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ID1200702500

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    Plenarprotokoll 12/7 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 7. Sitzung Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 Inhalt: Tagesordnungspunkt 1: Aussprache zur Erklärung der Bundesregierung Dr. Schäuble, Bundesminister BMI . . . . 227A Dr. Penner SPD 231D Dr. Kinkel, Bundesminister BMJ 234 D Dr. Laufs CDU/CSU 236D Weiß (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE . . 237 B Gerster (Mainz) CDU/CSU . . . . 238D, 246D Dr. Heuer PDS/Linke Liste 239B Frau Köppe Bündnis 90/GRÜNE 240A Thierse SPD 242B, 245D Dr. Laufs CDU/CSU 241 C Dr. Geißler CDU/CSU 245B Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE 246B Graf von Schönburg-Glauchau CDU/CSU 246 C Dr. Graf Lambsdorff FDP 247A Dr. Knaape SPD 248A Dr. Brecht SPD 250A Frau Matthäus-Maier SPD 250 B Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD 251A Dr. Graf Lambsdorff FDP 254A Scharrenbroich CDU/CSU 255A Geis CDU/CSU 255 D Frau Dr. Götte SPD 256D Frau Jelpke PDS/Linke Liste 257 C Kleinert (Hannover) FDP 259A Dr. Riege PDS/Linke Liste 260 D Bohl CDU/CSU 261D Müller (Pleisweiler) SPD (nach § 28 Abs. 2 GO) 263 D Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 264 C Gansel SPD (Erklärung nach § 31 GO) . 264D Möllemann FDP (Erklärung nach § 31 GO) 265B Dr. Graf Lambsdorff FDP (Erklärung nach § 31 GO) 265 C Zusatztagesordnungspunkt: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung der Beitragssätze in der gesetzlichen Rentenversicherung und bei der Bundesanstalt für Arbeit (Drucksache 12/56) Dr. Blüm, Bundesminister BMA 266A Büttner (Ingolstadt) SPD 268A Heyenn SPD 268 B Schreiner SPD 268D, 277 A Dr. Blüm CDU/CSU 269A, 2798 Gibtner CDU/CSU 269 C Frau Dr. Babel FDP 271 D Frau von Renesse SPD 273 C Frau Bläss PDS/Linke Liste 274 A Dr. Graf Lambsdorff FDP 275 A Fuchtel CDU/CSU 275 A Frau Schenk Bündnis 90/GRÜNE . . . 277 B Andres SPD 277 D II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 Zusatztagesordnungspunkt: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Fünften Buches Sozialgesetzbuch (Drucksache 12/57) Jagoda CDU/CSU 280 D Dr. Knaape SPD 282 C Dr. Thomae FDP 283 D Frau Dr. Fischer PDS/Linke Liste . . . 284 A Peter (Kassel) SPD 284 D Frau Schenk Bündnis 90/GRÜNE . . . 286B Frau Hasselfeldt, Bundesminister BMG . 287 A Büttner (Ingolstadt) SPD 287 C Nächste Sitzung 288 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 289* A Anlage 2 Amtliche Mitteilung 289 * D Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 7. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. Februar 1991 227 7. Sitzung Bonn, den 1. Februar 1991 Beginn: 9.01 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Antretter SPD 01.02.91 * Bindig SPD 01.02.91 * Frau Blunck SPD 01.02.91 * Böhm (Melsungen) CDU/CSU 01.02.91 * Brandt SPD 01.02.91 Frau Brudlewsky CDU/CSU 01.02.91 Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 01.02.91 * Buwitt CDU/CSU 01.02.91 Erler SPD 01.02.91 Eylmann CDU/CSU 01.02.91 Frau Eymer CDU/CSU 01.02.91 Dr. Feldmann FDP 01.02.91 * Frau Fischer (Unna) CDU/CSU 01.02.91 * Francke (Hamburg) CDU/CSU 01.02.91 Gattermann FDP 01.02.91 Frau Geiger CDU/CSU 01.02.91 Dr. Geisler (Radeberg) CDU/CSU 01.02.91 Gerster (Worms) SPD 01.02.91 Dr. Gysi PDS 01.02.91 Dr. Haussmann FDP 01.02.91 Hollerith CDU/CSU 01.02.91 Dr. Holtz SPD 01.02.91 Jung (Düsseldorf) SPD 01.02.91 Jung (Limburg) CDU/CSU 01.02.91 Kittelmann CDU/CSU 01.02.91 * Klinkert CDU/CSU 01.02.91 Dr. Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 01.02.91 Kuhlwein SPD 01.02.91 Lenzer CDU/CSU 01.02.91 * Louven CDU/CSU 01.02.91 Lowack CDU/CSU 01.02.91 de Maizière CDU/CSU 01.02.91 Marten CDU/CSU 01.02.91 Matschie SPD 01.02.91 Dr. Mertens (Bottrop) SPD 01.02.91 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Müller CDU/CSU 01.02.91 * Müller (Wesseling) CDU/CSU 01.02.91 Dr. Neuling CDU/CSU 01.02.91 Frau Odendahl SPD 01.02.91 Pfeifer CDU/CSU 01.02.91 Pfuhl SPD 01.02.91 Reddemann CDU/CSU 01.02.91 * Repnik CDU/CSU 01.02.91 Reuschenbach SPD 01.02.91 Frau Roitzsch CDU/CSU 01.02.91 (Quickborn) Frau Schaich-Walch SPD 01.02.91 Dr. Scheer SPD 01.02.91 * Schmidbauer CDU/CSU 01.02.91 von Schmude CDU/CSU 01.02.91 * Dr. Schuster SPD 01.02.91 Frau Simm SPD 01.02.91 Dr. Soell SPD 01.02.91 * Dr. Sperling SPD 01.02.91 Spilker CDU/CSU 01.02.91 Steiner SPD 01.02.91 * Stiegler SPD 01.02.91 Dr. Vogel SPD 01.02.91 Dr. Warnke CDU/CSU 01.02.91 Dr. Warrikoff CDU/CSU 01.02.91 Weißgerber SPD 01.02.91 Frau Wieczorek-Zeul SPD 01.02.91 Wissmann CDU/CSU 01.02.91 Frau Wollenberger Bündnis 01.02.91 90/GRÜNE Wonneberger CDU/CSU 01.02.91 Zierer CDU/CSU 01.02.91 * Anlage 2 Amtliche Mitteilung Die Fraktion der SPD hat mit Schreiben vom 22. Januar 1991 mitgeteilt, daß sie ihren Antrag Für eine friedliche Lösung des Golfkonflikts - Drucksache 12/10 - zurückzieht.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. h.c. Wolfgang Thierse


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Laufs, ich will gerne zugeben, daß ich noch nicht so lange bürgerlicher Demokrat bin wie Sie, sondern halt ein schlichter DDR-Bürger. Aber ich habe immer gedacht, daß zu den großen Werten der Demokratie gehört, daß die Bürger — sie sind ja nicht alle im Parlament — das unmittelbare Recht haben sollten, ihre Meinung zu äußern.

    (Beifall im ganzen Hause — Dr. Laufs [CDU/ CSU]: Das wird überhaupt nicht bestritten, wird von mir nicht bestritten!)

    Herr Gerster hat es etwas schärfer gesagt. Er nennt — und das finde ich eher schlimm — die Artikulation einer von seiner Meinung abweichenden Meinung Mißbrauch. Das, finde ich, ist schlimm.

    (Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Meine Damen und Herren, seit dem 3. Oktober 1990, dem Tag der Herstellung der deutschen Einheit, sind erst knapp vier Monate vergangen. Aber mir kommt es so vor, als sei dieses geschichtliche Datum viel weiter entfernt. Viele Hoffnungen und viele Wünsche hat es gegeben. Viele Hoffnungen und viele Wünsche sind enttäuscht und guter Wille ist mißbraucht worden. Ich rede noch nicht von der niederdrückenden Fülle der Probleme. Ich rede zunächst von bürokratischen Lösungen, von der Sprache der



    Thierse
    Technokraten und Lehrmeister und der Effizienz der Wahlkampfstrategen. Mich bewegt dabei nicht Neid auf wohlfeile Zwischenergebnisse, sondern Trauer: Trauer um die spirituelle Substanz der Politik, wie das Max Frisch einmal genannt hat. Damit hat er nicht billiges Pathos gemeint. Er hat gesagt, wenn diese Substanz fehle, bleibt „Politik als Fortsetzung des Geschäfts mit anderen Mitteln: ein gewisser Wohlstand für die meisten als Köder zum Verzicht auf Selbstbestimmung, die Verkümmerung unserer Humanität in Komforthörigkeit" .
    Ich rede von Zeichen verweigerter Solidarität, von Engherzigkeit und Kleinkariertheit. Ich rede zum Beispiel vom erfolgreichen Erpressungsversuch der westdeutschen Pharmaindustrie, von der Verweigerung eines Solidaritätsbeitrags, etwa durch den Deutschen Beamtenbund, der natürlich und naheliegenderweise jedes „einseitige Sonderopfer", wie es dann heißt, ablehnt. Ich rede vom Verteilungskonflikt zwischen den alten und den neuen Bundesländern und — ja — auch vom Regierungsprogramm. Ich sehe im Westen nicht sehr viel Bereitschaft zu wirksamem Verzicht. Aber ich weiß doch: Solidarität ist nicht nur ein pathetisches Gefühl, sondern etwas handfest Bitteres. Muß man sie aber deshalb wie ein Finanzbuchhalter lesen, als eine Zahl mit irgendwelchen Nullen, und, wenn man solidarisch und zugleich clever ist, mit eher weniger Nullen?
    Robert Leicht schrieb in der „Zeit", es sei beklemmend zu sehen, wie wenig sich die Bonner Routine durch den Vorgang der Einigung verändert habe. Die Prioritätenliste habe sich in nichts verschoben und sei folglich falsch, ja politisch pervers geworden. Keiner frage, so Leicht, was in den fünf neuen Ländern zunächst geschehen müsse, und was danach für unsere hergebrachten Pläne übrigbleibe. Statt dessen heiße es: erst wir im Westen, dann die im Osten.

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

    Ich rede von der Debatte über die sogenannten Kosten der Einheit. Bei dieser Debatte tragen die CDU/ CSU und die FDP keineswegs allein die Verantwortung für Mißklänge.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Aber für das Ergebnis, das wir heute sehen, tragen Sie die Verantwortung allein. Am Anfang stand die Unfähigkeit und die Weigerung, den Bürgerinnen und Bürgern noch vor ihrer Wahlentscheidung mitzuteilen, was auf uns alle zukommt.

    (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Nein, das stimmt nicht!)

    Dabei ist der Eindruck entstanden, als ob diese Kosten niemand tragen wolle.

    (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Das stimmt auch nicht!)

    Der Eindruck ist hoffentlich falsch. Trotzdem mündete er in die Versicherung, erstens, mit der Einheit werde es niemandem schlechter gehen, und zweitens, es gebe keinen Bedarf für Steuererhöhungen.

    (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Das ist nicht wahr!)

    Richtig wäre gewesen, den Menschen klar zu sagen, daß die Bundesrepublik jetzt ein neuer Staat mit neuen, bisher ungewohnten Aufgaben ist. Ein solcher Appell an die Solidarität der mündigen Bürger in Ost und West wäre mit Sicherheit verstanden worden.

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

    Statt dessen stehen wir vor der absurden und beschämenden Situation, daß der Finanzminister und der Kanzler sagen, es werde auf keinen Fall Steuererhöhungen für die Einheit, also für die Bewältigung existentieller Probleme eines guten Drittels der Menschen in unserem Lande geben, aber für die Finanzierung des Krieges am Golf sind Steuererhöhungen vorgesehen. Was glauben Sie, wie die Menschen im östlichen Teil Deutschlands darauf reagieren werden? Darf ich Ihnen sagen, daß mich persönlich dieser Vorgang entsetzt?

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

    Seit über einem Jahr lehnt die Bundesregierung Steuererhöhungen für die Aufgaben der deutschen Einigung ab, und jetzt, ganz schnell, so schnell, als hätte man nur auf eine Gelegenheit gewartet, sollen Steuererhöhungen möglich und notwendig sein. Für das friedliche Werk der deutschen Einheit waren sie ein Tabu, für einen Krieg dagegen ist man sofort dazu entschlossen.

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE — Zurufe von der CDU/CSU)

    Im Osten Deutschlands sind die Folgen des letzten furchtbaren Krieges noch nicht überwunden bzw. ist deren Überwindung noch zu finanzieren. Da sollen wir der Finanzierung eines Krieges nebenan zujubeln!

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: Für den Frieden! — Zurufe von der FDP)

    „Wir sind schnell dabei, Steuern zu erhöhen, um den Krieg finanzieren zu können. Wir finanzieren den Tod, anstatt daß wir das Leben fördern."

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE — Zuruf von der CDU/CSU: Wir finanzieren die Freiheit der Welt!)

    Das war ein Zitat. Mit diesen Worten kritisierte im Frankfurter Kaiserdom in der vergangenen Woche der Bischof von Limburg, Franz Kamphaus, die Ankündigung der Bundesregierung. Ich kann ihm nur aus vollem Herzen zustimmen.

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

    Es ist eine bittere, sehr bittere Konsequenz der deutschen Einheit, die erst durch eine friedliche Revolution möglich wurde, daß wir, die friedlich Hinzugekommenen, an einem Krieg beteiligt werden.

    (Geis [CDU/CSU]: Das ist doch nicht beteiligt, übertreiben Sie doch nicht!)




    Thierse
    — Ich bleibe dabei. Ich halte das für eine Art von Beteiligung.

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

    Ich bleibe dabei: Gerade jetzt, wo der Krieg ein unentrinnbares Faktum ist, dürfen wir uns nicht der notwendigerweise alternativlosen Unlogik des Krieges unterwerfen. Die deutsche Geschichte und erst recht die Erfolgsgeschichte der Entspannungspolitik und des Herbstes 1989 verpflichten nicht zum Mitmachen, sondern zu entschlossener Friedfertigkeit.

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

    Das bedeutet nicht Drückebergerei. Das bedeutet nicht, sich herauszuhalten, sondern meint die Verpflichtung zu deutschen Beiträgen zur politischen Konfliktlösung, zu immer neuen Versuchen zur Deeskalation des Konflikts, nicht zur Teilnahme an militärischer Eskalation.

    (Beifall bei der SPD)

    Diese meine Haltung schließt folglich ein entschiedenes Ja zur Unterstützung der Verteidigungsfähigkeit Israels ein. Gerade deshalb, weil ich sehr gut verstehe, daß die Israelis nie mehr Opfer sein wollen, bitte ich um Verständnis dafür, daß Deutsche — vielleicht nicht alle — nie mehr Täter sein wollen. Ich jedenfalls setze Regierungsfähigkeit, Politikfähigkeit, Handlungsfähigkeit nicht mit Bereitschaft zum Kriege gleich.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE])

    Meine Damen und Herren, ich darf noch einmal Robert Leicht zitieren, wörtlich: „Bonn stellt der vormaligen DDR den Rechts- und Ordnungsrahmen hin. Jetzt sollen sich ihre Bürger gefälligst damit zurechtfinden, und Geld gibt es gerade so viel, daß es uns nicht richtig juckt und dort nicht richtig zu Aufständen führt" — eine, wie ich finde, sarkastische, aber zutreffende Beschreibung des Geistes, der Koalitionsvereinbarung und Regierungserklärung bestimmt.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE])

    Geschichtlicher Atem jedenfalls durchweht sie nicht mehr, nur noch ein bedrückendes, dumpfes Bonner Lüftchen ist zu verspüren.

    (Geis [CDU/CSU]: Ziemlich viel Polemik, was Sie jetzt bringen!)

    Die Chance eines deutschen Neuanfangs in Solidarität wird vertan durch erschreckende Konzeptionslosigkeit, durch Kleinlichkeit, durch unverantwortliche Verharmlosung. Dabei kann die Situation in der ehemaligen DDR, in den neuen Ländern, nicht dramatisch genug geschildert werden. Es geht allerdings nicht mehr um die Schuldfrage. Wir sind uns einig, daß es das SED-Regime war, das uns dieses schwere Erbe hinterlassen hat. Aber das Abtragen dieses Erbes, die Lösung der Aufgaben liegt jetzt in unserer gemeinsamen Verantwortung, und dies muß damit beginnen, daß wir den dramatischen Ernst der Lage wahrzunehmen bereit sind.
    Dazu gehört, daß wir die Tatsache nicht verdrängen, daß die willkommene staatliche Einheit mit einer sich verschärfenden ökonomischen und sozialen Spaltung Deutschlands verbunden ist.

    (Geis [CDU/CSU]: Die wir überwinden wollen, die wir aber nicht durch solches Gerede überwinden!)

    Diese bestimmt die Alltagserfahrung im Osten Deutschlands, und davon will ich reden.

    (Geis [CDU/CSU]: Durch solche Reden können wir diese Spaltung nicht überwinden! — Gegenrufe von der SPD)

    — Entschuldigen Sie, ich reagiere so scharf, weil sowohl in der Regierungserklärung von Helmut Kohl als auch in der Koalitionsvereinbarung wie in den Reden der CDU/CSU-Vertreter nicht vom Ernst dieser Lage die Rede war, sondern nur in beschönigenden, verharmlosenden Worten — —(Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/
    GRÜNE — Geis [CDU/CSU]: Dann haben
    Sie nicht zugehört! Sie verdrehen die Tatsachen, Sie machen hier billige Polemik! —
    Duve [SPD]: Haben Sie das gestern bei Bie-
    denkopf auch gerufen?)
    — Ich kann das ganz kurz machen und an das anschließen, was Herr Biedenkopf und Herr Kühbacher gestern gesagt haben, auf unterschiedliche, aber sehr beredte Weise. Daß ich etwas schärfer rede, werden Sie mir vielleicht abnehmen. Das ist keine Polemik gegen Biedenkopf und Kühbacher, sondern Respekt. Ich bin ein gelernter DDR-Bürger, ich lebe 40 Jahre da, und ich weiß, was ich hierher mitbringe. Ich sehe es als meine Pflicht an, Ihnen auch zu zeigen, wie schlimm das ist, was wir mitbringen.

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

    Nach den gestrigen Reden reicht es, die Stichworte zu nennen und hinzuweisen auf den Zusammenbruch der Wirtschaft in Ost-Deutschland, auf die rasant zunehmende Arbeitslosigkeit, auf die existentiellen Finanzprobleme der Länder und Gemeinden und auf die Tatsache, daß durch Beschlüsse der Bundesregierungen die Lebenshaltungskosten im Osten erheblich schneller steigen werden als Löhne und Gehälter.
    Den Subventionsabbau will ich nennen, um wenigstens an einem Beispiel deutlich zu machen, was die Menschen unmittelbar berührt. Der Subventionsabbau betrifft insbesondere die Bereiche Energie, Wohnungswesen, Verkehr und Wasserwirtschaft. Für den Bürger kommt es dabei zu erheblichen Preissteigerungen. Zum Beispiel kommt es zu einer Verdreifachung bei elektrischer Haushaltsenergie, zu einer Verdreifachung bis Vervierfachung bei Heizgas, zu einer Vervierfachung der Mietpreise und zu fünfzigprozentigen Steigerungen der Preise im Personenverkehr.

    (Geis [CDU/CSU]: Sie vergessen das Wohngeld! — Lachen und Gegenrufe bei der SPD)

    — Das Wohngeld reicht nicht aus, dieses auszugleichen.



    Thierse
    Es kommt zu erheblichen Verteuerungen im Nahverkehr. Ich könnte Ihnen das — ich habe jetzt nicht genug Zeit — zuschicken. Ich habe hier Modellrechnungen, was das für ein Rentnerehepaar bedeutet, was das für einen Durchschnittsverdiener, für eine normale Familie bedeutet. Sie werden in diesem Jahr erhebliche Einbußen in ihren Lebensmöglichkeiten erleiden.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Der Lebensstandard sinkt doch nicht! Das ist doch nicht wahr!)

    Ich breche hier mit dem Katalog ab.
    Ich will nur auf die Wirkung verweisen: Die Ost-West-Wanderung hält unvermindert an. Wir wissen nicht genau, wie viele Tausende wöchentlich, monatlich die ehemalige DDR verlassen. Aber wir wissen, daß die Zahl der amtlich festgestellten Wahlberechtigten vom 18. März bis zum 2. Dezember 1990 um 1,1 Millionen abgenommen hat. Ich glaube nicht, daß in den wenigen Monaten so viele gestorben und so wenige 18 Jahre alt geworden sind.

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

    Die Mehrheit aber ist geblieben. Diese Menschen wollen es noch immer versuchen. Sie harren aus in Erwartung einer Chance, sich sinnvoll einzusetzen und an dem versprochenen wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt mitzuarbeiten. Aber es fehlen bisher ausreichende Perspektiven und Möglichkeiten. Die Zeit der Ankündigungen und des geschichtsbesessenen Pathos muß vorbei sein. Es geht jetzt um deutliche Zeichen der Ermutigung. Es bedarf konkreter Maßnahmen, es bedarf praktischer Solidarität. Wo immer Regierung und Koalition solche Schritte gehen, werden sie unsere Unterstützung erhalten.

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

    Es geht darum — und das sage ich zustimmend, wenn denn den Worten Taten folgen sollen —, Arbeitsplätze zu sichern und so schnell wie möglich neue zu schaffen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wir sind dabei!)

    Es geht darum, jetzt eine aktive Industrie- und Strukturpolitik zu entwickeln zur Rettung — so dramatisch muß man es nennen — des Industriestandorts östliches Deutschland.
    Ein solches Konzept, das ich bisher in der Koalitionsvereinbarung nicht erkenne, setzt voraus, daß verläßliche Rahmenbedingungen, also die Entwicklung der Infrastruktur, die Klärung der Eigentumsverhältnisse, die Überwindung der Verwaltungsdefizite, die Beseitigung der Umweltschäden, geschaffen und Investitionsanreize gewährt werden, die die Defizite der neuen Länder als Produktionsstandort spürbar ausgleichen.
    Ich erlaube mir hier eine Nebenbemerkung zur Treuhandanstalt: Ihre Aufgabe ist nach meinem Verständnis — deswegen haben wir sie eingerichtet — nicht nur Privatisierung, sondern auch und vor allem
    Sanierung. Wo Privatisierung der Sanierung dient, ist es gut; aber das ist wahrhaftig nicht immer der Fall.

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

    Ich stimme allen Vorschlägen zu — ich hoffe, sie werden verwirklicht — , die Hilfen zur Ingangsetzung einer demokratischen Verwaltung bei uns verwirklichen können. Ich fordere entschiedene finanzielle Maßnahmen zur Lebensfähigkeit der Länder und Kommunen. Das ist bisher nicht ausreichend.

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

    Ich will noch ein paar Sätze zum Bereich der politischen Kultur sagen: Hier ist eine Hilfe anderer Art durchaus gefordert. Einige Redner haben darauf hingewiesen. Ich kann nur sagen: Ihr Wort in Gottes Ohr. Es geht hier um den Versuch, daß wir ehemaligen DDR-Bürger, die, wie Sie ja wissen, wenige ökonomische und soziale Gründe haben, uns als Gleichberechtigte zu erfahren und zu empfinden, im Bereich der politischen Kultur eine wirkliche Chance haben, Gleichberechtigte in diesem gemeinsamen Deutschland zu sein. Dazu gehört für mich, daß wir nicht von unserer Vergangenheit enteignet werden. Ich empfinde die Attacken auf die Behörde von Jochen Gauck als einen solchen Versuch. Es geht darum, daß wir miteinander mit ihrer Hilfe unsere eigene Vergangenheit aufarbeiten können.
    Es geht darum, daß wir in einer wirklichen Verfassungsdiskussion — nicht, was Sie zugestanden haben, Herr Laufs, oder was der Herr Bundeskanzler zugestanden hat; ein paar kosmetische Änderungen hält er schon für möglich — die Chance haben, unsere negativen und positiven Erfahrungen von 40 Jahren Diktatur und anderthalb Jahre demokratischem Aufbruch einzubringen, zu artikulieren. Wenn man uns sagt, es könne ein paar kleine kosmetische Änderungen geben, dann haben wir diese Chance nicht.

    (Beifall bei der SPD, beim Bündnis 90/ GRÜNE und bei der PDS/Linke Liste — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wo sind denn Ihre Vorschläge? Werden Sie mal konkret, bitte!)

    — Wir haben Vorschläge gemacht.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben 40 Jahre gute Erfahrungen gemacht!)

    — Ich habe 40 Jahre negative Erfahrungen.

    (Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Wir haben 40 Jahre positive Erfahrungen gemacht!)

    — Ja. Ja, so ist es. So treten Sie uns auch gegenüber.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Es geht um praktische Solidarität, es geht darum, die soziale und psychische Befindlichkeit unserer neuen Mitbürger zu erkennen und anzuerkennen. Es muß endlich durch Taten — nicht mehr nur durch Versprechungen — der Teufelskreis durchbrochen werden, in dem die Menschen im östlichen Deutschland irrelaufen zwischen übergroßer Hoffnung und Enttäu-



    Thierse
    schung, zwischen entschlossenem Aktivismus und lähmender Resignation. Es gibt notwendige Verluste. Die meisten von ihnen erleben wir mit Erleichterung. Manche ertragen wir aus Einsicht mit zusammengebissenen Zähnen.
    Aber es gibt auch Verluste, die Trauer, Irritation und Verzweiflung hervorrufen. Die DDR war neben allem, was in den Mülleimer der Geschichte gehört
    — ich weiß davon genügend Beispiele — , auch ein Geflecht menschlicher Beziehungen, ein System von Alltagsverhalten und Alltagsverhältnissen, in denen wir uns zurechtgefunden und als Menschen unsere
    — gewiß problematische — Identität gefunden haben.
    Der jähe Wechsel der jetzt geforderten Umstellungs- und Lernprozesse überfordert viele. Deshalb und angesichts der vorhin geschilderten sozialen und ökonomischen Erfahrungen muß jetzt eine konkrete Perspektive für die wirtschaftliche, soziale, kulturelle Entwicklung im Osten Deutschlands eröffnet werden. Wir verlangen eine Politik, die von dem Grundsatz getragen wird: erst die im Osten Deutschlands, dann wir im Westen Deutschlands. Eine wirkliche ökonomische und soziale Umverteilung ist notwendig. Kleiner geht es nicht, wenn die Einheit Deutschlands wirklich hergestellt werden soll!

    (Beifall bei der SPD)

    Egon Bahr hat kurz nach dem 3. Oktober gesagt: „Jetzt haben wir die Probleme, die wir uns immer gewünscht haben." Gewiß.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Egon SonderBahr!)

    Aber die Art, wie sie angegangen werden, entscheidet darüber, ob die Mehrheit der Menschen sie als wünschbare oder als lästige, ja, als verfluchte Probleme erfahren wird.
    Angesichts dieser Koalition und angesichts dessen, was sie vereinbart hat und wie sie es getan hat, fällt mir nur ein Satz aus Schillers „Räuber" ein:
    Ein großer Moment findet ein kleines Geschlecht.
    Die Chance eines Neuanfangs in Solidarität, fürchte ich, könnte kleinlich vertan werden.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort zu einer Kurzintervention hat der Kollege Dr. Geißler.

(Abg. Dr. Geißler geht zum Rednerpult — Zurufe — Dr. Geißler [CDU/CSU]: Ich kann es doch auch von hier aus machen? Oder?)

— In der Regel machen wir es vom Platz aus.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Heiner Geißler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich habe die Ausführungen von Herrn Thierse zur politischen Kultur sehr wohl zur Kenntnis genommen. Aber ich finde, der jetzt wiederholte und gestern von Ihrem Fraktionsvorsitzenden in der Rede selber doch modifizierte Vorwurf der Kriegssteuer ist schwer mit politischer Kultur zu vereinbaren.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Anstrengungen, die wir gemeinsam unternehmen, um die Verbündeten zu unterstützen, betrachte ich als einen Beitrag, den Krieg im Golf so rasch wie möglich beendigen zu können, und infolgedessen als das Gegenteil von dem, was Sie gesagt haben.
    Ich möchte Sie herzlich bitten, einmal mit uns darüber zu diskutieren, ob dieser ganzen etwas verwirrenden Diskussion nicht eine unterschiedliche Bewertung der Wertordnungen zugrunde liegt, von denen wir ausgehen.

    (Zuruf von der SPD: Ja! Nur! Natürlich!)

    Ich habe den Eindruck, daß offenbar bei einigen auch in unserem Land die Auffassung vorhanden ist, daß der Friede unter allen Umständen ein oberster Grundwert sei.

    (Beifall bei der PDS/Linke Liste und bei Abgeordneten der SPD)

    Ich bin der Meinung, daß dies wohl nicht richtig sein kann; denn wenn dies richtig wäre, dann hätte ja wohl Adolf Hitler,

    (Zuruf von der SPD)

    ohne Gegenwehr überhaupt finden zu dürfen, sein Unrechtsregime auf der ganzen Welt ausbreiten können.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Wartenberg [Berlin] [SPD]: Geißler bleibt Geißler!)

    Ich bin der Meinung, daß richtiger ist — was im übrigen auch die katholische Kirche und die evangelische Kirche vertreten — , daß der Friede die Realisierung der Grundwerte voraussetzt, daß wahrer Friede nur dort gegeben ist, wo Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität vorhanden sind, und daß in Wahrheit erst diejenigen für den Frieden eintreten, die mit ihren Beiträgen dafür sorgen wollen, daß sich Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität in einer bestimmten Region durchsetzen, z. B. dadurch, daß wir dafür sorgen, daß Israel frei bleibt.

    (Vorsitz: Vizepräsident Klein)

    Die Freiheit und die Demokratie von Israel wären auf das schwerste gefährdet, wenn wir in der Bundesrepublik Deutschland uns dieser solidarischen Verpflichtung entzögen. Deswegen ist unser Beitrag in Wahrheit ein Beitrag für den Frieden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Weisskirchen [Wiesloch] [SPD]: Das war nichts! — Weitere Zurufe von der SPD)