Rede von
Heinrich
Seesing
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU/CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich begrüße es, daß wir wegen der 108 oder auch 130 Risse der Rohrleitungen des Reaktorreinigungssystems und des Lagerdruckwassersystems im Kernkraftwerk Brunsbüttel eine Diskussion führen. Diskutieren heißt, daß man über eine Sache redet. Und vor dem Reden sollte man eigentlich nachdenken. Ich habe also versucht, das zu tun.
Dabei ist in mir der Verdacht verstärkt worden, daß es weniger um die Risse in Brunsbüttel als vielmehr darum geht, vor den anstehenden Konsensgesprächen über energiepolitische Probleme der kommenden Jahre möglichst noch vollendete Tatsachen zu schaffen, nämlich möglichst viel Ausstieg.
Herr Kollege Müller hat meine Ansicht soeben bestätigt.
Ich hätte mir und uns allen eigentlich gewünscht, daß ich mich hier irrte. Denn wir haben uns gerade des Tages erinnert, an dem zum ersten Mal eine nukleare Kettenreaktion kontrolliert ablief. Das war am 4. Dezember 1942, also vor 50 Jahren.
Dieser Prozeß gelang dem Italiener Enrico Fermi in Chicago. Der erste Kernreaktor war geboren. 1961 hat dann der erste Reaktor in Deutschland in Kahl am Main seinen Betrieb aufgenommen.
Seit dieser Zeit erzeugten deutsche Kernkraftwerke 1 Billion 700 Milliarden Kilowattstunden Strom. Damit wurden der Erdatmosphäre rund 1,7 Milliarden Tonnen Kohlendioxid erspart. Und weil wir das mit der Kernenergie können, setze ich mich auch weiterhin für die Nutzung der Kernenergie ein, aber sicher müssen unsere Kernkraftwerke schon sein. Und sie sind es!
Aber mich macht etwas anderes besorgt. Weltweit arbeiteten im Dezember 1992 422 Kernreaktoren. Dazu kommen noch viele Forschungsreaktoren und Schiffe mit atomarem Antrieb. Es hat mich sehr betroffen gemacht, daß es keine international verbindlichen Regeln gibt, wie Reaktoren ausgestattet sein müssen, um Mensch und Umwelt vor den Gefahren zu schützen, die zweifellos von den Reaktoren ausgehen.
Ganz anders ist die Lage beim Schutz vor dem Risiko, das von ionisierender Strahlung ausgeht. Dafür wurde schon vor mehr als 60 Jahren die Internationale Strahlenschutzkommission gebildet. Sie gibt auf diesem Gebiet Empfehlungen, die in irgendeiner Form internationale Verbindlichkeit genießen und zu weltweitem Vertrauen geführt haben.
Ich frage mich, ob es nicht an der Zeit ist, für das Gebiet der Reaktorsicherheit ein ähnliches Gremium zu schaffen, dessen Äußerungen und Empfehlungen von allen anerkannt werden. Leider zeigt sich noch niemand, der diese Aufgabe angehen will. Keine internationale Institution ist zuständig. Dabei müßte eine solche Einrichtung für alle von größtem Interesse sein, die kerntechnische Anlagen bauen und betreiben.
Ich kann mir vorstellen, daß wir in Deutschland zu der übereinstimmenden Auffassung kommen, die heute arbeitenden Kernkraftwerke und solche im Wartestand, wie Mülheim-Kärlich, unter Einhaltung aller Sicherheitsbestimmungen für eine zu vereinbarende, wahrscheinlich noch lange Betriebsdauer als Stromproduzenten zu nutzen und dann stillzulegen.
Wir müssen dann aber auch zu der Auffassung gelangen können, daß neue Kernkraftwerke mit genau formulierbaren Sicherheitsbestandteilen ans Netz gehen können, damit nicht schlagartig die CO2-Belastung bei uns wieder anwächst,
Dafür sollte es allgemein anerkannte und verbindliche Regeln geben, wie diese Kernkraftwerke der Zukunft zu gestalten sind, und bestehende müssen diesem Standard so weit als eben möglich angeglichen werden.
Wir haben doch die Internationale Atomenergie-Organisation in Wien. Sie darf nach ihrer Satzung schon Sicherheitsnormen aufstellen oder beschließen. Verbindlich sind diese aber nur für die innere Arbeit dieser Behörde und dort, wo ein Staat ausdrücklich darum bittet.
Bundesminister Töpfer hat zumindest eine Diskussion über den Abschluß einer Konvention über kerntechnische Sicherheit vorangebracht. Viele Staaten wollen noch nicht. Wir aber sollten die völkerrechtlich verbindliche Festschreibung von Sicherheitsanforderungen zur politischen Forderung erheben und die Bundesregierung auffordern, sie durchzusetzen.