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    Plenarprotokoll 12/239 Deutscher Stenographischer Bericht 239. Sitzung zugleich 671. Sitzung des Bundesrates Berlin, Freitag, den 1. Juli 1994 Inhalt: Eidesleistung des Bundespräsidenten gemäß Artikel 56 Grundgesetz Ansprache der Präsidentin des Deutschen Bundestages 21147 A Ansprache des scheidenden Bundespräsidenten Dr. Richard von Weizsäcker . . . 21149B Eidesleistung des Bundespräsidenten . . 21153C Ansprache des Bundespräsidenten Dr. Ro- man Herzog . . . . . . . . . . . . . . 21153D Ansprache des Präsidenten des Bundes- rates 21159B Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . 21163* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 239. Sitzung. Berlin, Freitag, den 1. Juli 1994 21147 239. Sitzung zugleich 671. Sitzung des Bundesrates Berlin, den 1. Juli 1994 Beginn: 9.33 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Antretter, Robert SPD 1. 7. 94* Dr. Blank, Joseph-Theodor CDU/CSU 1. 7. 94 Böhm (Melsungen), Wilfried CDU/CSU 1. 7. 94* Dr. Böhme (Unna), Ulrich SPD 1. 7. 94 Bühler (Bruchsal), Klaus CDU/CSU 1. 7. 94* Burchardt, Ulla SPD 1. 7. 94 Daubertshäuser, Klaus SPD 1. 7. 94 Dr. Enkelmann, Dagmar PDS/Linke Liste 1. 7. 94 Dr. Fischer, Ursula PDS/Linke Liste 1. 7. 94* Fischer (Unna), Leni CDU/CSU 1. 7. 94 Fuchs (Verl), Katrin SPD 1. 7. 94 Fuhrmann, Arne SPD 1. 7. 94 Dr. Geißler, Heiner CDU/CSU 1. 7. 94 Großmann, Achim SPD 1. 7. 94 Grünbeck, Josef F.D.P. 1. 7. 94 Dr. Haussmann, Helmut F.D.P. 1. 7. 94 I iller (Lübeck), Reinhold SPD 1. 7. 94 Hinsken, Ernst CDU/CSU 1. 7. 94 Horn, Erwin SPD 1. 7. 94 Dr. Hornhues, Karl-Heinz CDU/CSU 1. 7. 94 Dr. Hoth, Sigrid F.D.P. 1. 7. 94 Jaffke, Susanne CDU/CSU 1. 7. 94 Koschnick, Hans SPD 1. 7. 94 Dr. Krause (Bonese) Rudolf Karl fraktionslos 1. 7. 94 Dr. Lehr, Ursula CDU/CSU 1. 7. 94 Leidinger, Robert SPD 1. 7. 94 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Löwisch, Sigrun CDU/CSU 1. 7. 94 Louven, Julius CDU/CSU 1. 7. 94 Dr. Matterne, Dietmar SPD 1. 7. 94 Möllemann, Jürgen, W. F.D.P. 1. 7. 94 Dr. Müller, Günther CDU/CSU 1. 7. 94 Müller (Pleisweiler) Albrecht SPD 1. 7. 94 Niggemeier, Horst SPD 1. 7. 94 Ostertag, Adolf SPD 1. 7. 94 Otto (Frankfurt), Hans-Joachim F.D.P. 1. 7. 94 Paterna, Peter SPD 1. 7. 94 Dr. Pfaff, Martin SPD 1. 7. 94 Pfuhl, Albert SPD 1. 7. 94* Dr. Probst, Albert CDU/CSU 1. 7. 94* Purps, Rudolf SPD 1. 7. 94 Reuschenbach, Peter W. SPD 1. 7. 94 Dr. Scheer, Hermann SPD 1. 7. 94* Scheu, Gerhard CDU/CSU 1. 7. 94 Dr. Schulte (Schwäbisch Gmünd), Dieter CDU/CSU 1. 7. 94 Simm, Erika SPD 1. 7. 94 Stiegler, Ludwig SPD 1. 7. 94 Dr. von Teichman, Cornelia F.D.P. 1. 7. 94 Thiele, Carl-Ludwig F.D.P. 1. 7. 94 Thierse, Wolfgang SPD 1. 7. 94 Dr. Wieczorek, Norbert SPD 1. 7. 94 Wohlrabe, .Jürgen CDU/CSU 1. 7. 94 Wolfgramm (Göttingen), Torsten F.D.P. 1. 7. 94* Würfel, Uta F.D.P. 1. 7. 94 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Rita Süssmuth


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Meine Damen und Herren, ich eröffne die Sitzung nach Art. 56 des Grundgesetzes.
    Namens des Deutschen Bundestages und des Bundesrates begrüße ich alle Ehrengäste aus dem In- und Ausland. Ich heiße Sie alle sehr herzlich willkommen.
    Besonders begrüße ich den scheidenden Bundespräsidenten, Dr. Richard von Weizsäcker, und Frau von Weizsäcker

    (Anhaltender Beifall im ganzen Hause)

    sowie den künftig en Bundespräsidenten, Professor Dr. Roman Herzog, und Frau Herzog.

    (Anhaltender Beifall)

    Wir haben uns heute zur Vereidigung und Amtseinführung des neugewählten Präsidenten der Bundesrepublik Deutschland in Berlin versammelt. Es ist die erste gemeinsame Sitzung von Bundestag und Bundesrat hier im Reichstagsgebäude. Wir wollen heute auch Richard von Weizsäcker für seine Arbeit danken, der nach zehnjähriger Amtszeit aus dem Präsidentenamt scheidet. Welcher Ort wäre geeigneter als Berlin, wo er als Regierender Bürgermeister gearbeitet hat, für die alte und neue Hauptstadt eingetreten ist, die der neue Präsident als seinen ersten Amtssitz gewählt hat.
    Gestern haben wir die Vorschläge und Ergebnisse der von Bundestag und Bundesrat eingesetzten Verfassungskommission lebhaft debattiert und entschieden. Es fügt sich gut, wenn heute am selben Ort der Bundespräsident den Eid auf die Verfassung leistet. Gerade an diesem höchsten Staatsamt wird deutlich, welch hohe verfassungsrechtliche und politische Klugheit der Architektur unseres Staatsgefüges zugrunde liegt.
    Die Mütter und Väter unseres Grundgesetzes haben diesem hohen Amt ein unverwechselbares Profil gegeben. Unser Bundespräsident hat ein Amt ganz eigener Art inne. Er steht über Parlament, Regierenden und Parteien, nimmt nicht teil am politischen Richtungsstreit und ist doch in vielfältiger Weise mit uns verbunden.
    Obwohl er in diese Prozesse nicht eingebunden ist, ist seine Rolle höchst bedeutend für uns. Es kommt
    diesem Amt bewußt nicht die politische Macht der Regierenden, wohl aber hohe politische Autorität zu.
    Die Aufgabe des Bundespräsidenten ist es, Menschen zusammenzuführen, zu vermitteln und Brücken zu bauen. Seine Aufgabe ist es, stets das Ganze im Blick zu haben, nicht die Regierung, nicht die Mehrheit oder die Minderheit, nicht die Parteien, sondern das Miteinander aller. Es ist gerade seines Amtes, sich zu Wort zu melden, sich einzumischen und, falls notwendig, nachhaltig anzumahnen, worauf wir uns in unserer Verfassung verständigt haben. Das betrifft die Rechte, aber auch die Pflichten jedes Einzelnen, das Miteinander, unseren Umgang mit deutschen und ausländischen Bürgern und unseren Einsatz als Bürger für unser Gemeinwesen.
    Unser Bundespräsident ist nicht Hüter, wohl aber wachsamer Anwalt unserer Verfassung. Als erster Bürger führt er uns immer wieder unsere wichtigsten gemeinsamen Wertgrundlagen vor Augen: die Würde des Menschen — ob Deutscher oder Ausländer —, die Achtung voreinander, die Sorge füreinander, das hohe Gut der Freiheit und den verantwortlichen Umgang mit ihr, soziale Gerechtigkeit, das unbedingte Nein zu jeder Form von Radikalität und Gewalt.
    Wir brauchen von ihm immer wieder das eindringlich mahnende und fordernde, aber auch Orientierung gebende, uns ermutigende Wort, auch das unpopuläre, wenn es notwendig ist.
    Meine Damen und Herren, wir befinden uns in einer Umbruchsituation mit schwierigen Herausforderungen, unbequemen Lernprozessen, aber zugleich auch mit großen Chancen. Wir haben Grund zu großer Dankbarkeit, aber auch zur Sorge. Damit uns die innere Einheit und unsere eigene Zukunft gelingt, sind große Anstrengungen notwendig. Dabei möge uns unser neuer Bundespräsident helfen.
    In dieser Zeit muß jeder in Deutschland sein Verständnis dafür schärfen, daß unsere Gemeinschaft mehr ist als die Summe der Einzelinteressen. In dieser Gemeinschaft wollen wir zu Hause sein, uns wohl fühlen, füreinander einstehen. Es kann auf Dauer nur dann jedem einzelnen gutgehen, wenn es der Gemeinschaft als ganzer gutgeht. Dieses Zuhause



    Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
    muß Sicherheit und verläßlichen Schutz gewähren, nach innen wie nach außen.
    Aus diesem Grunde drängen wir nach Europa und weltweiter Verbundenheit mit allen. Aus diesem Grunde aber auch setzen wir uns auseinander mit den Bedrohungen der Umwelt. Und aus dem gleichen Grunde sind wir aufgebracht über zunehmende Kriminalität, über gedankenloses oder bedenkenloses Ausnutzen, über Radikalität und Gewalt, die immer Attentate sind auf die Gemeinschaft und das Mitgefühl, auf das Einfühlungsvermögen und das Interesse am Mitmenschen.
    Aber täuschen wir uns nicht: Der Widerwille gegen Unrecht und Gewalt wächst, weil die Bürger und Bürgerinnen unseres Landes überzeugt sind, daß Mitmenschlichkeit nichts von ihrer Bedeutung verloren hat und eine unverzichtbare Leistung ist. Das spüren die meisten Menschen. Zorn richtet sich gegen jene, die glauben, es handle sich bloß darum, so viel wie möglich aus der Gemeinschaft für sich herauszuholen.
    Besonders bedroht fühlen wir unser Zuhause durch Arbeitslosigkeit. Ohne Arbeit gerät das Selbstwertgefühl in Not, fühlt man sich bei sich selbst nicht mehr wohl, verliert das Zuhause an Stabilität, auch weil Geborgenheit fehlt.
    Sorgen wir dafür, daß alle Menschen, jung und alt, sich selbst vertrauen können! Selbstvertrauen kann nur der haben, der seinen Wert für die Gemeinschaft erfährt. Auch unsere innere Einheit wird nur wachsen und bestehen, wenn wir in dieser Erkenntnis einig sind, uns in diesem Ziel treffen.
    Wir befinden uns noch immer in einer Umbruchsituation, in der viele nach unserer inneren Verfassung fragen und auch danach, wie wir unser Zusammenleben, wie wir unser Zuhause gestalten. damit jeder in ihm seinen Platz finden, sich angenommen, respektiert und wohl fühlen kann.
    Ein zukunftsoffenes Zuhause ist nicht denkbar ohne das gestaltende Mitwirken unserer Jugend. Wir müssen Chancen für die Jugend und für künftige Generationen bieten. Das braucht Pflege, Geduld und Verständnis. Nur dann fühlt sich die Jugend in Deutschland zu Hause. Versäumen wir das, könnten Teile unserer Jugend in orientierungslose, auf gabenverweigernde Kraftausbrüche abstürzen, die tiefe Risse in unserer Gesellschaft verursachen.
    Wir Älteren sind verpflichtet, unsere Jugend wissen zu lassen, daß wir uns gegenseitig brauchen. Wir müssen zeigen, daß nur generationsübergreifende Einstellungen Grundstein für unsere gemeinsame Zukunft sind. Sie werden zuerst in dem kleinen Bereich des Zuhause, in der Familie, erfahren.
    Die Zeit des Umbruchs, die wir erleben, hat manchen aufgeschreckt, uns alle aufgeweckt. Viele von uns haben gemeint, es gehe ohne Veränderungen. Dankbar erinnern wir uns der mutigen Bürgerinnen und Bürger der früheren DDR, die 1989 die friedliche Revolution initiierten.

    (Beifall)

    Sie haben maßgebliche Veränderungen in Gang gesetzt, die uns alle betreffen.
    Inzwischen ist das Bewußtsein für notwendige Veränderungen in ganz Deutschland gewachsen. Wir müssen die Frage beantworten, wie unser künftiges Zuhause, wie unser Land aussehen soll. Das ist unsere gemeinsame und erste Sorge.
    Sich sorgen im guten Sinne des Wortes steht immer am Anfang großer, kreativer Veränderungen, lenkt unsere Aufmerksamkeit auf Schwachstellen. Wir brauchen Menschen, die uns Wege weisen. Wege aber beginnen nicht jetzt und hier. Sie kommen aus der Vergangenheit, auf die wir immer wieder blicken müssen, wenn wir frühere Fehl- und Irrgänge vermeiden möchten.
    Unsere Verfassung ist eine hohe Verpflichtung zu jener inneren Verfaßtheit, die wir brauchen, um an der Gestaltung für eine friedvolle Zukunft für uns und unsere Nachbarn mitzuarbeiten. Sie ist Voraussetzung und Zielsetzung zugleich. Herr Präsident, wir sind davon überzeugt, daß Sie uns dabei begleiten und unterstützen werden, unsere Verfassung zu leben.
    Sie, verehrter Herr Bundespräsident von Weizsäcker, scheiden nach zehn Jahren aus Ihrem Amt. Sie scheiden aus dem Amt voller Kraft, Lebendigkeit, intellektueller und politischer Wachheit. Sie haben Ihr Amt im Geist unserer Verfassung ausgeübt. Sie waren der erste Bürger unseres Staates im besten Sinne des Wortes: aufnahmebereit, einfühlsam anteilnehmend an Problemen und Schicksalen der Menschen, sich sorgend um Gegenwart und Zukunft der Deutschen, um ihr inneres Zusammenwachsen, um ihre europäische und globale Verantwortung.
    Sie waren ein Präsident, der stets fragte: Was ist weiterzudenken, weiterzuentwickeln, und was ist zu korrigieren? Ihnen war wichtig, stets ein Mehr zu erstreben an Erkenntnis und im Handeln, an nüchterner Einsicht in das Widerständige und Widersprüchliche und dennoch weiterzuarbeiten an der Kultur des Menschlichen. Sie wollten uns wissen lassen, daß ein Mensch nie fertig ist, sondern immerwährend weiterwachsen kann. Sie an der Spitze unseres Staates zu wissen hat uns allen gutgetan.

    (Beifall)

    Sie haben unseren Blick für Brennpunkte gesellschaftlicher Nöte und Herausforderungen geschärft. Sie wollten den aktiven Bürger und die aktive Bürgerin, die von Bürgern getragene Gesellschaft.
    Eines Ihrer großen Anliegen war, uns näherzubringen, daß unsere Verfassung nicht etwa nur ein schönes, aber alltagsfernes hehres Buch ist, sondern daß sie von uns täglich neu gelebt werden muß. In ihr ist die Richtschnur allen Handelns, daß es nicht genügt, Freiheit zu haben, sondern, daß der wichtigste und schwerste Teil der Freiheit darin besteht, verantwortungsvoll mit ihr umzugehen.
    Mit Leidenschaft haben Sie in der Öffentlichkeit darüber nachgedacht, wie der enge nationalstaatliche, die übrige Welt verkleinernde Gedanke überwunden werden kann zugunsten einer patriotischen Gesinnung und Heimatliebe, die in eine europa- und weltoffene Haltung eingebettet ist.



    Präsidentin Dr. Rita Süssmuth
    Seit 1989 hat Sie kein Thema stärker bewegt als das Zusammenfinden aller Deutschen in einem gemeinsamen Staat. Sie waren erfüllt von dem Bemühen, in uns die Überzeugung zu stärken, daß wir zur Verwirklichung auch der inneren Einheit fähig sind, wenn wir alle an Bereitschaft gewinnen, uns zu ändern und uns einander zuzuwenden.
    Sie haben in Ihrer Amtszeit das Gößte erlebt, was ein deutscher Präsident seit 1945 erleben konnte: den Zusammenbruch des Kommunismus, das Ende der Teilung Deutschlands, das Ende der Teilung Europas. Feste Verankerung im Westen, Entspannungspolitik nach Osten und vor allem Mut und Entschlossenheit der Bürgerrechtsbewegung und des Volkes der früheren DDR haben die deutsche Einigung ermöglicht.
    Höchstleistungen entstehen nicht in einsamen Höhen. Ohne nahe menschliche Begleitung sind sie unmöglich, wären sie auch für Richard von Weizsäcker nicht möglich gewesen ohne die Mithilfe und Mitarbeit von Frau von Weizsäcker.

    (Beifall)

    Liebe Frau von Weizsäcker, Sie haben viele ehrenamtliche Aufgaben übernommen, sich im Müttergenesungswerk und in der deutschen Sektion von UNICEF engagiert und sich darüber hinaus eines dringenden Problems unserer Zeit angenommen, indem Sie die Initiative der Eltern drogengefährdeter Kinder unterstützten. Sie haben großen Anteil am Wirken Ihres Mannes. Ich möchte in diesem Sinn von einem gemeinschaftlichen Wirken sprechen. Für Ihren Einsatz danken wir Ihnen sehr.

    (Beifall)

    Ihnen und Ihrem Mann wünschen wir für die Zukunft Gesundheit und weiterhin Tatkraft. Sie beide können sicher sein: Die Zuwendung der Menschen wird Ihnen erhalten bleiben.
    In Respekt vor Ihrer Leistung erheben sich die Mitglieder von Bundestag und Bundesrat, um im Namen des deutschen Volkes vor der Öffentlichkeit zu bekunden: Richard von Weizsäcker hat sich um das Vaterland verdient gemacht.

    (Beifall)

    Herr Präsident, Sie haben das Wort.
    Dr. Richard von Weizsäcker: Frau Präsidentin! Für Ihre guten Worte danke ich Ihnen von Herzen, und zwar im Namen meiner ganzen Familie.
    Herr Bundespräsident, mein erster Gedanke gilt heute Ihnen. Sie übernehmen eine Aufgabe, die schwer und erfüllend zugleich ist. Mit bewährter Erfahrung, mit nüchternem Sinn und Witz, mit Herz und Mut werden Sie ans Werk gehen. Das wird uns allen zugute kommen. Mögen Sie ihres Amtes mit Kraft und Weisheit walten, und mögen Glück und Segen Sie geleiten!

    (Beifall)

    Meine herzlichen Wünsche gelten nicht weniger Ihrer Frau. Ich habe ja miterlebt, was es bedeutet, daß die Frau des Präsidenten — später vielleicht auch einmal der Mann einer Bundespräsidentin —

    (Heiterkeit und Beifall)

    von der Verfassung sozusagen gar nicht vorgesehen ist, daß sie dennoch dieselbe innere Verpflichtung für das Amt empfindet und sie bereitwillig trägt — weniger spektakulär, dafür aber zuweilen entsagungsreicher und ganz gewiß genauso verantwortungsvoll, hilfsbereit gegenüber allen, die ihre Hoffnungen zuletzt auf sie setzen, weil ihnen sonst niemand im Lande zu helfen wußte. So wie ich meiner Frau dafür einen tiefen Dank schulde, den ich gar nicht genügend abtragen kann, möchte ich Sie, verehrte Frau Herzog, desselben Vertrauens versichern, das wir Ihrem Manne entgegenbringen.

    (Beifall)

    Beim Wechsel der Stafette schaut man nicht zurück, sondern voraus. Doch zuvor möchte ich meinen Dank für eine unvergeßbliche Fülle und Dichte menschlicher Zuwendung abstatten. „Gedenke der Quelle, wenn Du trinkst", so sagte man es im alten China. Die Quelle meines Amtes waren die Menschen, denen ich begegnet bin: Wähler und Politiker, Inländer und Ausländer, Experten und Laien, Arbeitslose und Beschäftigte, Obdachlose und Behauste, Männer, Frauen und auch Kinder aus nah und fern. Sie haben gemahnt und ermutigt, Vertrauen geschenkt, Kritik geübt, Sorge und Freude mit mir geteilt. Es geht ganz direkt bei uns zu. Da lernt man, worauf es wirklich ankommt. Amtliche Einsamkeit kann gar nicht aufkommen, und das ist ein großes Glück.

    (Beifall)

    Bald sind fünf Jahre vergangen, seit die Mauer fiel. Es war ein epochales Ereignis, weit über Deutschland hinaus. Für mich war es auch das größte persönliche Erlebnis. Wer immer wieder in Berlin lebte, der hatte zwar stets empfunden, daß die Mauer keinen Bestand in der Geschichte haben könne. Nach dem Plan ihrer Erbauer sollte sie uns trennen. Doch sie war so sehr gegen Wesen und Willen der Menschen, daß sie selbst unaufhörlich zu ihrer Überwindung mahnte, zur Einheit. Nur eines hatte keiner von uns gewußt: ob er ihren Fall noch erleben würde.
    Und dann konnte ich am 11. November 1989 allein über den Potsdamer Platz auf die Ostberliner Kontrollbaracke zugehen. Ein Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee kam mir entgegen, machte eine korrekte Ehrenbezeugung und sagte: „Herr Bundespräsident, ich melde: Keine besonderen Vorkommnisse",

    (Heiterkeit und Beifall)

    als ob nichts gewesen wäre — doch es war überwältigend. Damals, im November 1989, gingen ein tiefes Gefühl der Befreiung und eine Welle der Freude mit uns Deutschen um die ganze Welt. Das wollen wir an keinem Tag vergessen, nun, da wir in Deutschland und Europa miteinander unterwegs sind.
    Ohne Beispiel in der Geschichte war es, die Vereinigung in Frieden mit allen beteiligten Mächten und Nachbarn, zu erreichen. Die innere Einheit stützte sich aus gutem Grund auf den Artikel 23 der Verfassung, weil der Osten nicht weniger als der Westen die Leitlinien dieses Grundgesetzes wollte.

    (Vereinzelter Beifall)




    Dr. Richard von Weizsäcker
    Doch sollten wir getrost aufhören, vom „Beitrittsgebiet" zu sprechen.

    (Beifall)

    Dieser Begriff ist zwar verfassungsrechtlich korrekt
    — der Herr Bundespräsident wird das bestätigen —,

    (Heiterkeit)

    aber der menschliche und historische Vorgang ist kein Verbund von Bundesdeutschen und Beigetretenen.

    (Beifall)

    Wir haben verschiedene Lebenserfahrungen und wachsen nun gemeinsam in eine für beide Teile neue innere Einheit hinein.
    Wir kommen vorwärts, und wir werden es schaff en.

    (Beifall)

    Dabei helfen uns die Vorzüge der offenen Gesellschaft: die festen Regeln der Demokratie und die Effizienz der Marktwirtschaft. Sie bieten die besten uns bekannten Entdeckungswege zur Lösung der immer wieder neuen Probleme. Sie sind vernünftig, weil sie uns befähigen, Konflikte gewaltlos zu bestehen. Herzerwärmend sind sie nicht. Das ist keine weltfremde Anmerkung, sondern eine Erinnerung an den Gedanken von Ranke, daß die Völker nicht allein von rationaler Umsicht bestimmt werden, sondern vor allem von starken Gefühlen.
    So ist es auch bei uns. Die Landsleute im Osten sind dankbar für die so lang entbehrte Freiheit. Sie wissen die riesigen Transferleistungen sehr wohl zu würdigen. Sie spüren eine gute Wirkung der Partnerschaft von Gemeinden und Verbänden und des persönlichen Einsatzes zahlreicher selbstloser Helfer und Ratgeber.
    Gleichwohl ist vieles noch fremd. Daß der Markt unentbehrlich ist und sich zur Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen bewährt, das verkennt ja niemand. Aber allzu viele müssen den Zugang zum Markt noch suchen, nämlich ihre Beschäftigung, zumal Frauen. Oft hört man es so: „Früher waren wir alle gleich, und alle hatten Arbeit." Darin äußert sich ganz gewiß keine Sehnsucht nach neuer Unfreiheit. Doch bei allem Respekt für den Wettbewerb hoffen die Menschen auf eine Marktwirtschaft, die nicht nur den Arbeitslosen sozial auffängt, sondern die die Kraft aufbringt, dem Arbeitsuchenden solidarisch weiterzuhelfen.

    (Beifall)

    Es geht auch um mehr als nur um materielle Sorgen. Wettbewerb und Gewinn sind nicht das Maß der Dinge. Wert ist etwas anderes als Preis.

    (Beifall)

    Auch sollten wir uns hüten, die Vergangenheit pauschal zu dämonisieren oder gar nachträglich umzuschreiben. Die Menschen haben unter dem barbarischen Zwang zum Kollektivismus wahrlich genug gelitten. Dabei brauchen sie sich aber nicht ständig einreden zu lassen, sie hätten deshalb persönlich bisher ein nur verlorenes Leben gehabt.

    (Beifall)

    Heute suchen sie nach Gerechtigkeit und Nachbarschaft, nach einer Verbindung von Solidarität und Sicherheit. Wer wollte das nicht ernst nehmen?
    Der Arbeitsmarkt verstärkt unser wechselseitiges Verständnis im Einigungsprozeß. Auch die Menschen im Westen haben Sorgen und müssen lernen. Dort waren Prosperität der Wirtschaft und Bewährung des Sozialstaates gewohnte Lebensumstände. Die Kräfte des Marktes konnten sich durchsetzen. Der Abbau der Handelsschranken in Europa und weltweit wirkte belebend.
    Im Zuge steigender Produktivität wuchs jedoch schon während der Hochkonjunktur Arbeitslosigkeit heran. In einer großen Kraftprobe hat der Sozialstaat gesellschaftliche Erschütterungen abgewehrt. Angesichts der schweren zusätzlichen Lasten nach der Einheit ist seine Tragfähigkeit wahrhaft eindrucksvoll. Nun wird allen Beteiligten ein hohes Maß an Flexibilität abgefordert, an Kraft zur Innovation und zur Überwindung eines hemmenden Denkens in Besitzständen. Wir haben die Aufgaben am Arbeitsmarkt bisher nicht gelöst. Das ist jetzt eine unserer großen gemeinsamen Herausforderungen.

    (Beifall)

    Wir werden sie, meine Damen und Herren, um so besser bestehen, je mehr wir für humane Voraussetzungen sorgen. Ich meine damit unsere Kultur im weitesten Sinne des Wortes: die Kultur der Beziehungen vorn Menschen zum Mitmenschen, vom Menschen zur Natur und vom Menschen zur Zukunft.
    Am Markt herrschen Wettbewerb und Leistung; das kann nicht anders sein. Zur Kultur gehört auch eine Zuwendung der Starken zu Schwachen,

    (Beifall)

    also nicht nur eine vertikale soziale Verpflichtung des Staates, sondern auch die Hilfe einer horizontalen Solidarität der Bürger untereinander.
    Ein Beispiel von gewaltig gewachsener Bedeutung ist das Verhältnis von Einheimischen und Zugewanderten. Über Jahrhunderte war Deutschland überwiegend ein Auswanderungsland. Heute wollen weit mehr Menschen zu uns hinein als heraus. Um für eine derart veränderte Lage die menschliche Einstellung und den staatlichen Rahmen zu finden, brauchen wir Zeit. Wir müssen nach konsensfähigen Lösungen suchen, die die Mehrheit in der Bevölkerung versteht und mitträgt, und zwar in öffentlicher Diskussion. Es hat keinen Zweck, sich vor der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu verstecken. Wer das Stichwort Einwanderungspolitik tabuisieren will, weil er sonst ausländerfeindliche Ausschreitungen befürchtet, der stellt die Zusammenhänge auf den Kopf.

    (Beifall)

    Soziale Konflikte haben ihre Ursache weit eher im Verschweigen oder Verzögern fälliger politischer Zielvorgaben als in ihrem Gefolge.

    (Beifall)

    Wir brauchen neue Regelungen für Einwanderung und Staatsangehörigkeit, aber natürlich nicht, um



    Dr. Richard von Weizsäcker
    unsere Tore für die Wanderer aus aller Welt unbegrenzt zu öffnen,

    (Vereinzelter Beifall)

    sondern um die Zuwanderung gemäß den Interessen und Verpflichtungen unseres Landes steuern zu können.

    (Beifall)

    Dann wird die Einwanderung zu einer sinnvollen Vorsorge für die Zukunft. Wer sich in dieser Weise auf Einwanderer einstellt, hat mehr von ihnen, als wenn er sie nur als Eindringlinge fürchtet.

    (Beifall)

    In vielen Ländern der Europäischen Union stellen sich ähnliche Aufgaben. Gemeinsame Lösungen anzustreben ist nötig, aber kein Vorwand, um den nationalen Handlungsspielraum zu vernachlässigen. Nachholbedarf haben auch wir.
    In jüngster Zeit haben wir überall in Deutschland schändliche Gewalttaten gegen Habe, Leib und Leben von Nichtdeutschen erlebt. Es sind Einzeltaten ohne zentrale Planung, jedoch nicht ohne Anstiftung. Sie entstammen einem überwiegend rechtsextremistisch erzeugten Klima, das sich aus Parolen und Aufmärschen, aus Pamphleten und Symbolen speist. Da möge niemand von Zufallslaunen oder, wie neulich, von unvorhersehbaren, spontanen Jagden auf Ausländer sprechen,

    (Beifall)

    um sich dann erst eines späteren Tages zu fragen, wie es dazu hatte kommen können. Eines Tages? — Das ist immer heute!

    (Beifall)

    Für die Ordnungskräfte des Staates ebenso wie für uns als Mitbürger.
    Wir dürfen uns nicht an fremdes Unglück gewöhnen, wozu uns doch schon die täglichen Fernsehbilder verleiten. Wir wollen nicht wegsehen, wenn Unmenschliches im eigenen Gesichtskreis geschieht. Wer sich wegduckt, akzeptiert am Ende die Herrschaft und Gewalt von anderen auch über sich selbst.

    (Beifall)

    Wer sich nicht traut, für seine Freiheit einzutreten, wird zum Schwarzfahrer unserer freiheitlichen Demokratie. Er höhlt sie aus.

    (Vereinzelter Beifall)

    Wir dürfen und wir wollen keinen zweiten Widerruf des Zusammenlebens mit den sogenannten „anderen" dulden, die einen anderen Paß oder andere Lebensgewohnheiten haben, die behindert oder obdachlos sind. Daran wollen wir nicht nur um unseres Ansehens im Ausland willen denken. Wichtiger ist, wie wir im eigenen Spiegel aussehen.

    (Beifall)

    Für uns muß — und darin ist sich die ganz überwiegende Mehrheit unserer Bevölkerung völlig einig — die Würde eines jeden Menschen unantastbar sein. Das ist der Kern unserer eigenen Freiheit.

    (Beifall)

    Zu ihrem Schutz lohnt sich jede zivile Courage. Sie ist die größte Tugend der demokratischen Bürgergesellschaft und überdies auch ihre beste Versicherung.

    (Beifall)

    Es gibt ermutigende Zeichen für unsere Kultur des Zusammenlebens mit Fremden. Neulich stieß ich auf einen Kulturverein in Stendal, im nördlichen Sachsen-Anhalt. Eine Laienspielschar von jungen Leuten führte ein Ballett auf, mit einem Schwarzafrikaner in der Hauptrolle. Die ganze Stadt lernte Achtung vor und Freude an seinem Wesen, seinen Bewegungen, seiner uns von Hause aus doch so fremden und uns dennoch so packenden Kultur. Aus Karlsruhe kamen unlängst Schüler zu mir. Sie hatten ein Theaterstück über das Zusammenleben mit Ausländern selber geschrieben und in der weiteren Umgebung aufgeführt. Die Resonanz war stark. So wird Kunst zur humanen Kraft.

    (Beifall)

    An dieser Stelle mögen mir die Haushälter und die Finanzverantwortlichen, also auch die Regierungschefs in Bund, Ländern und Kommunen, eine Bitte erlauben. Folgen Sie ruhig der Stimme Ihres Herzens, und begegnen Sie in Zeiten des dringenden Spargebots den vielen kulturellen und künstlerischen Zellen und Zentren im Lande, deren Lobby doch so schwach ist, mit Verständnis!

    (Beifall)

    Chöre, Orchester, Bühnen, Sammlungen, Ausstellungen und Initiativen aller Art gehören nämlich auch zu den Vorbildern in der Kosten-Nutzen-Relation. Ihre Kosten sind kleiner als fast alle anderen Haushaltstitel, ihre Wirkung aber geht tief und tut der ganzen Gesellschaft wohl.

    (Beifall)

    Es ist nicht nur schöner, sondern es spart am Ende auch Geld, gutes Zusammenleben und Entspannung unter den Menschen mit Hilfe der Kultur zu fördern, anstatt die Folgekosten von sozialem Unfrieden tragen zu müssen.

    (Beifall)

    Kultur ist eben kein entbehrlicher Zierat, sondern humane Lebensweise der Bürger.
    In jeder Gesellschaft gehört die Beziehung zwischen den Generationen zu den Säulen der Kultur. Tragen sie uns noch genug? Schon die demographichen Zahlen alarmieren: Vor 100 Jahren standen zehn Jugendliche unter 21 Jahren nur einem Alten über 65 Jahren gegenüber. In wenigen Jahren aber, im Jahr 2000, werden beide Gruppen etwa gleich groß sein. Das kann nicht ohne schwerwiegende Folgen bleiben. Die Lasten für die Jungen steigen immer mehr, sowohl wenn sie eigene Kinder haben wollen als auch und vor allem wegen der Versorgung der Alten. Stehen wir hier am Anfang eines Aufstandes der Jungen gegen die Alten?
    Jedenfalls wächst neues Denken innerhalb der Altersgruppen heran und kann ihr Verhalten zueinander verändern. Bei den Jungen ist dies normal; sie wollen ihre eigenen Erfahrungen machen. Dabei merken sie früher oder später, daß niemand ganz von



    Dr. Richard von Weizsäcker
    vorn anfangen kann. Es ist auch in ihrem Interesse, nicht alles Erfahrungswissen verlorengehen zu lassen. Die Kontinuität der Generationen zu wahren und zu achten ist gerade auch für die Jungen eine Hilfe.
    Die Alten haben ebenfalls Grund zu neuem Denken. Wir sollten und wir können lebenslang dazulernen, uns bilden und erziehen. Leider ist es nach meinem Eindruck zur Zeit ganz allgemein um Fragen der Bildung und Erziehung merkwürdig ruhig im Lande. Verantwortliche Bildungspolitiker ringen zwar energisch um Reformschritte. Doch nehmen große Politik und Öffentlichkeit davon nur selten ernsthaft Notiz, obwohl wir doch mindestens eines wissen: daß das Bildungswesen eines Landes zu den zentralen Standortfaktoren in der liberalisierten Weltwirtschaft gehört.

    (Beifall)

    Aber über ihre reine Effizienz hinaus hängt die Qualität der Bildung vor allem von den Werten und Zielen im Zusammenleben der Menschen ab. Keine Bildung kommt ohne den Mut zur Erziehung aus, und Mut zur Erziehung bedeutet im Wandel der Zeitbedingungen zunächst Mut zur Veränderung unseres eigenen Lebens, zumal auch im Alter.
    Das wichtigste Thema dafür ist die Umwelt. Auf allen Feldern wird die Endlichkeit der Lebensvoraussetzungen sichtbar. Was wir heute an Luft und Wasser, an Energie und Artenvielfalt verkommen lassen oder verschwenden, wird den Nachkommen fehlen. Welche bessere Aufgabe also gäbe es als die eigene Genügsamkeit und die gemeinsame Verantwortung für die natürlichen Ressourcen?

    (Vereinzelter Beifall)

    Eine Kontinuität der Generationen kann es nur geben, wenn wir mit unserem heutigen Leben nicht unaufhörlich die Zukunft verbrauchen.

    (Beifall)

    Die ökologische Pflicht gilt weltweit, aber sie fängt immer zu Hause an.

    (Beifall)

    Der Umweltschutz wird vom parteilichen zum Allgemeingut. Hier wartet ein Staatsziel auf seine Überführung in die Praxis.

    (Beifall)

    Nach wie vor muß die Allgemeinheit die Kosten tragen, wann immer der private Markt externe Folgen verursacht, die nicht im Preis enthalten sind.

    (Vereinzelter Beifall)

    Ehrlicher und gesamtgesellschaftlich auch ökonomischer ist es, wenn die Preise selbst die ökologische Wahrheit sagen.

    (Beifall)

    Was ökologisch notwendig ist, soll sich auf dem Markt auch behaupten können. Deshalb führt — um ein Beispiel zu nennen — letztlich kein Weg daran vorbei, umweltschädliche Produkte wie fossile Brennstoffe höher zu belasten und von uns aus auch in der
    Europäischen Union auf eine entsprechende Einigung im CO2-/Energie-Bereich hinzuarbeiten.

    (Vereinzelter Beifall)

    Dies ist eine der großen Aufgaben, die uns Deutsche mit der Welt verbinden. Unsere Nation ist nur Teil der größeren und wichtigeren Gemeinschaft der Menschheit. Wir nehmen an ihren Sorgen in dem Bewußtsein teil, daß viele Völker weit mehr zu leiden haben als wir.
    Ich kann hier nicht auf die konkreten Felder der Außenpolitik eingehen, auf Sicherheit und Zusammenarbeit in unserem Teil der Welt und auf die Verbesserung der Entwicklungsbedingungen in der südlichen Halbkugel. Nur von einer Frage, Frau Präsidentin, erlauben Sie mir noch zu sprechen: Was ist die deutsche Nation? Und wohin zielt sie?
    Es ist nicht verwunderlich, daß während des Kalten Krieges davon weniger die Rede war, wohl aber jetzt, da wir unsere politische Einheit im Frieden mit der Welt erreicht haben. Nun sind die Augen der Nachbarn und auch fernerer Länder auf uns gerichtet. Nach europäischen Maßstäben sind wir groß, für manche Nachbarn beunruhigend groß. Man horcht empfindsam auf unsere Tonlage. Man verfolgt mit angespanntem Interesse, was wir vorhaben mit unseren 80 Millionen Einwohnern mitten in Europa, wie wir unsere geistigen und materiellen Ressourcen einsetzen werden, und vor allem, welche menschlichen Temperaturen sich bei uns zu Hause entwickeln.
    Der Wahn des Nationalismus in Europa, der nichts anderes gesucht hat als den Vorteil der eigenen zum Nachteil der anderen Nationen, hatte unseren Erdteil zu Boden geworfen. Das „right or wrong, my country" hatte sich als Absage an die Zivilisation erwiesen.

    (Beifall)

    In unserer Zeit hat nun ein neues, historisch hoch bedeutsames Kapitel begonnen: der Zusammenschluß in Europa. Damit hören wir sowenig wie unsere Nachbarn auf, eine Nation zu sein. Noch verfügen wir über keine andere Ebene als den Nationalstaat, um die Demokratie zu garantieren. Aber die Nation ist kein abstrakter Begriff, der ein für allemal feststeht. Vielmehr ist sie vom Willen ihrer Bürger geprägt, der ihren Charakter bewahren oder aber verändern kann.
    Es sind nicht allein Religion oder Rasse, Hautfarbe, ethnische Wurzeln oder die Sprache, die eine Nation bilden. Gewiß, die geographische Lage eines Landes hat ihr starkes Gewicht, wie auch das Streben nach Sicherheit, das die Menschen zusammenhält. Prägend sind ferner die politischen Interessen. Wir müssen sie klar erkennen und offen und ehrlich beim Namen nennen. Sie sich selbst nicht einzugestehen oder vor anderen zu verheimlichen, obwohl sie doch existieren, würde nur allseits Mißtrauen wecken. Den wahren Kern der Nation aber bilden sie nicht. Vielmehr ist jede, auch die unsrige, ein geistiges Lebewesen, das, wie jedes Leben, in langer Zeit zur Gegenwart heranwächst. Es hat eine bedeutungsschwere Geschichte und einen gegenwärtigen Willen zum Zusammenleben.



    Dr. Richard von Weizsäcker
    Die Geschichte soll nicht unser Gedächtnis beschweren, sondern unseren Geist erleuchten, wie Lessing sagt. Sich erinnern zu können ist eine große Kraft. Das ganze Erbe der Vergangenheit anzunehmen, seine guten und seine schweren Kapitel oder, mit den Worten des großen französischen Religionshistorikers Ernest Renan, seinen Ruhm und seine Reue gemeinsam verantwortlich zu tragen, das ist das eine, was unsere Nation prägt.
    Das andere ist unser Wille zur Gegenwart, unsere Bereitschaft, sich den Aufgaben unserer Zeit zu stellen: Wie gehen die Generationen miteinander um? Geben wir der Jugend die nötigen Chancen, steigende Lasten in der Zukunft zu tragen? Verstehen wir, daß internationale Wettbewerbsfähigkeit für den Arbeitsmarkt wichtiger ist als marginale Zuwächse in innergesellschaftlichen Verteilungskämpfen? Wie verhalten sich Einheimische und Zuwanderer zueinander? Sind wir offen zu uns und zu unseren Nachbarn? Vermögen wir das Eigene so zu achten und zu schätzen, daß es das Fremde nicht zu fürchten braucht, sondern ihm seine Würde beglaubigen und sie stärken kann? Tragen wir alle, wählende Bürger und gewählte Politiker, das Unsere dazu bei, daß die Zivilcourage spürbar gestärkt wird und so auch die Politik an Ansehen gewinnt? Sind wir uns bewußt, daß die Kultur Quelle unserer Humanität und Fundament unserer Zukunft ist, die es energisch zu fördern und allseits zu praktizieren gilt? Schließlich und vor allem: Bewahren wir die uns anvertraute Natur für unsere Nachkommen?
    Wir können Vertrauen bilden, wenn wir Vertrauen haben — Vertrauen zu uns selbst —: im Bewußtsein von Last und Reichtum der Geschichte und mit dem festen und verantwortlichen Lebenswillen in der Gegenwart. Für unsere Nation, unterwegs nach Europa und als Glied der Gemeinschaft der Völker, setze ich darauf mit Zuversicht.

    (Beifall)

    Meine Damen und Herren, Frau Präsidentin, ich habe meine Amtszeit beendet. Die Stafette ist übergeben. Sie haben mich glücklich überstanden.

    (Heiterkeit)

    Ich danke Ihnen für die gemeinsame Zeit.

    (Die Anwesenden erheben sich — Anhaltender Beifall)

    Meine Damen und Herren, einen Satz muß ich noch hinzufügen, denn: Innehaben darf ich weiterhin — laut Lichtenberg — „freien Sitz und Stimme in dem Rat über Irrtum und Wahrheit" , jenem Rat in unserer Demokratie, dem wir alle, jung und alt, mit oder ohne Amt, zusammen angehören — zum Wohl unseres Landes.

    (Anhaltender Beifall)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Uns bleibt ein einziges Wort: Danke!

(Beifall)

Meine Damen und Herren, am 23. Mai dieses Jahres hat die Bundesversammlung Herrn Professor Dr. Roman Herzog zum Bundespräsidenten der Bundesrepublik Deutschland gewählt. Herr Roman Herzog hat vor der Bundesversammlung diese Wahl angenommen und mit dem heutigen Tag das Amt des Bundespräsidenten angetreten.
Nach Art. 56 des Grundgesetzes leistet der Bundespräsident bei seinem Amtsantritt vor den versammelten Mitgliedern des Bundestages und des Bundesrates den vorgeschriebenen Eid. Ich bitte Sie, Herr Bundespräsident — und ich bitte den Herrn Präsidenten des Bundesrates —, zu mir zu kommen, um den Eid zu leisten.

(Die Anwesenden erheben sich)

Herr Bundespräsident, ich übergebe Ihnen das Original des Grundgesetzes und bitte Sie, den Eid zu sprechen.

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    Rede von: Unbekanntinfo_outline


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: ()
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: ()

    Ich schwöre, daß ich meine Kraft dem Wohle des deutschen Volkes widmen, seinen Nutzen mehren, Schaden von ihm wenden, das Grundgesetz und die Gesetze des Bundes wahren und verteidigen, meine Pflichten gewissenhaft erfüllen und Gerechtigkeit gegen jedermann üben werde. So wahr mir Gott helfe!