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ID1200619400

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    Plenarprotokoll 12/6 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 6. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 Inhalt: Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 95 A Rücknahme eines in der 5. Sitzung erteilten Ordnungsrufs 95 B Tagesordnungspunkt 1: Aussprache zur Erklärung der Bundesregierung Dr. Vogel SPD 95 B Dr. Dregger CDU/CSU 107 B Dr. Schmude SPD 112C Dr. Solms FDP 113 B Conradi SPD 116D Dr. Modrow PDS/Linke Liste 118B Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE . . . 121D Dr. Waigel, Bundesminister BMF . . . . 124 C Dr. Graf Lambsdorff FDP . . . . 126B, 168C Frau Matthäus-Maier SPD . . . . 129D, 154B Dr. Faltlhauser CDU/CSU 133B, C Genscher, Bundesminister AA 136B Gansel SPD 139C, 162C Dr. Graf Lambsdorff FDP 169A, 174B Dr. Biedenkopf, Ministerpräsident des Landes Sachsen 145 B Kühbacher, Minister des Landes Brandenburg 148B, 171C Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU . . . 150D Dr. Kohl, Bundeskanzler 152 C Dr. Krause (Börgerende) CDU/CSU 154A, 174B Möllemann, Bundesminister BMWi . . . 154 C Dr. Jens SPD 156C Gansel SPD 157B Rühe CDU/CSU 158D Genscher FDP 163A Möllemann FDP 163B, 166D Frau Lederer PDS/Linke Liste 163 C Roth SPD 165C, 169B Dr. Krause, Bundesminister BMV . . . 169B Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE . 172A, 177A Glos CDU/CSU 174C, 177B Walther SPD 176A, 180D Roth SPD 176D Dr. Briefs PDS/Linke Liste 177 C Dr. Weng (Gerlingen) FDP 178D Nitsch CDU/CSU 181 B Dr. Seifert PDS/Linke Liste 183 C Schäfer (Offenburg) SPD 184B Gibtner CDU/CSU 187B Baum FDP 188D Frau Braband PDS/Linke Liste 190D Dr. Töpfer, Bundesminister BMU . . . 191B Schäfer (Offenburg) SPD 193A Dr. Feige Bündnis 90/GRÜNE 193D Dr. Blüm, Bundesminister BMA 195C Dreßler SPD 198B II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 Cronenberg (Arnsberg) FDP 204 B Dreßler SPD 204C, 209A, 220C Dr. Schumann (Kroppenstedt) PDS/Linke Liste 206 C Frau Rönsch, Bundesminister BMFS . . 207 B Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE . . . 208A, B Frau von Renesse SPD 208B, C Schwarz CDU/CSU 209 D Frau Schenk Bündnis 90/GRÜNE . . . 210C Frau Dr. Merkel CDU/CSU 212 C Frau Dr. Höll PDS/Linke Liste 213A Frau Bläss PDS/Linke Liste 213A Frau Becker-Inglau SPD 214B Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Bundesminister BMBau 217B Reschke SPD 218B Conradi SPD 219A Scharrenbroich CDU/CSU 219D Dr. Ortleb, Bundesminister BMBW . . . 222D Kuhlwein SPD 223 C Nächste Sitzung 224 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 225* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 95 6. Sitzung Bonn, den 31. Januar 1991 Beginn: 9.01 Uhr
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    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Antretter SPD 31. 01. 91 * Bindig SPD 31. 01. 91 * Frau Blunck SPD 31. 01. 91 * Böhm (Melsungen) CDU/CSU 31. 01. 91 * Frau Brudlewsky CDU/CSU 31. 01. 91 Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 31. 01. 91 * Buwitt CDU/CSU 31.01.91 Erler SPD 31.01.91 Frau Eymer CDU/CSU 31. 01. 91 Dr. Feldmann FDP 31. 01. 91 * Frau Fischer (Unna) CDU/CSU 31. 01. 91 * Francke (Hamburg) CDU/CSU 31. 01. 91 Gattermann FDP 31.01.91 Dr. Gysi PDS 31. 01. 91 Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 31. 01. 91 Dr. Holtz SPD 31. 01. 91 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Kittelmann CDU/CSU 31. 01. 91 * Klinkert CDU/CSU 31.01.91 Dr. Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 31. 01. 91 Matschie SPD 31.01.91 Dr. Müller CDU/CSU 31. 01. 91 * Dr. Neuling CDU/CSU 31. 01. 91 Pfuhl SPD 31.01.91 Reddemann CDU/CSU 31. 01. 91 * Repnik CDU/CSU 31.01.91 Dr. Schäuble CDU/CSU 31. 01. 91 Dr. Scheer SPD 31. 01. 91 * Schmidbauer CDU/CSU 31.01.91 von Schmude CDU/CSU 31. 01. 91 * Frau Simm SPD 31. 01. 91 Dr. Soell SPD 31. 01. 91 * Dr. Sperling SPD 31. 01. 91 Spilker CDU/CSU 31.01.91 Steiner SPD 31. 01. 91 * Frau Wieczorek-Zeul SPD 31. 01. 91 Frau Wollenberger Bündnis 31. 01. 91 90/GRÜNE Wonneberger CDU/CSU 31.01.91 Zierer CDU/CSU 31. 01. 91 *
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    Rede von Dr. Norbert Blüm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich habe hier eine wohlvorbereitete Rede, gut formuliert, mit viel Mühe, 27 Seiten lang.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Darauf steht aber „SPD" !)

    Das ist die Rede meines sozialdemokratischen Freundes Dreßler, die er gleich als Antwort auf meine Rede halten wird.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich weiß zwar noch nicht, was ich sagen werde. Aber er weiß schon die Antwort, wie Sie sehen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU — Dreßler [SPD]: Das hätten Sie gern!)

    Im übrigen ist das nichts Neues. Das ist die alte Dreßlersche sozialpolitische Gespensterbahn, mit der er sozialpolitische Kleinkinder in Schrecken versetzt.

    (Zuruf von der SPD: Zur Sache, Schätzchen! )

    Liebe Kolleginnen und Kollegen, wollen wir eigentlich so weiterdiskutieren? Ich finde, daß wir im Januar 1991 anders diskutieren müssen als in den zurückliegenden Jahren. Im Grunde sind das alles die westdeutschen Spielplätze der Vergangenheit. Ich hoffe, es ist jedem klar, daß wir die deutsche Einheit zu bewältigen haben. Ein Teil der sozialpolitischen Probleme sind, gemessen an den Herausforderungen, die auf uns zukommen, geradezu Sandkastenprobleme gegenüber dem, was die eigentliche Herausforderung ist, nämlich deutsche Einheit auch sozial herzustellen, der nationalen Einheit eine soziale hinzuzufügen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich bekenne: Die soziale Einheit ist kein Ergebnis, sondern ein Prozeß. Einigung heißt das Thema. Die größte Herausforderung, die ich sehe, ist, Arbeit für alle zu schaffen, im Westen wie im Osten, zu verhindern, daß in Deutschland ein Hinterhaus entsteht, eine neue Zwei-Klassen-Gesellschaft, Wohlstand im Westen und Elend im Osten.

    (Frau Dr. Enkelmann [PDS/Linke Liste]: Die ist doch schon da! — Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]: Das haben Sie doch im Westen auch nicht geschafft!)




    Bundesminister Dr. Blüm
    — Von der SED würde ich das nicht sagen. Wenn Sie sehen, welches Elend Sie in der DDR hergestellt haben, würde ich Sie nicht als Schulmeister des deutschen Sozialstaats akzeptieren.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Briefs [PDS/Linke Liste]: Fragen Sie doch die Block-CDU!)

    So erfolgreich scheint die sozialistische Politik nicht gewesen zu sein. Sonst müßten wir jetzt nicht das Gefälle einebnen. Es wird ja niemand bestreiten, daß es ein Gefälle gibt.

    (Weitere Zurufe von der PDS/Linke Liste)

    Wir wären schon sehr weit, wenn in den Beitrittsländern jene sozialen Verhältnisse bestünden, die wir in Westdeutschland erreicht haben, die ich keineswegs als Paradies darstelle. Natürlich gibt es hier viele Probleme, auch Arbeitslosigkeit. Aber das erste und wichtigste Problem ist, ausgewogene Lebensverhältnisse in allen Teilen Deutschlands herzustellen.

    (Gilges [SPD]: Wie denn? Kommen Sie doch mal zur Sache!)

    — Wie denn? Durch eine handfeste Arbeitsmarktpolitik. 130 000 Bürger in den neuen Bundesländern waren im letzten Jahr in Qualifikationsmaßnahmen. Wir wollen diese Zahl auf 300 000 erhöhen und damit mehr als verdoppeln. Wir sollten darüber streiten, wie wir das schaffen und wie wir die Anstrengungen aller verstärken. Das schafft nicht die Bundesregierung allein. Das wäre sonst ein autoritäres Verständnis. Das schaffen wir nur in einem großen Bündnis aller Gutwilligen. Dazu lade ich ausdrücklich ein: die Sozialpartner, die Betriebe. Die Sozialpolitik allein kann es gar nicht schaffen. Wir brauchen die Wirtschaftspolitik. Wir brauchen die Unternehmer. Wir brauchen

    (Schreiner [SPD]: Vor allem eine bessere Regierung!)

    eine Qualifikationspolitik, die auch in Beschäftigung hinüberführt. Wir brauchen eine Politik, die das Konzept der Kurzarbeit besser mit Qualifikation verbindet, als das bisher gelungen ist. Meine Damen und Herren, ich stehe hier doch nicht nur mit Erfolgsmeldungen. Das Instrument Kurzarbeit hat einen arbeitsmarktpolitischen Dammbruch verhindert. Ich verteidige das Instrument. Es muß jetzt darum gehen, dieses Instrument mit Qualifikation besser zu verbinden, als uns das bisher gelungen ist.
    Die deutsche Einheit ist nicht seit Jahren vorhanden, sondern seit dem 3. Oktober. Natürlich brauchen wir Zeit. Ich mahne allerdings hier nicht zum Ausruhen, sondern zu verstärktem Tempo. Gerade dabei werden wir die Tarifpartner brauchen.
    Bleiben wir bei dem Thema Kurzarbeit.

    (Zuruf von der SPD: Null!)

    — Null, auch dieses Thema nehme ich auf. Machen Sie die Kurzarbeit nicht schlechter, als sie ist. 16 % der Kurzarbeiter sind auf Null gesetzt. 84 % sind dies keineswegs. Zwei Drittel der Kurzarbeiter haben einen Arbeitsausfall, der unter der Hälfte liegt. Ich verteidige dieses Instrument. Wenn wir es nicht hätten, hätten wir wahrscheinlich zwei Millionen Arbeitslose mehr. Wollen Sie eine solche Politik der Hoffnungslosigkeit mit der deutschen Einheit verbinden?

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Insofern war dieses Instrument doch richtig.
    Ich sage aber nochmals: Man verbindet es besser mit Qualifizierung. Deshalb müssen wir darüber nachdenken, was wir besser machen können. Ist es sinnvoll, daß wir ausgerechnet die Kurzarbeit tarifpolitisch aufstocken und das Kurzarbeitergeld in die Nähe des letzten Nettoverdienstes bringen? Ich gönne es ja jedem. Aber wäre es nicht sehr viel besser, den Anreiz auf die Qualifikation zu legen,

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    sozusagen die Qualifikation stärker zu honorieren? Ich glaube, daß man Anreize braucht, daß man Unterstützung braucht, Qualifikation zu mobilisieren.
    Auch das Instrument der Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen funktioniert nicht so, wie wir es uns wünschen. Lassen Sie uns darüber nachdenken, wie wir es besser machen können. Am Geld liegt es nicht. Das können Sie daran sehen, daß die bereitgestellten Gelder nicht voll abgeflossen sind. Also denken wir darüber nach: Was können wir besser machen? Wir brauchen ein großes Bündnis von Menschen mit Ideen, mit Initiativen. Wir brauchen in den Kommunen eine neue Initiative für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Mit Geld allein — ich wiederhole es — schaffen wir es nicht. Denn es ist mehr Geld vorhanden, als genutzt wird.

    (Gilges [SPD]: Das habt ihr doch kaputtgemacht!)

    Ich sehe große Möglichkeiten gerade im Zusammenhang mit dem Thema, das hier besprochen worden ist: mit der Umwelt. Könnten wir nicht die Altlastensanierung stärker mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen koppeln? Könnten wir nicht im Bereich der Verkehrspolitik Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einsetzen?

    (Schreiner [SPD]: Ja dann machen Sie es doch! Sie sind doch an der Regierung!)

    — Lieber Herr Schreiner, Sie haben ein merkwürdiges, offenbar stark autoritäres Verständnis von Regierung. Wir haben hier Gott sei Dank keine Planwirtschaft. Wir sind auf das Mittun der Kommunen und der Tarifpartner angewiesen. Wohin man kommt, wenn der Staat alles macht, haben die Sozialisten in der DDR vorgeführt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Stabilisieren Sie doch nicht jene Erwartungshaltung, unter der wir gemeinsam leiden: zu warten, bis der Gottvater Staat alles macht. Diesen Gottvater Staat gibt es nicht. Den gab es allzulange in den Köpfen der Menschen in der DDR, mit dem ganzen Desaster. Wir brauchen mehr Initiative und freie Solidarität auch in den Beitrittsländern.

    (Gilges [SPD]: Keinen Popanz aufbauen jetzt!)




    Bundesminister Dr. Blüm
    Dann gibt es das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit. Für die Langzeitarbeitslosen wollen wir unsere Bemühungen fortsetzen. Denn ich glaube, das ist auch hier im Westen der harte Kern der unauflösbaren Arbeitslosigkeit. Aber damit sollten wir uns nicht abfinden. Es sind auch stärker psychologische Hilfen notwendig.

    (Vorsitz: Vizepräsident Becker)

    Ein Arbeitnehmer, ob Frau oder Mann, der jahrelang keine Arbeit gefunden hat — vielleicht war er krank oder behindert — , hat sich in einer Gesellschaft eingerichtet, die ihn nicht fordert. Deshalb muß er geradezu an die Hand genommen werden. Die Gesellschaft muß ihm helfen, zurückzufinden. Das Programm für die Langzeitarbeitslosen war nicht ohne Erfolg. Wir haben 70 000 Langzeitarbeitslose weniger. Freuen Sie sich doch einmal mit mir darüber, daß durch dieses Programm 70 000 Langzeitarbeitslosen geholfen wurde und diese in die Arbeit zurückgefunden haben. Für jeden der 70 000 ist das ein Fortschritt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich halte mich nicht ganz an den Text von Dreßler, sondern nenne noch ein paar andere Themen.
    Rentenversicherung. Ich sehe die große Aufgabe im Bereich der Rentenversicherung darin, daß wir die im Einigungsvertrag vorgesehene rentenrechtliche Einheit zum 1. Januar 1992 herstellen. Das wird ganz besonders für viele Frauen, für Witwen wesentliche Verbesserungen bringen. Denn die Hinterbliebenen, gerade die Witwen, waren die durch das Rentenrecht in der ehemaligen DDR am meisten Benachteiligten.

    (Beifall des Abg. Cronenberg [Arnsberg] [FDP])

    Wir plädieren dafür, zusammen mit dieser Einheit auch den Finanzverbund zu schaffen, aus der Rentenversicherung Ost und West eine einzige Kasse zu machen. Das geschieht früher, als wir es ursprünglich einmal geplant haben. Aber Gott sei Dank ist der Prozeß der deutschen Einigung schneller abgelaufen, als wir alle es erwartet haben. Ich sage Gott sei Dank, denn wenn er langsamer abgelaufen wäre, hätten wir das Ziel gar nicht erreicht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Ich betrachte eine einheitliche Rentenkasse auch als Ausdruck der Solidarität. Wir sollten jetzt aufhören, in Kategorien wie Ost/West, ehemalige DDR, alte/neue Bundesländer zu denken. Wir sollten in Solidarität an einen Sozialstaat Deutschland denken.
    Die zweite Aufgabe wird sein, Sondersysteme — zum Teil mit Privilegien versehen — in die Rentenversicherung zu überführen. Lieber Kollege Dreßler, vermißt habe ich — —

    (Müntefering [SPD]: Lesen Sie doch einmal vor!)

    — Das macht er doch gleich selber. Aber wenn er
    damit einverstanden ist und wenn er mir seine Redezeit gibt, lese ich seine ganze Rede vor. Ich übernehme das, obwohl ich mich als Bauchredner für Dreßler eigentlich wenig eigne.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Eines habe ich vermißt: daß Sie in Ihrer Rede unseren gemeinsamen Erfolg — ich sage, gemeinsamen Erfolg — , den Rentenkonsens, hier vor der deutschen Öffentlichkeit verteidigen. Denn es kam nicht zu einem Finanzverbund Knappschaft/Rente. Ich gestehe, daß darüber heiß diskutiert wurde. Aber die Kollegen Günther, Seehofer, Cronenberg, Thomae und alle, die am Rentenkonsens mitgearbeitet haben, haben dieses unser gemeinsames Werk auch in der Koalition verteidigt, und das finde ich ganz wichtig. Wir haben Wort gehalten: Es kommt nicht zu einem großen Finanzmischmasch. Die Rentenfinanzen bleiben eigenständig und sicher, und das wollen wir auch in Zukunft verteidigen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Sie sehen, ich bin nicht nur auf Krach aus. Ich finde, es war eine große Anstrengung, diesen Rentenkonsens zu erreichen. Er hat auch Vertrauen geschaffen, und das sollten wir bei allem Streit auch in der Zukunft nicht gefährden. Denn wir machen Politik nicht nur für Parteien, sondern für die Menschen, und das Schlimmste, was passieren könnte, wäre, daß Rentenangst aufkommt.
    Nun wird der Kollege Dreßler, nicht ganz überraschend, auch zur Krankenversicherung sprechen. Die Zuständigkeit dafür habe ich an meine verehrte Kollegin abgegeben.

    (Zuruf von der SPD)

    — Das werden Sie gleich erleben, was er dazu sagt. Ich stelle fest: Ich übergebe die Krankenversicherung an meine Nachfolgerin in hervorragendem Zustand. Zum erstenmal sinken die Beiträge. 700 Krankenkassen haben die Beiträge gesenkt. 21 Millionen Beitragszahler zahlen weniger Beiträge.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

    Die Festbeträge, die Herr Dreßler gleich attackieren wird, bringen Ersparnisse bei den Versicherten: 945 Millionen DM weniger Ausgaben Dank der Festbeträge, die Herr Dreßler gleich attackieren wird. Lieber Kollege Dreßler, wenn Sie diesen Erfolg jemals erreicht hätten, würden Sie auf Ihrem eigenen Schreibtisch ein Bild von Dreßler stellen, eine Kerze davor und sich selber anbeten.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    So wie ich sie kenne, würde die AfA Prozessionen zu Ihnen machen.

    (Frau Schmidt [Nürnberg] [SPD]: Wir haben die Faschingsveranstaltungen abgesagt!)

    — Was ist daran Fasching, wenn wir der Pflege Bahn gebrochen haben, der Pflege zum erstenmal in der Krankenversicherung die Türen geöffnet und die Vorsorge ausgebaut haben? Ich bleibe dabei: Neben der deutschen Einheit als der herausragenden Aufgabe ist das große sozialpolitische Thema die Pflege.



    Bundesminister Dr. Blüm
    Da werden Sie den Norbert Blüm erst einmal kennenlernen. Denn das ist die große Herausforderung.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Das wird wieder nichts!)

    — Ich habe schon zwei Reformen gepackt, und warum soll ich die dritte nicht auch noch packen? Bei den ersten Reformen haben Sie auch gesagt, das würden wir nicht schaffen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Wo haben Sie sie denn hingepackt?)

    Das ist das große unerledigte Thema. Ich sehe hunderttausende von Pflegebedürftigen, die der Sozialstaat alleinläßt. Wir haben die ambulante Pflege weitgehend den Frauen zu Hause überlassen, und zum Dank dafür erwerben sie keine eigene Alterssicherung. Das kann nicht so bleiben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

    Wir brauchen eine neue Infrastruktur der Nachbarschaftspflege. Es kann nicht unsere Antwort sein, daß 70 % derjenigen, die in Pflegeheimen untergebracht sind, ihren Aufenthalt durch die Sozialhilfe bezahlen; das kann nicht die Antwort des Sozialstaates sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zurufe von der SPD)

    Es kann nicht sein, daß das alles Taschengeldbezieher werden, daß das die graue, nivellierte Taschengeldgesellschaft wird. Wir wollen eine Gesellschaft mit Herz. Deshalb lade ich Sie und alle ein, daß wir uns in dieser Legislaturperiode mit ganzer Kraft diesen Themen zuwenden:

    (Zuruf von der SPD: Aber ganz schnell!)

    deutsche Einheit, Sozialstaat Deutschland und Pflege!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Helmuth Becker
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Das Wort hat der Abgeordnete Dreßler.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Rudolf Dreßler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es gibt ja viele Mitglieder dieses Hauses, die in den letzten Jahren das Parlamentsverständnis des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung in seinen Reden haben anhören müssen.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Dürfen!)

    — Nein, nein, sie mußten. Wir mußten auch — wir sind ja pflichtbewußt. Sie mußten, weil Sie nun einmal dazugehören. Manchem bei Ihnen ballte sich die Faust in der Tasche.

    (Günther [Duisburg] [CDU/CSU]: Nein, wir haben gern zugehört! — Bohl [CDU/CSU]: Sie haben es nicht begriffen!)

    Aber geschenkt! Mir kommt es auf folgendes an: Wenn ein Bundesminister dieses Landes noch nicht einmal nach so vielen Jahren Tätigkeit begreift

    (Günther [Duisburg] [CDU/CSU]: Erfolgreicher Tätigkeit!)

    oder begreifen will, daß wir heute keine Büttenreden von Bundesministern debattieren,

    (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Widerspruch bei der CDU/CSU)

    sondern eine Regierungserklärung,

    (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Billiger geht es aber nicht mehr! — Bohl [CDU/CSU]: Dreh doch mal die Platte um!)

    daß es überhaupt nicht Aufgabe der Opposition sein kann, zu Arbeitsminister- oder anderen Ministereinlassungen hier Stellung zu nehmen, sondern sich mit der Regierungserklärung des Kanzlers auseinanderzusetzen, dann ist das zwar sein Problem; allerdings werden wir uns nicht von der Fährte locken lassen.
    Das zweite ist — das muß ich Ihnen nun wirklich sagen — :

    (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Sie sind aber ein rhetorischer Finsterling!)

    — Herr Geißler, sich mit den Inhalten dessen was hier gerade abgelaufen ist, sachlich auseinanderzusetzen, fällt schon deshalb schwer, weil da nichts drin war.

    (Beifall bei der SPD und der PDS/Linke Liste — Bohl [CDU/CSU]: Er hat ja nur auf Ihre Rede geantwortet!)

    Es mag ja sein, Herr Geißler, daß Sie die Gabe haben, einen sozialpolitischen Pudding an die Wand zu nageln. Mir ist das nicht gegeben.

    (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Herr Dreßler, lesen Sie besser Ihre Rede vor! Vielleicht wird es dann besser! — Günther [Duisburg] [CDU/CSU]: Sie nageln immer einen faulen Apfel an die Wand!)

    Wir gehen davon aus, daß es gute Tradition ist, daß zu Beginn einer jeden Legislaturperiode der Regierungschef vor dem Parlament die Grundlagen der von ihm beabsichtigten Politik darlegt. Dabei geht es naturgemäß weniger um die Erläuterung gesetzgeberischer Einzelprojekte, sondern um die Verdeutlichung der politischen Konzeption der, wenn Sie so wollen, Philosophie der Regierungspolitik.
    Die 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages ist die erste gesamtdeutsche. Wer wollte bestreiten, daß diese Ausgangslage besondere Anforderungen an uns alle stellt, an die Regierung wie an die Opposition, Anforderungen an unsere Gestaltungskraft, Phantasie und vor allem an unseren Willen, die deutsche Einigung nach besten Kräften über den staatsrechtlichen Rahmen hinaus für die Menschen auch gesellschaftspolitisch zu besiegeln?
    Die Regierungserklärung, die der Bundeskanzler vorgetragen hat, wird diesen Ansprüchen nicht annäherungsweise gerecht. Im Gegenteil, sie ist, bezogen auf diesen Sachverhalt, ein quälendes Dokument der politischen Konturlosigkeit und Konfusion.

    (Beifall des Abg. Gilges [SPD])

    Sie bestätigt für alle sichtbar, was die vorangegangenen Koalitionsverhandlungen befürchten ließen. Es steht nicht gut um die Qualität deutscher Regierungspolitik.

    (Beifall bei der SPD)




    Dreßler
    Meine Damen und Herren, es fehlt nicht nur an klaren inhaltlichen Linien, an Konzepten; in dieser Bundesregierung fehlt es auch an Köpfen, die Programm sein könnten. Das vierte Kabinett Kohl ist ein Kabinett des personalpolitischen Kleinmuts, ja teilweise der Belanglosigkeit, wie wir gerade vernehmen konnten.

    (Beifall bei der SPD)

    Ohnehin vermittelte das die Bildung der Bundesregierung begleitende öffentliche Spektakel den fatalen Eindruck, es gehe weniger um die Gewinnung politisch-fachlich qualifizierter Ressortschef, sondern um die Sicherung von Pfründen und die Befriedigung von Ansprüchen.

    (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist wie eure Fraktionsreform!)

    Das abstoßende Pöstchengeschachere in den Reihen der FDP lieferte dazu ebenso beredten Anschauungsunterricht wie die wundersame Vermehrung der Zahl der Parlamentarischen Staatssekretäre.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der FDP: Zum Thema! — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Wie bei euch mit den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden!)

    Meine Damen und Herren, hier galt offenkundig das Motto: „Die Regierung bedient sich selbst, die Zeche begleichen die Steuerzahler."

    (Beifall bei der SPD)

    Seit dem 4. Oktober 1982 hat sich die Zahl der Minister, Parlamentarischen und beamteten Staatssekretäre um 16 von 61 auf 77 erhöht.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Entsprechend ist die Qualität bei uns! — Lachen bei der SPD)

    Das sind 27 %. Anders ausgedrückt, je mehr Versorgungsposten, desto geringer die Qualität, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD)

    Das beeindruckendste Beispiel in der Liste dieser wundersamen Ämtervermehrung lieferte allerdings der Bundeskanzler mit seiner Entscheidung, das ehemalige Ministerium für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit — bisher schon ohne echte politische Kompetenz — auch noch dreizuteilen.

    (Dipl.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das haben wir heute doch schon dreimal gehört! Lassen Sie doch die Seiten 4 bis 11 weg!)

    Nun will ich die Flut von spöttischen und bösen Kommentaren, die dies in der Öffenlichkeit auslöste, nicht zitieren.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Warum nicht?)

    Gleichwohl erinnert mich diese Operation an die Erkenntnis, daß auch 3 x 0 null bleibt.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Jawohl! Deshalb lassen Sie die nächsten Seiten auch weg!)

    Man kann nämlich nur mit Beklemmung registrieren,
    in welcher Verfassung sich diese Koalition angesichts
    der schwierigen Aufgaben im Zuge der Ausgestaltung der deutschen Einheit und angesichts der düsteren Ereignisse am Golf und im Baltikum, die den weltpolitischen Horizont wieder verdunkeln, schon zu Beginn der Wahlperiode präsentiert. Gerade jetzt, wo — um eine Lieblingsvokabel des Kanzlers aufzugreifen — kraftvolle politische Führung angezeigt ist,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Hat er gezeigt! Ja!)

    wo Mut und Entschlossenheit gefordert sind, verliert sich diese Regierung in wohlfeilen Reden und übt sich in konzeptioneller Selbstvernebelung.
    Die deutsche Einheit auszugestalten heißt, einen gemeinsamen Sozialstaat Bundesrepublik Deutschland zu schaffen, heißt, das Wohlstandsgefälle zwischen West und Ost zu beseitigen.

    (Beifall bei der SPD)

    Meine Damen und Herren, ich mache Sie darauf aufmerksam — das ist den Damen und Herren der CDU/ CSU und FDP vielleicht noch gar nicht aufgefallen —, Sie werden in der Koalitionsvereinbarung das Wort Sozialunion nicht mehr finden. Nicht mehr finden!

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Auch nicht mehr Währungsunion! Schnee von gestern!)

    Ob diese Aufgabe gelingt, hängt entscheidend vom Stellenwert und vom Gewicht ab, das der Sozialpolitik im Konzept der verschiedenen Politikfelder zugemessen wird.

    (Beifall bei der SPD)

    Regierungserklärung und Koalitionsvereinbarungen verheißen dazu nichts Gutes. Sozialpolitik im weitesten Sinne heißt leben, arbeiten, wohnen. Diese existentiellen Problemfelder haben für die Regierung minderes Gewicht. Die Regierung verfolgt vielmehr die klassische konservative Strategie: Sozialpolitik wird zur Restgröße, wird zum Troubleshooter der Folgen einer konzeptionslosen Wirtschafts- und Finanzpolitik verbogen.

    (Beifall bei der SPD — Buh-Rufe bei der CDU/CSU — Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Wie heißt das auf Deutsch?)

    Ich sage Ihnen, ein derartiges Verständnis von Sozialpolitik ist für uns Sozialdemokraten unannehmbar. Wir wollen eine Sozialpolitik, die aktiv gestaltet.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf des Abg. Dr. Geißler [CDU/CSU])

    Wer nämlich wie auch Sie, Herr Geißler, es zuläßt, daß Sozialpolitik zur Restgröße verkommt, wer ihre Zuständigkeit auf die beschränkt, die im wirtschafts- und arbeitsmarktpolitischen Wettbewerb durch den Rost gefallen sind, wer den Empfängern von Sozialleistungen damit gleichsam politikamtlich ins Stammbuch schreibt „Ihr kommt nicht mehr mit" , der treibt keine solidarische Sozialpolitik; der setzt nicht auf den Sozialstaat, Herr Geißler; der setzt auf den Ellenbogenstaat. Und da macht die SPD auch nicht mit, Herr Geißler.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Geißler [CDU/ CSU]: Aber es haben mehr Arbeiter CDU gewählt als SPD!)




    Dreßler
    Auch nach eingehender Prüfung der Koalitionsvereinbarungen bleibt nur das folgende Fazit: Nachdem die Wahlen vorbei sind, kommt die Wahrheit ans Licht, Stück für Stück. Daß die Gestaltung der deutschen Einheit, die Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse nicht ohne finanzielle Belastungen bewältigt werden kann, wir Sozialdemokraten haben es gewußt und haben es auch gesagt. Nur, die Regierung hat so getan, als werde dies an den Menschen fast spurlos vorbeigehen.
    Erinnern wir uns: „Niemand wird es schlechter gehen und vielen besser. " So lautete das Motto des Bundeskanzlers.

    (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

    Jeder sieht heute, dies war die Unwahrheit. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP ist zur Gefangenen ihrer eigenen unhaltbaren Versprechungen geworden, die sie nun einholen. Es ist offenkundig: Dies ist eine Koalition des gebrochenen Wortes, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ CSU)

    Die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in Deutschland erfordert ein klares, schlüssiges Konzept, sowohl was die Inhalte angeht als auch die Finanzierung. Die Regierung aber hatte und hat keines. Sie stolpert von einer Verlegensheitslösung in die andere. Was uns da in der Weihnachtspause zugemutet wurde, war alles andere als ein Krippenspiel: Straßenbenutzungsgebühr ja, Straßenbenutzungsgebühr nein. Mineralölsteuererhöhung ja, Mineralölsteuererhöhung nein. Die Findigkeit der Koalition in der Erschließung neuer Finanztöpfe kannte keine Grenze. Keine Absurdität wurde ausgelassen.
    Telefongebühren heißt nun das neueste Stichwort, um bei den Menschen abzukassieren. Ich frage mich manchmal, in welcher Welt die Vertreter der Koalition eigentlich leben. Ihnen muß doch klar sein, daß sie damit Alte, Kranke und Behinderte, also vor allem jene treffen, für die das Telefon das meist einzige Kontaktmittel nach außen ist. Die Gebühren würden ja gar nicht erhöht, lediglich der Zeittakt werde verkürzt, ließ sich der Finanzminister vernehmen. Meine Damen und Herren, dieses Argument gleicht dem des Autofahrers, der eine Benzinpreiserhöhung mit der Bemerkung kommentiert, daß sei ihm egal, er tanke ohnehin immer nur für 30 Mark.

    (Zuruf von der CDU/CSU: So einen ähnlichen Witz haben wir heute schon gehört!)

    In dieser Regierung des gebrochenen Wortes gibt es auch einen Sozialminister, also einen, der von Amts wegen darüber zu wachen hätte, daß die Grundsätze der sozialen Gerechtigkeit eingehalten werden. Man hat ihn zum Thema Telefongebühren damals nicht gehört, hat ihn heute nicht gehört; vielleicht hören wir ihn morgen. Bisher hat er dazu nichts gesagt.
    Ein klassisches aktuelles Beispiel ist die Pflegeversicherung, die er vor der Wahl so vollmundig angekündigt hat. Als die frühere SPD-geführte Landesregierung in Hessen 1985 einen Gesetzentwurf über eine Pflegeversicherung vorlegte und im Bundesrat zur Abstimmung stellte, hatte dieser Entwurf vor allem einen entschiedenen Gegner: Sozialminister Blüm. Ausgerechnet er tat vor den Bundestagswahlen so, als sei er der Erfinder einer solchen Idee. Ich denke, das ist eine dreiste Spekulation auf die Vergeßlichkeit von Menschen.

    (Beifall bei der SPD)

    Sein Vorschlag einer Pflegeversicherung ist abgeschrieben. Als letzte Vorlage diente ihm dazu das Berliner Wahlprogramm der SPD von 1990.

    (Zuruf des Abg. Cronenberg [Arnsberg] [FDP])

    Was allerdings von den Wahlversprechungen dieses Ministers hinterher zu halten ist, zeigt der tatsächliche Koalitionsbeschluß zur Pflegeversicherung. Die Wahlversprechungen von Herrn Blüm von der CDU/ CSU wurden wie eine heiße Kartoffel fallengelassen. Kein rhetorischer Ausflug kann darüber hinwegtäuschen, daß die Zusage Herrn Blüms an den deutschen Wähler in dieser Koalitionsvereinbarung nicht enthalten ist.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Leider wahr!)

    Das ist der Tatbestand.
    In Sachen Pflege seien Sie ganz beruhigt, besonders die Damen und Herren von der CDU/CSU!

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sind wir nicht!)

    Die FDP hat sich auf diesem Feld völlig sauber verhalten: Sie war vorher dagegen, sie war während der Verhandlungen dagegen, und sie ist jetzt dagegen.

    (Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Jetzt haben Sie dreimal die Unwahrheit gesagt!)

    Sie sitzen da mit langen Gesichtern, weil sich die FDP durchgesetzt hat. Ich kann verstehen, daß Ihnen dabei mulmig wird. Ich sage Ihnen: In Sachen Pflege wird die SPD-Bundestagsfraktion Herrn Blüm und die CDU/CSU-Bundestagsfraktion in die Lage versetzen, über die Inhalte Ihrer eigenen Wahlreden hier abstimmen zu können. Das kündige ich Ihnen bereits heute verbindlich an, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Rüttgers [CDU/ CSU]: Wir erschaudern!)

    Mangelnde Entschlußkraft und politische Konturlosigkeit kennzeichnen auch die Aussagen der Koalitionsvereinbarung in einem anderen, für die Menschen besonders wichtigen Bereich, dem des Arbeitsschutzes." Der Arbeitsschutz ist unter Berücksichtigung der EG-Richtlinien neu zu regeln und seine Harmonisierung in Europa zu unterstützen", heißt es da. Sie machen sich offensichtlich doch nicht einmal die Mühe, Ihr politisches Blabla durch geschickte Formulierungen zu überkleistern.

    (Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Das können Sie vielleicht besser!)

    Sonnenklar wird nämlich: Auch in dieser Wahlperiode wird es keine Initiative der Bundesregierung für eine sachgerechte Fortentwicklung des Arbeitsschutzrechtes geben. Aber keine Bange: Wir werden Sie auch hier ans Laufen bringen. Wir haben der Öffentlichkeit im November 1990 einen Diskussionsentwurf für ein umfassendes neues Arbeitsschutzgesetz



    Dreßler
    vorgelegt. Den werden wir in den 12. Deutschen Bundestag einbringen.
    Wer sich den gesundheitspolitischen Vorhaben der Koalition für die 12. Periode zuwendet, der kann das mit Blick auf Bundesminister Blüm nur noch im Sinne eines politischen Nachrufs tun. Er werde, so sagte er, mit seiner Gesundheitsreform nicht scheitern.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Ist er auch nicht!)

    Zwei Jahre nach Inkrafttreten des sogenannten Gesundheitsreformgesetzes steht fest: Nicht nur das Gesetz ist gescheitert; der es zu verantwortende Gesundheitsminister gleich mit ihm.

    (Beifall bei der SPD)

    Keiner seiner Vorgänger, die je für die Gesundheitspolitik verantwortlich zeichneten, ist so jämmerlich eingebrochen, daß ihm der Regierungschef mit einem Federstrich die Kompetenz für dieses gewichtige politische Themenfeld nehmen konnte. Das Ende der gesundheitspolitischen Dienstfahrt von Herrn Blüm ist gekommen. Aber die gesundheitspolitischen Jahre des Ministers Blüm werden den Menschen im Bewußtsein bleiben als Jahre der Leistungskürzungen, als Jahre des Abkassierens, als Jahre der Entsolidarisierung.
    Sie, Herr Blüm, verlassen den politischen Kampfplatz Gesundheitspolitik als Geschlagener, als am eigenen politischen Unvermögen Gescheiterter.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Rüttgers [CDU/ CSU]: Die Rede haben Sie schon einmal gehalten! — Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Eine sehr militärische Formulierung!)

    Wir erinnern uns doch alle noch seiner vollmundigen Worte von diesem Pult. Ich zitiere: „Der kleine Norbert Blüm hat die Pharmaindustrie ganz alleine in die Knie gezwungen."

    (Heiterkeit bei der SPD — Zustimmung bei der CDU/CSU)

    — Daß ich nicht lache! Nein, meine Damen und Herren, nicht Blüm hat die Pharmaindustrie in die Knie gezwungen, sondern die Pharmaindustrie hat Blüm bezwungen. Sie hat ihn plattgemacht.
    Ab 1. Januar des nächsten Jahres wird es auch für über 50 % der Medikamente eine neue Selbstbeteiligung von 15 %, höchstens aber 15 DM pro Arzneimittel geben. Jeder kann sich ausmalen, was dies für die Kranken bedeutet.
    Nun verspricht die Koalition eine Organisationsreform der Krankenversicherung. Wie soll die denn aussehen? Sie wollen eine Erweiterung der Kassenwahlfreiheit unter Wahrung des gegebenen gegliederten Systems. Wie geht das denn? Es geht doch wohl nur das eine oder das andere. Ist Ihnen das noch gar nicht aufgefallen?
    Ferner soll es eine Reduzierung von strukturell bedingten Beitragssatzunterschieden geben. Wie beruhigend! Nur: wie und vor allem um wieviel? Das Entscheidende bleibt — wie an jeder Stelle der Regierungserklärung und der Koalitionsvereinbarung — offen. Eine salvatorische Klausel jagt die nächste.
    Das aber ist kein Zufall, denn CDU/CSU und FDP sind in diesen Fragen wie Feuer und Wasser. Wenn die zusammentreffen, bildet sich bekanntlich Dampf. Hinter dem möchten Sie sich mit Ihren nichtssagenden Formeln verkrümeln. Aber keine Sorge: Dafür, daß das Thema Krankenkassenreform auf der Tagesordnung dieses Hauses steht, wird die SPD ebenfalls sorgen. Das darf ich Ihnen heute auch schon versprechen.
    Auch arbeitsmarktpolitisch kann die Koalitionsvereinbarung nur als Fehlstart in die Wahlperiode bezeichnet werden. Von Zukunftsgestaltung keine Rede. Die Koalitionsvereinbarung behauptet, die aktive Arbeitsmarktpolitik werde auf hohem Niveau fortgesetzt. Diese Behauptung ist ebenso anmaßend wie irreführend.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: 17 Milliarden! Dreimal mehr als zu Ihrer Zeit!)

    Richtig hingegen ist: Die Arbeitslosigkeit wird in den alten wie in den neuen Bundesländern vorrangig verwaltet, aber nicht bekämpft.

    (Beifall bei der SPD)

    Das geht nun munter weiter. Die der Bundesanstalt für Arbeit auferlegte globale Minderausgabe von 2,3 Milliarden DM im Jahre 1991 wird erneut zu einer Einschränkung von arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen führen. Wir haben nicht ein Wort des dafür verantwortlichen Ministers gehört, wie er sich in Zeiten von Massenarbeitslosigkeit in Deutschland von annähernd 4 Milliarden Menschen — —

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    — 4 Millionen Menschen, Entschuldigung. Wenn Sie sich die Sprachirrtümer Ihres Bundeskanzlers anhörten, wären Sie nur noch am Lachen. Bei mir dürfen Sie es sich einmal leisten.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Es geht um 4 Millionen Menschen, und da will er 2,3 Milliarden kürzen, und er erzählt uns hier, das würde auf hohem Niveau fortgeführt.

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: 70 Milliarden DM! So hoch war sie noch nie!)

    Ich muß sagen, Herr Blüm: Das ist Zynismus, das ist Trick, und das ist Täuschung, was Sie hier veranstalten.
    Daß in Ostdeutschland die Sonderregelungen bei Kurzarbeit und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen verlängert werden, kann man doch nur begrüßen. Wir haben im letzten Jahr, Herr Blüm, unseren Beitrag leisten können, diese Regelungen einzuführen. Wir haben aber auch — leider ohne Erfolg — seit mehr als einem Jahr versucht, die Bundesregierung zu treiben, Kurzarbeit mit Qualifizierungs- und Fortbildungsmaßnahmen zu verbinden. Nach einem Jahr verschenkter Zeit will die Bundesregierung nun endlich tätig werden — kündigt sie an. Hoffentlich ist es nicht nur wieder eine Ankündigung.
    Wir können es Ihnen nicht ersparen, erneut auf Ihre schweren Versäumnisse aufmerksam zu machen. Die Bundesanstalt hatte Mitte 1990 ein Eventualprogramm vorbereitet, um 100 000 ABM-Plätze und



    Dreßler
    100 000 Qualifizierungsplätze in den fünf neuen Bundesländern zu erreichen. Die Regierung hat dieses Programm der Bundesanstalt für Arbeit politisch verhindert. Es sind 20 000 ABM-Plätze übriggeblieben. Wir hören von Insidern, daß dreistündige Samstagsvormittagslehrgänge zur Einführung der Sozialen Marktwirtschaft dort als Qualifizierungsmaßnahmen gezählt werden.

    (Hört! Hört! bei der SPD — Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das fällt Ihnen schwer, nicht!)

    Das will Herr Blüm nun steigern. Ich sage noch einmal, das grenzt an Zynismus.

    (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist ja das Problem, daß wir das in den 50er Jahren nicht gemacht haben!)

    Sie treffen erneut Vorbereitungen, um gewerbsmäßige, private Arbeitsvermittlung zuzulassen. Tatsache ist aber, der notwendige Schutz der Arbeitsuchenden und gezielte Hilfen für benachteiligte Gruppen sind so nicht leistbar.
    Ein privater Vermittler wird sich nie um schwierige Vermittlungsfälle kümmern können. Ich will deshalb den frisch gekürten Parlamentarischen Staatssekretär Günther zitieren, Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung.

    (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Guter Mann!)

    Er lehnt das ab. Ich zitiere ihn im offiziellen Organ der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, verantwortlich Herr Geißler:
    Dem Mißbrauch wäre Tür und Tor geöffnet, und wer am meisten bieten könnte, bekäme den attraktivsten Arbeitsplatz oder den idealsten Bewerber.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Der Dreßler ist immer ein paar Jahre zurück!)

    Nun, Herr Günther, was ist denn: Kaum ernannt, schon zurückgetreten, oder? Wahrscheinlich wird er nach dem Motto verfahren wie alle seine Kollegen: Was schert mich mein Geschwätz von gestern? Das ist die Tragik.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Rentenversicherung, meine Damen und Herren, gerade erst in einer großen gemeinsamen Kraftanstrengung für zwei Jahrzehnte in Ordnung gebracht, macht die Regierung Kohl erneut zum Gegenstand von Finanzmanipulationen. Das ist ein schlimmer Rückfall in die Flickschusterei und Milliardenschieberei der 80er Jahre. Hier wird neu gewonnenes Vertrauen mutwillig aufs Spiel gesetzt: Die geplante Beitragsmanipulation, Erhöhung des Arbeitslosenversicherungsbeitrags zunächst um 2,5 %, dann Senkung der Rentenversicherungsbeiträge um 1 To ist nichts anderes als der Bruch eines zentralen Wahlkampfversprechens. Das öffentliche Urteil zu diesem Vorhaben war einhellig wie selten. Herr Blüm, hören Sie mal zu! Es geht jetzt, Herr Blüm, um ein Wahlversprechen von Ihnen, das Sie gemacht haben. Die Überschriften lauteten in Richtung von Herrn Blüm: Wahlbetrug, Beitragslüge, Schlachtfest. Das waren die meistgebrauchten Vokabeln. Am 17. Mai vorigen Jahres hat Bundesarbeitsminister Blüm erklärt — ich zitiere — :
    „Die Anschubhilfe für den Aufbau einer vergleichbaren sozialen Sicherheit in der DDR ist eine gesamtstaatliche Aufgabe und darf nicht den Beitragszahlern in der Bundesrepublik aufgebürdet werden. Sie erfolgt deshalb aus Steuermitteln."
    Nach der Wahl beschließt die Bundesregierung genau das, was sie vor der Wahl nicht zu tun versprochen hatte. Herr Blüm, haben Sie einen anderen Begriff dafür als Wahlbetrug und Wählertäuschung?
    Die massive Erhöhung des Beitragssatzes zur Arbeitslosenversicherung haben wir Ihnen vor der Wahl auf den Kopf zugesagt. Das Bundesarbeitsministerium lieferte dazu ausweislich des „Kölner Stadtanzeigers" vom 24. November 1990 ein Dementi. Ich zitiere wieder Herrn Blüm:
    Eine von der SPD behauptete Erhöhung des Beitrages zur Arbeitslosenversicherung von 4,3 auf 6,3 % ist nach Angaben aus dem Bundesarbeitsministerium nicht geplant. Beschlossen sei lediglich eine Anhebung um höchstens einen Prozentpunkt auf 5,3 % bei gleichzeitiger entsprechender Senkung des Beitrags zur Rentenversicherung.
    Herr Blüm, was ist das eigentlich anderes als die Unwahrheit und Beitragslüge?

    (Dr. Blüm [CDU/CSU]: Darüber reden wir morgen noch einmal!)

    Haben Sie eigentlich jede Sensibilität dafür verloren, daß Sie vor Wahlen mit solchen objektiven, wie sich heute herausstellt, Unwahrheiten vor das deutsche Volk treten und hier nicht einmal die Spur, einen Hauch von Kraft besitzen, diese Beitragslüge dem deutschen Parlament zu gestehen? Noch nicht einmal einen Hauch davon haben Sie!

    (Beifall bei der SPD)

    Daß ihm das vorher von mir zugeschickte Manuskript nicht schmeckte, wenn er gelesen hat, daß er hier vorgeführt wird, kann ich verstehen.

    (Beifall bei der SPD)

    Die Senkung des Rentenversicherungsbeitrages ist keine Belastungsminderung, sondern lediglich eine zeitliche Umverteilung der Beitragslast, denn der Minderbelastung in den Anfangsjahren steht eine entsprechende Mehrbelastung in den Folgejahren gegenüber. Anders ausgedrückt: Jeder Mensch in Deutschland, der oberhalb der Beitragsbemessungsgrenze von 6 500 DM verdient, wird von dieser Koalition zur Finanzierung der deutschen Einheit nicht herangezogen. Das ist Umverteilung von unten nach oben, wie sie klassischer überhaupt nicht mehr dargestellt werden kann.

    (Beifall bei der SPD)

    Preiswerter, erschwinglicher Wohnraum gehört zu den existentiellen Voraussetzungen eines menschenwürdigen Daseins. Um dies zu gewährleisten, haben wir in unserem Sozialstaat die Instrumente des sozialen Wohnungsbaus und des sozialen Mietrechts entwickelt. Sie müssen aber genutzt werden und dürfen nicht zu einem Alibi verkommen. Die bisherigen Wohnungsbauminister in den Kabinetten der Koalition haben in diesem Politikfeld versagt. Die Namen Oscar



    Dreßler
    Schneider und Gerda Hasselfeldt sind zu Synonymen für eine gescheiterte Wohnungsbaupolitik geworden. Der Mangel an erschwinglichem Wohnraum ist so groß wie nie. Die neu hinzugekommenen Probleme auf dem ostdeutschen Wohnungsmarkt sind ungewöhnlich schwierig und verstärken den Druck. Wohnungsnot ist kein Fremdwort, sondern Wirklichkeit in Deutschland, und zwar in den alten wie in den neuen Bundesländern. Wenn angesichts der angespannten und bedrückenden Lage am Wohnungsmarkt der FDP das Wohnungsbauministerium übertragen wird, dann ist diese Personalie zugleich Programm,

    (Zuruf von der SPD: Das ist wohl wahr!)

    Programm für noch höhere Mieten, für noch stärkere Aushöhlung des Mieterschutzes, Programm für eine Umgestaltung des sozialen Wohnungsbaus zu einem Auslaufmodell.

    (Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Programm für eine gute Baukonjunktur!)

    Wann, wenn nicht jetzt, wenn jedem die dramatische Situation am Wohnungsmarkt deutlich wird, soll eigentlich der notwendige wohnungspolitische Aufbruch, die Umkehr erfolgen? Was muß denn eigentlich noch alles geschehen? Wie lang muß die Schlange der Wohnungssuchenden denn eigentlich noch werden, bis diese Koalition zur Vernunft kommt? Die starken bayerischen CSU-Sprüche haben wir acht Jahre lang genossen. Taten sind dem nicht gefolgt. Statt dessen haben die Sprüchemacher aus Bayern jetzt das Feld geräumt und sich klammheimlich verdrückt.
    Die wohnungsbaupolitische Mängelliste der Koalitionsvereinbarung ist lang. Wir kennen sie. Ich will sie hier nicht weiter zitieren.
    Meine Damen und Herren, ich komme zum Schluß.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    — Daß Ihnen das nicht gefällt, glaube ich Ihnen gern. Daß Sie nur begeistert sind, wenn Ihr Minister an der Sache vorbeiredet, das haben wir den ganzen Tag gehört. Aber heute abend geht es zur Sache, und Sie haben die große Chance, genau zu diesen Widersprüchen, vor der Wahl — nach der Wahl, vor dem Deutschen Bundestag Stellung zu nehmen. Mit Büttenreden allein ist das nicht mehr zu machen.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der FDP: Sie überschätzen sich!)

    Meine Damen und Herren, wer in den Koalitionsvereinbarungen Hinweise auf eine aktive, gestaltende Jugendpolitik sucht, der wird dies vergeblich tun. Er wird nichts finden. Dies erstaunt um so mehr, als sowohl der Einigungsvertrag wie auch das CDU- Wahlprogramm ausdrücklich zu diesem Themenfeld Stellung nehmen.
    In den Koalitionsvereinbarungen heißt es, daß endlich auch Sie den Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz gesetzlich verankern wollen.

    (Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)

    Wie schön! Bei näherem Hinsehen erweist sich allerdings, daß diese Festlegung ein politisches Muster ohne Wert, eine wohlfeile Floskel ist;

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    denn Sie lassen die entscheidenden Fragen offen. An welches Kindergartenalter denken Sie denn eigentlich, und wie wollen Sie eigentlich die Finanzierung sicherstellen?

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Sie wissen doch genau, daß dies ohne Berücksichtigung der zusätzlichen Kosten beim Finanzausgleich zwischen Bund und Ländern ein leeres Versprechen bleibt.

    (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Wer ist eigentlich zuständig?)

    Oder glauben Sie im Ernst, daß Sie einen Wechsel zu Lasten Dritter ziehen können? Fragen Sie doch einmal Ihre eigenen Ministerpräsidenten! Die lachen sich ja halbtot, wenn sie das lesen.

    (Beifall bei der SPD)

    In der Familienpolitik wird Ihre Konturlosigkeit nur noch von Ihrer Unverfrorenheit übertroffen. Was anderes als Unverfrorenheit soll es sein, wenn Sie stur an der verfassungswidrigen Besteuerung der Familien mit Kindern ein weiteres Jahr festhalten wollen?

    (Beifall bei der SPD)

    Statt das Kindergeld sofort auf mindestens 200 DM für jedes Kind erhöht zu bekommen — wir haben das lange gefordert — , müssen Familien auch 1991 7 Mil-harden DM Steuern zuviel zahlen, die nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von dieser Regierung gar nicht erst abkassiert werden dürfen.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Wer Ihre Steuerpolitik verfolgt und sieht, daß der Staat bei Ihrer Politik z. B. bei ModellflugzeugbauVereinen Steuerverzicht übt, wie er andererseits aber die Familien mit Kindern steuerrechtlich behandelt,

    (Unruhe bei der CDU/CSU)

    der kann hier nur von einem gesellschaftspolitischen Skandal sprechen.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Heute morgen hat Herr Vogel das uns wiederholt vorgeworfen!)

    — Kümmern Sie sich einmal um die Passage „Dienstmädchenprivileg". Wenn Sie dann nicht schamrot werden, dann weiß ich nicht mehr, wie man das anders darstellen soll!

    (Beifall bei der SPD)

    Was CDU, FDP und CSU uns mit der Regierungserklärung und mit den Koalitionsvereinbarungen als Eröffnungsbilanz und als Ausblick auf ihre politischen Pläne in den nächsten vier Jahren vorgelegt haben, wird gesellschaftspolitisch verhängnisvolle Auswirkungen haben. Es widerspricht fast in allen zentralen Politikfeldern dem obersten Gebot eines jeden Sozialstaats, nämlich dem Gebot der gesamtgesellschaftlichen Solidarität; ich möchte hier nur einen Bereich nennen: besonders dem Gebot der Solidarität des westlichen mit dem östlichen Teil unserer Republik.



    Dreßler
    Diese Koalition hält an ihrem Konzept der gesellschaftspolitischen Spaltung fest.

    (Dr.-Ing. Kansy [CDU/CSU]: Das müssen Sie nach den Neidkampagnen des letzten Jahres sagen!)

    Sie macht ihre bundesrepublikanischen Fehler der Vergangenheit zu Hypotheken für die Zukunft des vereinten Deutschlands.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Sozialpolitik ist in dieser Koalition zu einem stumpfen Instrument geworden. Sie verzichten fast durchgängig auf einen eigenen politischen Gestaltungsanspruch. Sie erschöpfen sich im Hinnehmen von Ergebnissen einer konzeptionslosen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Die personalpolitische Repräsentanz dieses wichtigen Politikfeldes am Kabinettstisch ist denn auch eine logische Konsequenz aus dieser Entwicklung. Sie ist aufgesplittert auf viele Einzelressorts und garniert durch einen Sozialminister, den sein eigener Regierungschef durch eine drastische Entmachtung politisch ins Mark getroffen hat. Für Sozialpolitik, meine Damen und Herren, für die Sorgen der Menschen um Arbeitsplätze und Wohnen, um Gesundheit und Altersversorgung und um Unterstützung für die Erziehung der Kinder und die Pflege der Älteren war diese Regierungserklärung von Helmut Kohl keine gute Adresse.
    Ich danke Ihnen.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Rüttgers [CDU/ CSU]: Das war 21 Seiten zu lang! — Dr. Geißler [CDU/CSU]: Das war ein Tagesbefehl!)