltung weitgehend durch eine Politik platter Kostenminimierung.
    Das Urteil nach dieser Regierungserklärung von Herrn Kohl mag hart klingen, aber ich finde, es ist nicht ungerecht: Der Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland ist bei dieser Koalition in schlechten Händen.

    (Anhaltender Beifall bei der SPD — Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der PDS)