Rede:
ID1200602500

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Metadaten
  • insert_drive_fileAus Protokoll: 12006

  • date_rangeDatum: 31. Januar 1991

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    Plenarprotokoll 12/6 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 6. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 Inhalt: Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 95 A Rücknahme eines in der 5. Sitzung erteilten Ordnungsrufs 95 B Tagesordnungspunkt 1: Aussprache zur Erklärung der Bundesregierung Dr. Vogel SPD 95 B Dr. Dregger CDU/CSU 107 B Dr. Schmude SPD 112C Dr. Solms FDP 113 B Conradi SPD 116D Dr. Modrow PDS/Linke Liste 118B Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE . . . 121D Dr. Waigel, Bundesminister BMF . . . . 124 C Dr. Graf Lambsdorff FDP . . . . 126B, 168C Frau Matthäus-Maier SPD . . . . 129D, 154B Dr. Faltlhauser CDU/CSU 133B, C Genscher, Bundesminister AA 136B Gansel SPD 139C, 162C Dr. Graf Lambsdorff FDP 169A, 174B Dr. Biedenkopf, Ministerpräsident des Landes Sachsen 145 B Kühbacher, Minister des Landes Brandenburg 148B, 171C Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU . . . 150D Dr. Kohl, Bundeskanzler 152 C Dr. Krause (Börgerende) CDU/CSU 154A, 174B Möllemann, Bundesminister BMWi . . . 154 C Dr. Jens SPD 156C Gansel SPD 157B Rühe CDU/CSU 158D Genscher FDP 163A Möllemann FDP 163B, 166D Frau Lederer PDS/Linke Liste 163 C Roth SPD 165C, 169B Dr. Krause, Bundesminister BMV . . . 169B Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE . 172A, 177A Glos CDU/CSU 174C, 177B Walther SPD 176A, 180D Roth SPD 176D Dr. Briefs PDS/Linke Liste 177 C Dr. Weng (Gerlingen) FDP 178D Nitsch CDU/CSU 181 B Dr. Seifert PDS/Linke Liste 183 C Schäfer (Offenburg) SPD 184B Gibtner CDU/CSU 187B Baum FDP 188D Frau Braband PDS/Linke Liste 190D Dr. Töpfer, Bundesminister BMU . . . 191B Schäfer (Offenburg) SPD 193A Dr. Feige Bündnis 90/GRÜNE 193D Dr. Blüm, Bundesminister BMA 195C Dreßler SPD 198B II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 Cronenberg (Arnsberg) FDP 204 B Dreßler SPD 204C, 209A, 220C Dr. Schumann (Kroppenstedt) PDS/Linke Liste 206 C Frau Rönsch, Bundesminister BMFS . . 207 B Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE . . . 208A, B Frau von Renesse SPD 208B, C Schwarz CDU/CSU 209 D Frau Schenk Bündnis 90/GRÜNE . . . 210C Frau Dr. Merkel CDU/CSU 212 C Frau Dr. Höll PDS/Linke Liste 213A Frau Bläss PDS/Linke Liste 213A Frau Becker-Inglau SPD 214B Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Bundesminister BMBau 217B Reschke SPD 218B Conradi SPD 219A Scharrenbroich CDU/CSU 219D Dr. Ortleb, Bundesminister BMBW . . . 222D Kuhlwein SPD 223 C Nächste Sitzung 224 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 225* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 95 6. Sitzung Bonn, den 31. Januar 1991 Beginn: 9.01 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Antretter SPD 31. 01. 91 * Bindig SPD 31. 01. 91 * Frau Blunck SPD 31. 01. 91 * Böhm (Melsungen) CDU/CSU 31. 01. 91 * Frau Brudlewsky CDU/CSU 31. 01. 91 Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 31. 01. 91 * Buwitt CDU/CSU 31.01.91 Erler SPD 31.01.91 Frau Eymer CDU/CSU 31. 01. 91 Dr. Feldmann FDP 31. 01. 91 * Frau Fischer (Unna) CDU/CSU 31. 01. 91 * Francke (Hamburg) CDU/CSU 31. 01. 91 Gattermann FDP 31.01.91 Dr. Gysi PDS 31. 01. 91 Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 31. 01. 91 Dr. Holtz SPD 31. 01. 91 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Kittelmann CDU/CSU 31. 01. 91 * Klinkert CDU/CSU 31.01.91 Dr. Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 31. 01. 91 Matschie SPD 31.01.91 Dr. Müller CDU/CSU 31. 01. 91 * Dr. Neuling CDU/CSU 31. 01. 91 Pfuhl SPD 31.01.91 Reddemann CDU/CSU 31. 01. 91 * Repnik CDU/CSU 31.01.91 Dr. Schäuble CDU/CSU 31. 01. 91 Dr. Scheer SPD 31. 01. 91 * Schmidbauer CDU/CSU 31.01.91 von Schmude CDU/CSU 31. 01. 91 * Frau Simm SPD 31. 01. 91 Dr. Soell SPD 31. 01. 91 * Dr. Sperling SPD 31. 01. 91 Spilker CDU/CSU 31.01.91 Steiner SPD 31. 01. 91 * Frau Wieczorek-Zeul SPD 31. 01. 91 Frau Wollenberger Bündnis 31. 01. 91 90/GRÜNE Wonneberger CDU/CSU 31.01.91 Zierer CDU/CSU 31. 01. 91 *
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans Modrow


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (PDS/LL)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (PDS/LL)

    Dann ein letztes Wort. Wenn Sie, Herr Bundeskanzler, gestern erklärten, daß es darum geht, Millionen Menschen in den neuen Bundesländern ermutigende Zukunftsperspektiven zu geben, dann kann man Ihnen nur zustimmen. Aber mit der Zerstörung der Wirtschaft und der Existenzgrundlagen von Millionen, mit Intoleranz, „Abwicklung" und hunderttausendfachen Ausgrenzungen ist diese Perspektive nicht zu schaffen, weder im Osten noch in der gesamten Bundesrepublik. Halten Sie ein auf diesem Weg, die von den Bürgerinnen und Bürgern zu tragenden Lasten werden zu groß sein!

    (Beifall bei der PDS/Linke Liste)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Schulz.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Werner Schulz


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nein, Herr Modrow, bei allem ehrlichen Bemühen um eine neue Identität, Sie und Ihre Partei, die wie ein Phoenix aus der Asche der SED entstanden ist, täten, glaube ich, besser daran, sie würden sich voll und ganz der Vergangenheitsaufarbeitung stellen, als sich hier in flotten Schuldzuweisungen zu üben.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP — Zuruf von PDS/Linke Liste: Sie sollten sich etwas Neues einfallen lassen; das wird langweilig!)

    — Ich denke, Sie haben das erstmal zu bringen.
    Wir stehen vor der Jahrhundertaufgabe, die Einheit Deutschlands zu verwirklichen, also gleiche Lebenschancen im Osten wie im Westen herzustellen, und gleichzeitig befindet sich Deutschland am Rande eines Krieges. Das ist durchaus wörtlich zu nehmen, denn die Bundesregierung ist dabei, weitere Truppen und Ausrüstungen an den Rand des Golfkrieges zu verlegen. Schon jetzt ist dieser Krieg außer Kontrolle. Die Bilder vom sauberen Telekrieg haben uns nur ein paar Tage blenden können. Wenn die Militärs beweisen wollen, daß ein Krieg führbar ist, demonstrieren sie doch eher das Gegenteil. Der Krieg ist nicht begrenzbar, nicht auf strategische Ziele, nicht auf konventionelle Waffen, nicht auf den Irak. Saddam Hussein ist in diesem Krieg der Aggressor, und der Irak muß Kuwait umgehend freigeben.
    Dennoch war die Entscheidung der USA und ihrer Alliierten für eine militärische Lösung, sofern es eine



    Schulz (Berlin)

    solche überhaupt gibt, falsch und verhängnisvoll. Dieser Krieg muß so schnell wie möglich beendet werden, und deutsche Politik darf nicht den militärischen Sieg, sie muß einen baldigen Waffenstillstand zum Ziel haben. Frieden ja, nur Krieg um jeden Preis darf es nicht geben.
    Die jetzt beginnende Hatz auf einen grausamen und fanatischen Diktator in seinem bombensicheren deutschen Betonbunker ist es nicht wert, daß dafür unzählige Menschen sterben, eine Region zerstört, Ressourcen vernichtet werden und unabsehbare Umweltschäden eintreten.
    Sie, Herr Bundeskanzler und Herr Dregger, haben kein Recht, die Friedensbewegung zu tadeln.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das hat er nicht getan!)

    Es sind Bürgerinnen und Burger, die es mit der Bewahrung der Schöpfung ernst meinen und sich nicht hinter Lippenbekenntnissen verstecken. Das ist kein Antiamerikanismus, sondern die Überzeugung, daß Krieg, egal von welcher Seite er begonnen wird, kein Mittel der Politik sein darf.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei Abgeordneten der SPD)

    Es geht um die politische Beilegung des Golfkonfliktes, die Einberufung einer Nah-Ost-Konferenz, den Wiederaufbau einer Region, sichere Grenzen für Israel ebenso wie für einen palästinensischen Staat.
    Wir sind nicht bereit, den Golfkrieg durch die Zustimmung zu Steuererhöhungen zu unserem Krieg zu machen. Andererseits wissen wir, daß dieser Krieg mit jedem Tag mehr Leiden und größere Schäden hervorruft. Um diese Schäden soweit wie möglich zu beseitigen oder zu mindern, für humanitäre Hilfe zur Eindämmung der ökologischen Katastrophe, sollten wir Deutsche bereit sein, finanzielle Opfer zu bringen.
    Aber eine Kriegssteuer — ich weiß, Sie werden sie anders nennen, das war heute schon der Fall — lehnen wir ab. Die Bundesrepublik und auch die DDR haben bei der Aufrüstung des Irak von Anfang an kräftig mitgeholfen. Die Bundesregierung hat immer wieder die Verhältnisse im Irak verharmlost, und die deutsche Industrie mehr oder weniger direkt ermutigt, dorthin waffenfähige Technologien zu liefern. Jetzt erleben wir, wie lebensbedrohend es ist, wenn Schwerter nicht umgeschmiedet, sondern verkauft werden.
    Heute vergießt die Bundesregierung Krokodilstränen angesichts der Tatsache, daß Saddam Hussein diese Technologie gegen Israel einsetzt. Die angekündigten deutschen Lieferungen von Abwehrwaffen an Israel, auch wenn sie heute unausweichlich erscheinen, bewegen sich doch auf der tödlichen Spirale des Waffenexports. Wir unterstellen ausdrücklich nicht, daß dies Ihre Absicht ist. Dennoch macht sich die Aufrüstung des Irak heute für bestimmte deutsche Unternehmen doppelt bezahlt.
    Die Bundesregierung kündigt jetzt verschärfte Maßnahmen zur Rüstungskontrolle an. Das wirkt wie eine Frisch-Adaption von „Biedermann und die Brandstifter" . Schließlich ist das Problem doch seit
    Jahren wohlbekannt. Die GRÜNEN haben in den letzten beiden Wahlperioden wiederholt darauf hingewiesen und sind immer wieder auf taube Ohren gestoßen. Jetzt, wenn es brennt, kündigt der Wirtschaftsminister, Herr Möllemann, Maßnahmen an. Wir können nur hoffen, daß er nicht nach Herrn Töpfer zum zweiten Ankündigungsminister des Kabinetts Kohl wird.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE — Zurufe von der CDU/CSU)

    Wir werden in den nächsten Tagen Anträge in den Bundestag einbringen, in denen wir erste Antworten auf das Scheitern der Politik am Golf geben wollen. Wir werden ein Gesetz einbringen, das es den Bürgern und Bürgerinnen ermöglichen soll, sich gegen die zwangsweise Veranlagung zur Rüstungsfinanzierung zur Wehr zu setzen und die Zweckbindung ihrer Steuerzahlung für friedliche Zwecke zu erreichen. Wir haben bereits jetzt die Einsetzung eines Untersuchungsausschusses beantragt, der das Gebaren der Bundesregierung im Hinblick auf Waffenexporte und den Export von waffenfähigen Technologien untersuchen soll. Wir kündigen außerdem jetzt schon eine Initiative an mit dem Ziel, den Export von Kriegswaffen radikal zu beschränken und dies auch im Grundgesetz zu verankern.
    Im Schatten des Golf-Krieges hat sich die Lage in der Sowjetunion, insbesondere im Baltikum, zugespitzt. Wir dürfen dem verschärften Druck Moskaus auf die baltischen Republiken nicht untätig zusehen. Sowjetisches Stillhalten gegenüber dem Golf-Krieg mit westlichem Stillhalten gegenüber den sowjetischen Militäraktionen zu verbinden — dieses Kalkül darf nicht aufgehen. Auf die flagrante Verletzung der Menschenrechte — so hat die Parlamentarische Versammlung des Europarats den Eingriff der Sowjetarmee in den Ostseerepubliken jüngst zu Recht bezeichnet — hat der Westen noch keine angemessene Antwort gefunden. Bisher haben, mit unterschiedlichen Akzenten, alle im Bundestag vertretenen Parteien die Auffassung vertreten, daß der Prozeß der Perestroika durch vielfältige Unterstützungsmaßnahmen für die Sowjetunion nach Kräften gefördert werden sollte. Doch eine pauschale Unterstützung der Sowjetunion, nur um die Position Gorbatschows nicht zu gefährden, das kann heute nicht mehr ausreichen. Jetzt ist vor allem praktische Solidarität mit denen notwendig, die unter Berufung auf die Menschenrechte demokratische Entfaltungsmöglichkeiten suchen, wie dies die baltischen Republiken tun, und zwar sowohl Litauer, Letten, Esten als auch dort lebende Russen und Polen.
    Außenpolitik, so scheint es, ist in dieser Regierung nicht eine Angelegenheit der Koalition, sondern die persönliche Sache des Außenministers. So hat es sich wohl erübrigt, in der Koalitionsvereinbarung Festlegungen hierfür zu treffen. Das ist bedauerlich. Gern hätten wir erfahren, ob die Bundesregierung konzeptionell auf die dramatischen Umwälzungen in Mittel- und Osteuropa reagieren wird, ob sie aus dem Zerfall des Warschauer Paktes Schlüsse auf die Sicherheitspolitik zu ziehen gedenkt. Dann müßte sie z. B. etwas sagen über die politische Zukunft der NATO und über die Rolle der KSZE, der gegenwärtig einzigen gesamteuropäischen Organisation.



    Schulz (Berlin)

    Nach jüngsten Meinungsumfragen fühlen sich fast zwei Drittel der Westdeutschen durch den Golf-Krieg bedroht, während sich die Mehrheit der Ostdeutschen vor allem auf Grund der wirtschaftlichen Schwierigkeiten in den neuen Bundesländern besorgt zeigt. Das charakterisiert die gespaltene Bewußtseinslage der Nation.
    Die Koalitionsvereinbarung vermittelt den Eindruck, die Dramatik der deutschen Vereinigung liege Jahre zurück oder es habe sie überhaupt nie gegeben. Es ist ein Trugschluß zu glauben, einem großen Wahlsieg müsse große Politik folgen. Alles läuft wie gehabt. Es ist die 12. Legislaturperiode des Bundestags und nicht die 1. eines gesamtdeutschen Parlaments.
    Die Koalition hat für ihr Programm, die Einheit ohne Steuererhöhung zu ermöglichen, eine klare Mehrheit erhalten. Ein Konzept dafür ist sie schuldig geblieben. Wo ist das Aufbauprogramm, das Zukunftsprogramm für die deutsche Integration, das den Bürgerinnen und Bürgern in den neuen Bundesländern Perspektiven eröffnet, die kommenden Jahre zu bestehen?
    Ständig ist — um einen Ihrer Allgemeinplätze zu verwenden — von Weichenstellung die Rede, ohne daß — um in der Metapher zu bleiben — die finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Schienen erkennbar sind. Die Situation wird mit den 50er Jahren verglichen. Aber wo bleibt der Marshallplan, wo ist der Lastenausgleich? Offensichtlich wollen Sie vergessen, daß die Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland 45 Jahre lang ihren Rücken hingehalten haben, um gemeinsame Geschichtsverantwortung abzutragen. Jetzt fällt, wenn wir nicht aufpassen, endgültig auseinander, was doch zusammengehören soll.
    Just am Tag Ihrer hoffnungsvollen Regierungserklärung, Herr Bundeskanzler, stellt das „Handelsblatt" kühl und sachlich fest, daß sich die Hoffnungen auf einen schnellen wirtschaftlichen Aufschwung in Ostdeutschland zerschlagen haben.
    Die deutsche Vereinigung ist kein sich selbst finanzierender Prozeß. Die Dezember-Zahlen der Bundesanstalt für Arbeit weisen 642 000 Arbeitslose, 1,8 Millionen Kurzarbeiter für Ostdeutschland aus. Umgerechnet auf Vollzeit-Arbeitslose entspricht das etwa 1,5 Millionen Arbeitslosen. Das heißt mit anderen Worten: Die wirkliche Arbeitslosenquote liegt vermutlich bei mehr als 15 %.
    Die Länder und die Kommunen in Ostdeutschland befinden sich in einem beklagenswerten Zustand. Ihre eigene Steuerkraft ist noch nicht entwickelt; der Einigungsvertrag schließt sie vom Länderfinanzausgleich aus. Die Zuweisungen aus dem Fonds Deutsche Einheit decken nicht einmal den geringsten Bedarf.
    Dabei sind die Herausforderungen, die auf die neuen Länder zukommen, ungleich größer, als sie von den alten Bundesländern zu bewältigen sind. Denken Sie nur an die Schaffung einer leistungsfähigen Infrastruktur, an die Neustrukturierung und den Aufbau des Schul- und Hochschulwesens, an die Gesundheitsversorgung. An allen Stellen muß gleichzeitig angepackt, müssen neue Orientierungen geschaffen werden, müssen die Probleme gleichzeitig schnell und wirksam gelöst werden. Es ist keine Zeit. Wenn sich die Verhältnisse nicht rasch bessern, werden von
    den Leistungsfähigen, die zwischen Rostock, Erfurt und Görlitz dringend gebraucht werden, noch mehr in den Westen abwandern. Diese Abwanderung hält unbegrenzt an. Auch der beabsichtigte Steuerfreibetrag wird daran nichts ändern.
    Je länger der Aderlaß der fünf ostdeutschen Länder anhält, desto schlechter sind die Ausgangssituationen für einen baldigen Aufschwung und desto höher wird auch der Bedarf an personellen und finanziellen Hilfen aus den alten Bundesländern. Nur schnelle Hilfe ist auch wirksame Hilfe. Ohne massive Unterstützung, die über das bisher angekündigte Maß deutlich hinausgeht, haben die Landesregierungen, gleich welcher Couleur, keine reelle Chance, der Abwärtsentwicklung gegenzusteuern.
    Schon der Aufbau leistungsfähiger Verwaltung wird ihnen schwer genug gemacht. Wer für doppelte Arbeit und dreifache Schwierigkeiten nur ein Drittel des Gehalts bei schlechterer Einstufung anbieten kann, wird nicht die Leute bekommen, die er braucht.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD)

    Das Bedrückende dabei ist: Die Misere ist Ihnen bestens bekannt. Ihre eigenen Parteifreunde, Herr Bundeskanzler, allen voran der sächsische Ministerpräsident Biedenkopf, haben deutlich vernehmbar Alarm geschlagen, haben eine bessere Finanzausstattung der Länder auch um den Preis von Steuererhöhungen gefordert. Die Antwort Ihrer Regierung und ihrer Koalitionsvereinbarung ist mehr als mager. Auf der einen Seite stehen Wirtschaftsboom, volle Auftragsbücher, Steuermehreinnahmen und neue Arbeitsplätze; auf der anderen Seite, im Osten, schließen die Betriebe, und die öffentlichen Kassen sind leer. Es wird Zeit, nach der Abwicklung der DDR und ihrer Institutionen nun den westdeutschen Egoismus abzuwickeln.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste)

    Über die unzureichenden Regelungen des Einigungsvertrages hinaus haben Sie den ostdeutschen Ländern nicht viel anzubieten. Die sofortige uneingeschränkte Einbeziehung dieser Länder in den Länderfinanzausgleich ist aus materiellen wie aus verfassungsrechtlichen Gründen dringend geboten. Zusätzliche Mittel müssen nach unserer Auffassung durch eine Solidarabgabe der deutschen Wirtschaft bereitgestellt werden. Aber auch Wohlhabende und Besserverdienende müssen ihren Beitrag leisten.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD)

    Und was machen Sie? Sie wollen die Vermögensteuer abschaffen. Sie haben Recht, wenn Sie die Kostenbelastung der Unternehmen in den fünf neuen Ländern niedrig halten wollen. Das hilft auch den Betrieben, die nur wenig oder gar nicht investieren können. Aber in einer Zeit, in der die Solidarität der Wohlhabenden gefordert ist, können Sie nicht die Vermögensteuer streichen und gleichzeitig von den



    Schulz (Berlin)

    Arbeitnehmern höhere Beiträge zur Arbeitslosenversicherung kassieren.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS/Linke Liste)

    Abschließend einige Bemerkungen zur Wirtschaftspolitik:
    Erstens. Die Bundesrepublik schätzt die Dimension der Aufgabe, die ostdeutschen Länder wirtschaftlich wieder in Gang zu bringen, offenbar falsch ein. Was hier an Förderungsmaßnahmen vereinbart ist, würde nicht ausreichen, westdeutsche strukturschwache Gebiete auf den Bundesstandard zu bringen.
    Zweitens. Die Bundesregierung verkennt den notwendigen Zusammenhang von wirtschaftlichem Aufbau und ökologischem Umbau in den ostdeutschen Ländern. Sie setzt auf wirtschaftliche Expansion zu Lasten der Umwelt und verschreibt sich erneut dem Teufelskreis von Umweltzerstörung und Umweltreparatur. Ein deutlicher Hinweis darauf ist die geplante Einschränkung der Beteiligung der Öffentlichkeit bei der Planung von Infrastrukturmaßnahmen.
    Drittens. Der Glaube an die Segnung des uneingeschränkten Wirkens der Marktkräfte und an den unbedingten Sinn der Privatisierung von Staatseigentum und Staatsaufgaben ist ungebrochen. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, daß hier ideologisches Denken an die Stelle sachgerechter Abwägung getreten ist.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE)

    Viertens. Die Hoffnung auf die Aufrechterhaltung und sogar den Ausbau der Wirtschaftsbeziehungen mit den bisherigen RGW-Staaten ist unrealistisch. Dieser Handelsaustausch ist schon vor der Umstellung des Handels auf konvertible Währung drastisch zurückgegangen. Viele der ostdeutschen Unternehmen haben kein besonderes Interesse an Importen aus dem RGW-Raum, weil sie westlichen Standards meist nicht genügen. Nach dem Auslaufen der großzügigen Exportregelung des Staatsvertrages sind sie auch in Osteuropa gegenüber westlichen Firmen zumeist nicht mehr konkurrenzfähig. Die anfänglich erhoffte Stütze der ostdeutschen Wirtschaft ist bereits zusammengebrochen.
    Schon im vergangenen Sommer war für Kurt Biedenkopf klar — ich zitiere — :
    Wir haben den Deutschen in der DDR zuviel versprochen. Wir haben gesagt, es gebe ein Wirtschaftswunder. Wir haben gesagt, die Einheit koste nichts. Wir haben hohe Wachstumsraten vorausgesagt. Namhafte Bonner Politiker gingen sogar so weit, die DDR-Bürger zur Dankbarkeit darüber aufzufordern, daß wir ihnen die D-Mark als das Kostbarste, das wir haben, auf dem Silbertablett präsentieren. Mit solchen Reden haben wir unerfüllbare Erwartungen geweckt.
    Dem ist nichts hinzuzufügen. Die Regierungserklärung verstärkt die Ernüchterung.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei der SPD)