Rede von
Konrad
Weiß
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Rechtzeitig zum Auftakt des Jahres der Familie hat die Familienministerin deutlich gemacht, was Sie unter familien- und kinderfreundlicher Politik versteht. Das Bundeskindergeldgesetz wurde weder rechtzeitig noch im Sinne des Bundesverfassungsgerichtes novelliert. Die Leidtragenden werden die ärmsten Familien in unserem Land sein. Eine Sparpolitik, die den Armen nimmt und den Reichen läßt, verdient diesen Namen nicht.
Auch der jetzt geltende Kinderfreibetrag und der Kindergeldzuschlag sind sozialpolitisch fehlsteuernd und ungenügend. Bei der gegenwärtigen Praxis steht eine Familie mit einem hohen steuerpflichtigen Einkommen immer erheblich besser da als eine Familie, die den Kindergeldzuschlag erhält. Das heißt, das soziale Anliegen, einkommensschwachen Familien eine spürbare Hilfe zu geben, wird durch die geltenden Regeln nicht erreicht. Die Maßnahmen der Familienministerin verschärfen diese Situation sogar noch.
Erfreulicherweise gibt es in den Regierungsparteien immer mehr Kolleginnen und Kollegen, die die familienfeindliche Politik der Bundesregierung nicht länger mitverantworten wollen. Alexander Graf von Schwerin, Mitglied des CDU-Bundesvorstandes, nannte das Vorgehen der Bundesregierung eine — ich zitiere — „himmelschreiende Ungerechtigkeit". Der Kollege Norbert Eimer stellte völlig zu Recht fest — ich zitiere wiederum —: „Die bisherige Regelung beim Kindergeldzuschlag ist ungerecht und verfassungswidrig." Rainer Eppelmann, der designierte Vorsitzende der CDA, sprach sogar von einem Skandal.
Bedauerlicherweise haben die markigen Sprüche bislang keine Konsequenz. Entweder ist der Bundeskanzler tatsächlich im Geiste schon zurückgetreten, wie man angesichts seines Regierungsdesasters befürchten muß, oder aber die Politik dieser Koalition ist im Kern tatsächlich von unerhörter sozialer Kälte und erschreckender Familienfeindlichkeit. Auch dafür gibt es gravierende Anzeichen.
Oder kann sich der Bundeskanzler nicht gegenüber der Familienministerin durchsetzen? Solange diese Koalition es nicht fertigbringt, die Reichen stärker zu belasten und die Schwachen mehr zu fördern und zu unterstützen, sollte sie das Wort „sozial" aus ihrem Sprachgebrauch streichen.
Nach Angaben des Deutschen Kinderschutzbundes waren 1993 ca. 1,8 Millionen Kinder in Deutschland auf Sozialhilfe angewiesen. Auch der Armutsbericht von DGB und Paritätischem Wohlfahrtsverband bestätigt die hohe Armutsbetroffenheit von Kindern und Jugendlichen. In Westdeutschland sind bereits 30 % der Kinder und Jugendlichen auf Sozialhilfe angewiesen, in Ostdeutschland sogar knapp 44 %.
Armut von Kindern und Jugendlichen ist mehr als reine Einkommensarmut. Kinder und Jugendliche sind dadurch in der Regel in ihren Bildungsmöglichkeiten behindert, sind gesundheitlich gefährdet, wohnen beengt und sind in vielfältiger Weise in ihrer Persönlichkeitsentwicklung gestört.
Führen Sie sich, meine lieben Kolleginnen und Kollegen, doch einmal vor Augen, was das heißt, wenn diese Kinder- und Jugendarmut so bleibt, was es bedeutet für die Persönlichkeitsentwicklung, die soziale Einbindung der Betroffenen und damit für unser Gemeinwesen insgesamt! Die Folgen dieser verfehlten Familienpolitik spüren wir doch alle schon und werden sie in Zukunft immer deutlicher spüren.
Alleiniges Ziel einer gerechten und sozialen Familienpolitik muß es sein, Kindern gleiche Entwicklungschancen zu bieten, unabhängig vom Einkommen ihrer Eltern. Wer ausgerechnet bei den Kindern spart, gefährdet ihre Zukunft und damit die Zukunft unseres Landes.
Deshalb fordert BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eine grundlegende Reform des Familienlastenausgleichs. Einerseits ist das gestaffelte Kindergeld nicht bedarfsgerecht, andererseits begünstigen das Ehegattensplitting und die Ausgestaltung des steuerlichen Kinderfreibetrages begüterte Familien überproportional im Vergleich zu Alleinerziehenden oder zu arbeitslosen Eltern.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wird deshalb, wenn wir Regierungsverantwortung mitübernehmen, den Familienlastenausgleich in einen Kinderlastenausgleich umwandeln. Allein durch die Abschaffung des Ehegattensplittings ständen jährlich über 30 Milliarden DM zusätzlich zur Verfügung, die wir in ein bedarfsgerechtes Kindergeld investieren werden.
Kinder sind in Deutschland die eigentlichen Wohlstandsopfer. Für so viel Unsinniges und Unverantwortliches ist Geld da, nur nicht für sie. Familien, die Kinder haben, werden bestraft. Familien mit mehreren Kindern müssen oft auf vieles verzichten, was für ihre Nachbarn selbstverständlich ist. Sicher, es kann und soll nicht Aufgabe des Staates sein, eine völlige Gleichheit herzustellen. Aber für ausgleichende Gerechtigkeit haben wir, die politische Verantwortung tragen, allemal zu sorgen.
Ich fordere die Bundesregierung auf, in diesem Sinne unmittelbar tätig zu werden.