Rede:
ID1200600200

insert_comment

Metadaten
  • sort_by_alphaVokabular
    Vokabeln: 23
    1. Wir: 2
    2. Darf: 1
    3. ich: 1
    4. bitten,: 1
    5. jetzt: 1
    6. zuzuhören.: 1
    7. Ich: 1
    8. wiederhole: 1
    9. das: 1
    10. von: 1
    11. gestern:: 1
    12. sind: 1
    13. in: 1
    14. der: 1
    15. Aussprache.: 1
    16. werden: 1
    17. unsere: 1
    18. Stellungnahmen: 1
    19. abgeben.: 1
    20. Versuchen: 1
    21. wir,: 1
    22. einander: 1
    23. anzuhören!\n: 1
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 12/6 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 6. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 Inhalt: Erweiterung und Abwicklung der Tagesordnung 95 A Rücknahme eines in der 5. Sitzung erteilten Ordnungsrufs 95 B Tagesordnungspunkt 1: Aussprache zur Erklärung der Bundesregierung Dr. Vogel SPD 95 B Dr. Dregger CDU/CSU 107 B Dr. Schmude SPD 112C Dr. Solms FDP 113 B Conradi SPD 116D Dr. Modrow PDS/Linke Liste 118B Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE . . . 121D Dr. Waigel, Bundesminister BMF . . . . 124 C Dr. Graf Lambsdorff FDP . . . . 126B, 168C Frau Matthäus-Maier SPD . . . . 129D, 154B Dr. Faltlhauser CDU/CSU 133B, C Genscher, Bundesminister AA 136B Gansel SPD 139C, 162C Dr. Graf Lambsdorff FDP 169A, 174B Dr. Biedenkopf, Ministerpräsident des Landes Sachsen 145 B Kühbacher, Minister des Landes Brandenburg 148B, 171C Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU . . . 150D Dr. Kohl, Bundeskanzler 152 C Dr. Krause (Börgerende) CDU/CSU 154A, 174B Möllemann, Bundesminister BMWi . . . 154 C Dr. Jens SPD 156C Gansel SPD 157B Rühe CDU/CSU 158D Genscher FDP 163A Möllemann FDP 163B, 166D Frau Lederer PDS/Linke Liste 163 C Roth SPD 165C, 169B Dr. Krause, Bundesminister BMV . . . 169B Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE . 172A, 177A Glos CDU/CSU 174C, 177B Walther SPD 176A, 180D Roth SPD 176D Dr. Briefs PDS/Linke Liste 177 C Dr. Weng (Gerlingen) FDP 178D Nitsch CDU/CSU 181 B Dr. Seifert PDS/Linke Liste 183 C Schäfer (Offenburg) SPD 184B Gibtner CDU/CSU 187B Baum FDP 188D Frau Braband PDS/Linke Liste 190D Dr. Töpfer, Bundesminister BMU . . . 191B Schäfer (Offenburg) SPD 193A Dr. Feige Bündnis 90/GRÜNE 193D Dr. Blüm, Bundesminister BMA 195C Dreßler SPD 198B II Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 Cronenberg (Arnsberg) FDP 204 B Dreßler SPD 204C, 209A, 220C Dr. Schumann (Kroppenstedt) PDS/Linke Liste 206 C Frau Rönsch, Bundesminister BMFS . . 207 B Dr. Ullmann Bündnis 90/GRÜNE . . . 208A, B Frau von Renesse SPD 208B, C Schwarz CDU/CSU 209 D Frau Schenk Bündnis 90/GRÜNE . . . 210C Frau Dr. Merkel CDU/CSU 212 C Frau Dr. Höll PDS/Linke Liste 213A Frau Bläss PDS/Linke Liste 213A Frau Becker-Inglau SPD 214B Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Bundesminister BMBau 217B Reschke SPD 218B Conradi SPD 219A Scharrenbroich CDU/CSU 219D Dr. Ortleb, Bundesminister BMBW . . . 222D Kuhlwein SPD 223 C Nächste Sitzung 224 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 225* A Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 6. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 31. Januar 1991 95 6. Sitzung Bonn, den 31. Januar 1991 Beginn: 9.01 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Antretter SPD 31. 01. 91 * Bindig SPD 31. 01. 91 * Frau Blunck SPD 31. 01. 91 * Böhm (Melsungen) CDU/CSU 31. 01. 91 * Frau Brudlewsky CDU/CSU 31. 01. 91 Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 31. 01. 91 * Buwitt CDU/CSU 31.01.91 Erler SPD 31.01.91 Frau Eymer CDU/CSU 31. 01. 91 Dr. Feldmann FDP 31. 01. 91 * Frau Fischer (Unna) CDU/CSU 31. 01. 91 * Francke (Hamburg) CDU/CSU 31. 01. 91 Gattermann FDP 31.01.91 Dr. Gysi PDS 31. 01. 91 Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 31. 01. 91 Dr. Holtz SPD 31. 01. 91 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Kittelmann CDU/CSU 31. 01. 91 * Klinkert CDU/CSU 31.01.91 Dr. Köhler (Wolfsburg) CDU/CSU 31. 01. 91 Matschie SPD 31.01.91 Dr. Müller CDU/CSU 31. 01. 91 * Dr. Neuling CDU/CSU 31. 01. 91 Pfuhl SPD 31.01.91 Reddemann CDU/CSU 31. 01. 91 * Repnik CDU/CSU 31.01.91 Dr. Schäuble CDU/CSU 31. 01. 91 Dr. Scheer SPD 31. 01. 91 * Schmidbauer CDU/CSU 31.01.91 von Schmude CDU/CSU 31. 01. 91 * Frau Simm SPD 31. 01. 91 Dr. Soell SPD 31. 01. 91 * Dr. Sperling SPD 31. 01. 91 Spilker CDU/CSU 31.01.91 Steiner SPD 31. 01. 91 * Frau Wieczorek-Zeul SPD 31. 01. 91 Frau Wollenberger Bündnis 31. 01. 91 90/GRÜNE Wonneberger CDU/CSU 31.01.91 Zierer CDU/CSU 31. 01. 91 *
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Auf die Hoffnungen, die unser Volk und viele andere Bewohner des europäischen Hauses, ja weite Teile der Menschheit im vergangenen Jahr erfüllten, sind dunkle Schatten
    gefallen. Damals schien es uns, als habe ein neues Zeitalter begonnen, als sei ganz Europa auf dem Wege zu einer neuen Gemeinsamkeit in Frieden, Freiheit und Selbstbestimmung. Und wir hofften, der irakische Diktator könne von der Völkergemeinschaft ohne Krieg gezwungen werden, dem internationalen Recht Genüge zu tun und Kuwait zu räumen.
    Inzwischen sprechen am Golf seit 14 Tagen die Waffen. Eine uns nicht bekannte Zahl von Menschen hat bereits ihr Leben verloren; keiner weiß, wie viele noch folgen werden. Israel wird trotz seiner bewundernswerten Besonnenheit von irakischen Raketen heimgesucht und ist noch immer der Gefahr eines Gasangriffs ausgesetzt, bei dem viele Menschen in grausamster Weise zu Tode kommen würden.
    Durch die arabische Welt geht gleichzeitig eine Welle des Fundamentalismus. Durch den Persischen Golf treibt ein gewaltiger Ölteppich, ein zweiter ist offenbar im Entstehen, und die Gefahr weiterer substantieller Umweltschäden ist keineswegs gebannt.
    Ein Ende von alldem ist ungeachtet aller Anstrengungen der Anti-Saddam-Koalition zur Stunde nicht abzusehen. Der irakische Diktator droht sogar mit dem Einsatz bisher unbekannter Waffen, die dem Krieg — so sagt er mit widerwärtigem Zynismus —eine neue Qualität geben würden.
    Im Baltikum sind, wie seinerzeit in Prag, Panzer aufgefahren und Menschen bedroht und getötet worden, weil sie für ihre demokratischen Institutionen und ihr Recht auf Selbstbestimmung eintreten. Dort, aber auch sonst in der Sowjetunion, erheben von neuem Kräfte ihr Haupt, von denen wir alle gehofft hatten, sie seien endgültig überwunden. Offenbar wittern sie eine Chance, im Schatten des Golf-Krieges das alte System der Unfreiheit und Unterdrückung wiederherzustellen und der Reformpolitik Michail Gorbatschows einen entscheidenden Schlag zu versetzen.
    Diese weltpolitische Situation gibt der heutigen Aussprache über die Regierungserklärung des Herrn Bundeskanzlers einen besonderen Charakter. Das bedeutet nicht, daß wir die Unterschiede und Gegensätze, die zwischen uns in wichtigen Fragen bestehen, verschweigen oder als Opposition dort auf Kritik verzichten, wo wir sie aus unserer Verantwortung heraus für geboten halten. Im Gegenteil, es kann gerade jetzt noch notwendiger sein, sie mit Nachdruck zu äußern.



    Dr. Vogel
    Aber wir alle in diesem Hause — die SPD eingeschlossen — sind gut beraten, in dieser Situation zu unterscheiden, was jetzt wirklich wichtig und was weniger wichtig ist, und dort, wo Übereinstimmung besteht, diese auch auszusprechen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Wir waren zu Beginn des deutschen Einigungsprozesses zur Kooperation bereit. Wir glaubten, die Größe der Herausforderung erfordere dies. Es war in unseren Augen ein gravierender Fehler, daß Sie das damals abgelehnt haben. Viele Fehlentwicklungen in den neuen Bundesländern, die den Menschen dort schwer zu schaffen machen, haben auch hier ihre Wurzel. Der Fehler sollte jetzt nicht wiederholt werden.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Die Folgen könnten für unser Volk und seine Stellung in der Welt und in Europa noch gravierender sein.

    (Beifall bei der SPD)

    Zum Golfkonflikt sage ich: Die Gründe, aus denen wir uns vor Ablauf des Ultimatums gegen militärische Aktionen und für die Fortdauer der Sanktionen ausgesprochen haben, sind bis zur Stunde nicht widerlegt. Die Gefahren und die Risiken, die mit militärischen Aktionen voraussehbar verbunden waren und sind und vor denen kaum jemand so überzeugend gewarnt hat wie Paul Nitze, einer der erfahrensten amerikanischen Konflikt- und Abrüstungsexperten überhaupt, sind keineswegs gebannt. Im Gegenteil: Einige seiner Befürchtungen — es sind auch die unseren — , so die Zunahme des Fundamentalismus in der arabischen Welt, von Mauretanien bis in die Golfregion, und die Zerstörung der Umwelt durch die Ölkatastrophe, sind bereits eingetreten, und die Euphorie, ja vielerorts Kriegsbegeisterung, der ersten 24 Stunden

    (Bohl [CDU/CSU]: Bei wem denn?)

    — Entschuldigung, ich spreche nicht von Ihnen;

    (Bohl [CDU/CSU]: Aha!)

    aber wenn Sie eine gewisse Berichterstattung und gewisse Zeitungskommentare gelesen haben, dann werden Sie festgestellt haben, daß das die Wahrheit ist! —

    (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    hat inzwischen starker Ernüchterung und tiefer Sorge Platz gemacht.
    Dabei, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, wird das ganze Grauen des Krieges erst sichtbar werden, wenn die Kämpfe auf dem Boden wirklich beginnen. Und wenn an die Stelle einer Berichterstattung, die den Krieg als eine Art chirurgischen Eingriff erscheinen lassen will, die ungeschminkte Darstellung der Wirklichkeit tritt.
    Die Entscheidungen sind nach dem 15. Januar anders gefallen, als wir das gewünscht und befürwortet haben, und auch eine Opposition kann dann nicht in der Vergangenheit verharren, sondern muß sich der neuen Situation stellen. Darum sage ich: Jetzt muß es darum gehen, daß der Krieg so rasch wie möglich ein
    Ende findet. Ich füge hinzu: Das kann nicht allein der Anwendung militärischer Mittel überlassen bleiben;

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    vielmehr muß zu diesem Zweck jede Möglichkeit genutzt werden, damit erneut die Politik eine Chance erhält, das Recht mit gewaltlosen Mitteln wiederherzustellen.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Die Vereinten Nationen sollten deshalb eine Initiative für einen Waffenstillstand, zumindest für eine Feuerpause, ergreifen.
    Wir Sozialdemokraten wissen, daß es keinen einseitigen Waffenstillstand geben kann.

    (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Alle?)

    — Meine Damen und Herren, ich will nicht auf das gestrige Verfahren zurückgreifen. Ich bin durchaus mit Zurufen und auch mit Zwischenrufen einverstanden.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Sie sind auch keine Regierung!)

    Aber ich würde vorschlagen, daß wir uns heute in einer Art und Weise auseinandersetzen, wie es der gegebenen Situation entspricht.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir wissen, daß es keinen einseitigen Waffenstillstand geben kann. Wir wissen auch, daß Saddam mit seiner andauernden Weigerung, Kuwait zu räumen, und seinen andauernden Drohungen die Chance für einen solchen Waffenstillstand minimiert. Aber wir glauben, daß die politische Vernunft der vermeintlichen Logik des Krieges, von der in diesen Tagen so viel die Rede ist, nicht einfach das Feld überlassen darf.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie muß immer wieder versuchen, diese sogenannte Logik zu durchbrechen.
    Es ermutigt uns — ich glaube, es ermutigt uns alle — , daß der amerikanische und der sowjetische Außenminister vorgestern in einer gemeinsamen Erklärung ausdrücklich von der Möglichkeit einer Einstellung der Feindseligkeiten gesprochen haben.
    Der Einsatz deutscher Soldaten im Golfkrieg kommt nicht in Frage. Das wollen wir nicht, und das läßt unsere Verfassung nicht zu. Auch Sie, Herr Bundeskanzler, haben diese Auffassung gestern in Ihrer Regierungserklärung vertreten.
    Eine ähnlich präzise Äußerung hätten wir uns zu der Frage gewünscht, ob die Situation in der Türkei und die Entscheidungen der dortigen Regierung zur Bejahung des Bündnisfalls führen können, so präzise — nämlich: nein — , wie es beispielsweise die spanische Regierung und auch Herr Kollege Stercken als Vorsitzender des Auswärtigen Ausschusses formuliert haben. Sie, Herr Bundeskanzler, haben — das erkenne ich an — allerdings auch nichts gesagt, was unserem Nein widerspricht.



    Dr. Vogel
    Deutlicher, als Sie das getan haben — und ich gebe zu: vielleicht tun konnten —, möchte ich in diesem Zusammenhang die unangemessene Kritik des türkischen Staatspräsidenten an der Bundesrepublik Deutschland zurückweisen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Der türkische Staatspräsident täte besser daran, auf die Mahnungen der türkischen Opposition und der türkischen Armee zu hören und den Anschein zu vermeiden, es gehe ihm in dieser kritischen Situation in erster Linie um die Vergrößerung seines Einflußbereichs. Das Wort von der „Ordnungsmacht" in der Region läßt da aufhorchen.
    Deshalb sage ich klipp und klar — und das auch an die Adresse von Herrn Wörner — : Ob sich die Bundesrepublik an militärischen Maßnahmen auf der Grundlage von UNO-Beschlüssen beteiligen kann und will, entscheidet allein sie, und nicht an ihrer Stelle der türkische Staatspräsident oder der Generalsekretär der NATO.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Und in der Bundesrepublik, so füge ich hinzu, entscheidet über Krieg und Frieden und folglich auch über den Bündnisfall, anders als in Diktaturen und ebenso wie zuletzt in den Vereinigten Staaten, in Großbritannien, in Frankreich und in Italien die Volksvertretung.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE )

    Zur Wahrung dieser Position, bei der es sich um ein Kernprinzip der parlamentarischen Demokratie handelt, müssen wir uns erneut alle geeigneten Schritte vorbehalten. Ich anerkenne, daß inzwischen auch durch Ihre briefliche Bestätigung sichergestellt ist, daß, wenn — was keiner hier hofft — eine entsprechende Entwicklung eintreten sollte, der Bundestag seine politische Willensbildung auf jeden Fall vorher vornehmen kann.
    Die Entsendung von Einheiten der Bundeswehr in die Türkei halten wir angesichts dieser von mir soeben erläuterten Sach- und Rechtslage und auch in Anbetracht dessen, was ich an die Adresse des türkischen Staatspräsidenten gesagt habe, für politisch falsch.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Sie bringt uns der Gefahr näher, daß die Bundesrepublik in solche militärischen Aktivitäten verwickelt wird, an denen teilzunehmen uns das Grundgesetz nicht erlaubt.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie haben sich in Ihrer Regierungserklärung mit der Frage finanzieller und anderer Hilfen im Zusammenhang mit dem Golfkrieg beschäftigt. Dazu sage ich, daß wir humanitäre Hilfen jeder Art, die geeignet sind, das Leid der vom Krieg Betroffenen zu lindern und Leben zu retten, uneingeschränkt befürworten.

    (Beifall bei der SPD)

    Dazu gehört jedenfalls für mich — das sage ich aus aktuellem Anlaß — selbstverständlich auch die Pflege verwundeter und verletzter Soldaten, wenn darum ersucht wird.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Rüttgers [CDU/CSU])

    Ebenso befürworten wir materielle Hilfen für die von dem Embargo und den Kriegsfolgen in Mitleidenschaft gezogenen Länder.
    Außerdem — wir sind Realisten — können sich aus unserer Integration in die NATO-Strukturen — diese Integration hat sich in der Vergangenheit durchaus auch zu unseren Gunsten ausgewirkt — gewisse Zwangsläufigkeiten ergeben. Die von Ihnen angekündigten Zusagen, Herr Bundeskanzler, die sich inzwischen offenbar auch auf Großbritannien erstrekken, werden wir unter diesen Gesichtspunkten prüfen, sobald wir wissen, wofür welche Summen verwendet werden sollen. Ich sage allerdings: Die Erhebung einer Kriegssteuer und die Einführung eines Umlage- und Abruf- — —

    (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Unglaublich! — Bohl [CDU/CSU]: „Kriegssteuer", was soll denn das? — Dr. Geißler [CDU/CSU]: Eine Steuer für die Beseitigung des Krieges! — Zuruf von der CDU/CSU: Ein ganz böses Wort!)

    — Ich bitte um Entschuldigung. Die Einführung einer solchen Steuer und die Einführung eines Umlage- und Abrufverfahrens

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das ist der Stil, den Sie hier erbitten!)

    für finanzielle Beiträge lehnen wir ab. Ein solches Recht könnte unseres Erachtens allenfalls von den Vereinten Nationen als Institution in Anspruch genommen werden.

    (Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/ CSU]: Haben Sie sich jetzt von der Kriegssteuer distanziert?)

    Die Solidarität mit Israel

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Üble Sprache!)

    haben wir vor wenigen Tagen gegenüber dem israelischen — —

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Eine ganz üble Sprache!)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Darf ich bitten, jetzt zuzuhören. Ich wiederhole das von gestern: Wir sind in der Aussprache. Wir werden unsere Stellungnahmen abgeben. Versuchen wir, einander anzuhören!

(Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Aber das mit der Kriegssteuer muß weg, Herr Vogel!)


  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Meine Damen und Herren, ich habe von der besonderen Situation gesprochen, in der diese Debatte stattfindet. Wenn es Ihnen hilft — ich will hier durchaus meinerseits einen Beitrag leisten —, dann sage ich: die Erhebung einer Steuer aus diesem Grund und in diesem Zusammenhang.

    (Bohl [CDU/CSU]: Akzeptiert!)




    Dr. Vogel
    Die Bewertung, ob der Ausdruck, den ich vorhin verwendet habe, die Sachlage trifft oder nicht, können wir dann den Menschen draußen überlassen. Ich sage das nur, damit wir hier zu einer Entspannung kommen.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich bitte jetzt um Aufmerksamkeit, weil ich einen Punkt behandeln will, in dem ich große, breite Übereinstimmung in diesem Hause feststelle. Dabei geht es um die Solidarität mit Israel. Die Regierung, die Koalition und die Opposition haben die Solidarität mit Israel vor wenigen Tagen in Jerusalem gegenüber dem israelischen Staatspräsidenten gemeinsam bekräftigt. Die Gerechtigkeit gebietet es übrigens, darauf hinzuweisen, daß zwei Mitglieder dieses Hauses, nämlich Konrad Weiß und Freimut Duve, dies schon einige Tage vorher an Ort und Stelle getan haben.

    (Klein [München] [CDU/CSU]: Und Herr Gauweiler!)

    — Ich spreche von den Mitgliedern dieses Hauses.
    Diese Solidarität hat ihre Wurzeln in dem dunklen Kapitel unserer Geschichte, an das zu erinnern wir gerade jetzt immer wieder Anlaß haben. Diese Solidarität ist jetzt in besonderem Maße gefordert, weil sich die Angriffe und Drohungen Saddams gegen ein Land richten, das sich selbst mit einer unglaublichen Disziplin an Kampfhandlungen nicht beteiligt und das Saddam deshalb existentiell bedrohen kann, weil Deutsche ihm dazu Hilfe geleistet haben — übrigens, wie wir seit wenigen Tagen wissen, nicht nur bei der Gasproduktion, sondern auch bei der Veränderung der Raketen, damit sie eine Reichweite von 800 km haben.
    In Anbetracht dieser besonderen, so nur im Fall Israels gegebenen Situation sind wir damit einverstanden, daß Israel auf sein Ersuchen hin aus den Beständen der Bundeswehr solche Geräte zur Verfügung gestellt werden, die wie die Partiot-Raketen geeignet sind, bemannte oder unbemannte Flugkörper zu zerstören, bevor diese ihrerseits tödliche Zerstörungen bewirken, oder die geeignet sind, Giftgas aufzuspüren. Auf die Lieferung von U-Booten kann sich allerdings aus den dargelegten Gründen unsere Zustimmung nicht erstrecken.
    Die Solidarität, von der ich spreche, schließt Meinungsverschiedenheiten — etwa in der PalästinenserFrage oder in der Frage einer internationalen Konferenz — nicht aus. Sie schließt aber aus, daß die Bundesregierung ihren bisherigen Kurs in der Frage der Rüstungsexporte und der Behandlung von Verstößen gegen die Exportverbote fortsetzt.

    (Beifall bei der SPD — Gerster [Mainz] [CDU/ CSU]: Wie war das mit Wischnewski?)

    Es ist leider die Wahrheit, wenn ich feststelle: Die Bundesregierung und die Koalition haben auf diesem Gebiet bisher Falsches getan und Notwendiges unterlassen.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Wie war das denn bei Ihnen, Herr Justizminister Vogel?)

    Sie haben unsere immer wieder erneuten Vorstöße
    und Vorschläge Mal für Mal abgelehnt und — ich
    bedauere, das sagen zu müssen — unseren Kollegen
    Gansel, der für uns unermüdlich auf die schlimmen Folgen dieser Haltung hingewiesen hat, sogar persönlich diffamiert.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Nicht wenigen Repräsentanten der Koalition lag es in diesem Zusammenhang offenbar mehr am Herzen, die Freiheit der wirtschaftlichen Betätigung und die Freiheit des Handels gegen, wie es immer wieder hieß, nicht akzeptable Einschränkungen zu verteidigen, als dem Geschäft mit dem Tod einen wirksamen Riegel vorzuschieben.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Manch einer wäre heute wahrscheinlich froh, wenn das, was er dazu früher gesagt hat, aus den Protokollen gelöscht und getilgt wäre. Wollen Sie denn bestreiten, — —

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Jetzt sagen Sie mal was zu Wischnewski!)

    — Auch Sie, Herr Zwischenrufer! (Dr. Hornhues [CDU/CSU]: Gerster!)

    — Das ist der Herr, der sich nicht in die Regierung abschieben lassen wollte, wie ich heute gelesen habe. Ja, Herr Gerster!

    (Heiterkeit bei der SPD)

    Wollen Sie denn bestreiten, daß im Fall Rabta erst amerikanischer Druck und der Aufstand der öffentlichen Meinung zu Reaktionen geführt haben? Wollen Sie bestreiten, daß die Vorlage, die Ihre Regierung nach Rabta eingebracht hat, in der zweiten und dritten Lesung an wesentlichen Stellen verbessert worden ist? Ist es nicht die Wahrheit, daß erst im Bundesrat die sozialdemokratisch geführten Länder, die damals über eine Mehrheit verfügten, wenigstens einen Teil der Verschärfungen, die die Bundesregierung unter dem Eindruck von Rabta der amerikanischen Regierung versprochen hatte, wiederhergestellt haben?

    (Beifall bei der SPD)

    Außerdem — ich sage das ganz ruhig, um dadurch die Bedeutung zu unterstreichen — : Die Meldung, daß noch 1989 die Ausfuhr von Raketenteilen in den Irak bewilligt und zum Teil sogar mit Hermes-Bürgschaften abgesichert wurde, ist ja inzwischen sogar vom Bundeswirtschaftsministerium im wesentlichen bestätigt worden.

    (Opel [SPD]: Das war alles illegal!)

    Die Tragweite dieses Vorgangs bedeutet, daß, jedenfalls — ich drücke mich vorsichtig aus — unter Befassung von Bundesbehörden, deutsche Firmen sogar noch mit Hermes-Bürgschaften daran mitgewirkt haben, die Reichweite dieser Raketen — darum geht es nämlich — so zu verlängern, daß sie Israel erreichen können. Diese Tragweite ist uns allen noch nicht vollständig bewußt.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Dregger [CDU/ CSU]: Dazu wird der Bundeswirtschaftsminister Stellung nehmen!)




    Dr. Vogel
    Inzwischen ist offenbar ein Sinneswandel eingetreten. Aber es genügt nicht, wenn jetzt alle unserer Forderung zustimmen, die Exporteure des Todes, insbesondere diejenigen, die Gas, Israelis, also Juden, und Deutsche wieder in einen furchtbaren Zusammenhang gebracht haben, wie Schwerverbrecher zu behandeln. Es muß in kürzester Zeit entschieden werden. Der Antrag, den wir vorgelegt haben, gibt dazu schon morgen erneut Gelegenheit. Die notwendigen Gesetzesbeschlüsse müssen sofort folgen.
    Als einer, der damals Justizminister war, sage ich: Wenn es möglich war — ich stehe bei aller Skepsis nach wie vor dazu — , ein Kontaktsperregesetz innerhalb einer Woche durch die Gesetzgebungsorgane zu bringen, dann muß es möglich sein, auf diesem Gebiet in einer vergleichbar kurzen Zeit zu einer Entscheidung zu kommen.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie des Abg. Dr. Dregger [CDU/ CSU])

    Die bestürzende Äußerung des Präsidenten des Bundesverbandes der Deutschen Industrie, daß es sich bei diesen Exporten — ich zitiere jetzt wörtlich — um ganz normale Geschäfte gehandelt habe, zeigt, wie skandalös unzulänglich das geltende, von der Mehrheit zu verantwortende Recht ist. Ich hoffe im übrigen zugunsten des genannten Präsidenten, daß er sich der Tragweite dessen, was er für normal erklärt, bei dieser Äußerung nicht bewußt war.

    (Dr. Geißler [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

    Ich verstehe, daß die Verwicklung deutscher Firmen in solche Geschäfte auch im Ausland kritisiert wird. Wir sind die letzten, die die Berechtigung solcher Kritik bestreiten, insbesondere wenn sie von Israel geübt wird. Diese Kritik unserer ausländischen Freunde wäre — das füge ich hinzu — allerdings noch überzeugender, wenn unsere Freunde und Verbündeten auch ihre eigene Politik auf diesem Gebiet einer sorgfältigen Prüfung unterziehen würden;

    (Beifall bei der SPD)

    denn Saddams Waffen stammen nun wahrlich nicht nur aus der Bundesrepublik. Mancher Soldat am Golf wird sich seine eigenen Gedanken darüber machen, daß er mit Waffen bekämpft und bedroht wird, die aus seinem eigenen Land geliefert wurden. Wahrscheinlich wäre es gut, jetzt diese Erkenntnis und das starke Engagement der Öffentlichkeit zu nutzen, daß dieser ganze Komplex nach Ende des Krieges zum Gegenstand einer internationalen Untersuchung und einer internationalen Aktivität gemacht wird.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP)

    Ich kann jedenfalls zwischen dem internationalen Drogenhandel, der ja mit zunehmender Entschiedenheit bekämpft wird, und dem internationalen Waffenhandel keinen Unterschied erkennen,

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie bei Abgeordneten der CDU/ CSU und der FDP)

    höchstens den, daß der Waffenhandel noch gefährlicher ist als der Drogenhandel.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Herr Bundeskanzler, Sie haben sich in Ihrer Regierungserklärung mit der Friedensbewegung beschäftigt. Ich sage freimütig: Mir hat auch nicht alles gefallen, was in den letzten Wochen von Anhängern der Friedensbewegung gesagt oder geschrieben worden ist. Auch die Frage, warum wir alle — nicht nur die Friedensbewegung — nicht schon bei früheren Gelegenheiten protestiert haben, kann man gewiß nicht einfach beiseite schieben. Aber es ist nicht fair, die Frage, warum z. B. gegen den iranisch-irakischen Krieg, bei dem eine Million Menschen, darunter viele Kinder, ums Leben gekommen sind, nicht lauthals protestiert wurde, nur an die Friedensbewegung zu richten;

    (Beifall bei der SPD)

    die müssen wir an alle, auch an Sie, auch an uns, richten.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE sowie des Abg. Dr. Geißler [CDU/ CSU])

    Was diese kritischen Bemerkungen angeht, so stimme ich ausdrücklich der Kritik des Kollegen Konrad Weiß aus der Friedensbewegung zu. Auch Joschka Fischer hat sich in ähnlicher Weise geäußert.

    (Roth [Gießen] [CDU/CSU]: Gysi auch!)

    Die generellen Verurteilungen, die in den letzten Tagen zu hören waren und denen Sie sich, wenn ich es richtig verstanden habe, in der Regierungserklärung gestern leider angeschlossen haben, und insbesondere die Kritik an der Demonstration am letzten Samstag hier in Bonn muß ich für die deutsche Sozialdemokratie jedoch entschieden zurückweisen.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Modrow [PDS/Linke Liste])

    Man kann ja alles das, was diese Menschen sagen, für falsch halten. Aber wer Krieg für etwas Furchtbares hält und ihn für seine Person nicht mehr als Mittel der Politik akzeptiert, wer dafür eintritt, daß an die Stelle eines schlimmen Übels nicht ein noch schlimmeres gesetzt wird, der ist weder ein Feind Israels noch ein Feind Amerikas,

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Das hat doch keiner behauptet!)

    sondern einer, der seine respektable Meinung zur Kenntnis bringt;

    (Beifall bei der SPD)

    der spricht aus — ich glaube, auch die, die anderer Meinung sind, müssen das zur Kenntnis nehmen —, was viele Menschen bewegt.
    Weil von der Sorge um das deutsche Ansehen die Rede war, sage ich: Das deutsche Ansehen ist durch die Giftgas- und Waffenlieferanten und durch die beschädigt worden, die ihnen nicht rechtzeitig das Handwerk gelegt haben, nicht aber durch junge Men-



    Dr. Vogel
    schen, die auf ihre Weise dem Frieden zu dienen versuchen.

    (Beifall bei der SPD, der PDS/Linke Liste und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    Das sage ich auch gegenüber ausländischen Kritikern bei allem Verständnis für rasche Bewegungen in den letzten Tagen.
    Auch unsere ausländischen Freunde müssen sich daran erinnern lassen, daß sie zum Teil noch vor wenigen Monaten im Zusammenhang mit der deutschen Einigung davor gewarnt haben, daß hier wieder eine — wie soll ich mich ausdrücken? — sehr militante, dem Krieg zugeneigte Stimmung entstehen könnte. Unsere ausländischen Freunde müssen uns sagen, was sie eigentlich kritisieren wollen. Ich bitte unsere ausländischen Freunde, auf der Grundlage unserer Geschichte zu verstehen, daß sie vor Deutschen, die sich — wenn mitunter auch mit falschen Parolen — für den Frieden äußern, weniger Sorge zu haben brauchen als vor dem, was in der Vergangenheit schon einmal war.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP, der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Vielleicht kann das die Oppositon — es gibt ja auch in anderen Ländern ein Zusammenwirken — noch deutlicher aussprechen, als es anderen möglich ist; das wäre auch eine sinnvolle Aufgabenverteilung.
    Jetzt noch ein Wort zum deutsch-amerikanischen Verhältnis. Wir fühlen uns dem amerikanischen Volk freundschaftlich verbunden.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Lafontaine aber nicht!)

    Wir haben nicht vergessen

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wir auch nicht!)

    — Sie haben leider zuviel vergessen; ich habe Ihnen gerade im Zusammenhang mit dem Waffenexport ein Kapitel vorgetragen —,

    (Beifall bei der SPD)

    was Amerika zusammen mit anderen getan hat, um uns und Europa von der Gewaltherrschaft Hitlers zu befreien. Wir haben auch nicht vergessen, wie uns nach dem Krieg geholfen wurde.
    Wir bejahen das Bündnis. Es bedrückt uns, daß amerikanische Soldaten und Soldaten anderer Nationen ihr Leben auch deswegen einsetzen und verlieren, weil der Diktator über ein Potential gebietet, das ihm ohne Mithilfe von Deutschen so nicht zur Verfügung stünde.
    Uns steht auch klar vor Augen, welche Last gerade die Vereinigten Staaten auf sich genommen haben. Aber unsere Verbündeten wußten und wissen, wo nach unserer Verfassung die Grenzen unserer Beteiligung an UNO-Maßnahmen liegen. Und niemand hat das Recht, denen Antiamerikanismus vorzuwerfen, die Argumente verwenden und Ansichten äußern, die auch in Amerika — selbst bis in den Kongreß hinein;
    Paul Nitze habe ich zitiert — tagtäglich geäußert werden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Zu den Vorgängen im Baltikum hat sich der Bundestag am 14. Januar 1991 in einer nahezu einstimmigen Entschließung geäußert. Ich bekräftige die dort ausgesprochene Verurteilung militärischer Gewaltanwendung, und ich wiederhole den Appell an alle Verantwortlichen, die Konflikte durch friedliche Verhandlungen zu lösen. Niemand könnte es verantworten, wenn es im Baltikum zu weiterem Blutvergießen käme. Ich füge übrigens in Parenthese hinzu: Unser Blick richtet sich nur auf das Baltikum. Es gibt aber auch andere Republiken im Süden der Sowjetunion, wo sich ähnliche Entwicklungen vollziehen.
    Ich sage noch einmal: Niemand könnte es verantworten, wenn es im Baltikum zu weiterem Blutvergießen käme, die Sowjetunion auf die alten Formen der Machtausübung zurückgeworfen würde und Europa in die Zeiten der Konfrontation zurückfiele.
    Michail Gorbatschow weiß — da stimme ich dem Bundeskanzler zu — , daß dabei alles auf dem Spiel steht, was er bisher bewirkt hat. Ich glaube nach wie vor nicht, daß dieser Mann sein eigenes Werk zerstören will. Wir — und nicht nur wir — sollten alles tun, um Gorbatschow zu helfen, damit er stark genug bleibt, um andere an solchen zerstörerischen Aktivitäten zu hindern. Der Teilabzug sowjetischer Truppen aus dem Baltikum, von dem gestern und heute als Folge des Treffens in Washington berichtet wird, ist immerhin ein Zeichen der Ermutigung.
    Ihren Darlegungen zur weiteren Entwicklung der Europäischen Gemeinschaft, zu unserem Verhältnis gegenüber den osteuropäischen Ländern und zur Nord-Süd-Problematik können wir in einer ganzen Reihe von Punkten zustimmen. In der Tat ist unsere Verantwortung, die Verantwortung der Bundesrepublik, auf diesen Gebieten durch die Ereignisse der letzten Jahre noch größer geworden. Wir werden allerdings sorgfältig darauf achten — das ist unsere Aufgabe als Opposition — , daß den Worten und den Ankündigungen jeweils auch die Konsequenzen, die Taten folgen.
    Am Anfang jeder neuen Legislaturperiode stehen Koalitionsverhandlungen und die Regierungsbildung. Die Koalitionsverhandlungen — das ist mir von Teilnehmern bestätigt worden — waren quälend.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Namen nennen! — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Na! Na!)

    — Sie waren nicht dabei. Sie kann ich ausnahmsweise nicht nennen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

    Nachdem er dabei war, hat er gesagt, er wolle nicht Parlamentarischer Staatssekretär werden. Da will er nicht reingehen. Das hat er gesagt.

    (Kraus [CDU/CSU]: Ungeheuer beeindrukkend!)

    Die Koalitionsverhandlungen — ich muß es wiederholen — waren quälend und in der Beliebigkeit, mit der immer neue Vorschläge präsentiert und auch



    Dr. Vogel
    — ich muß es leider so nennen — Schaukämpfe aufgeführt worden sind, keine Werbeveranstaltung. Und das vor allem vor dem Hintergrund der bedrohlichen Entwicklung am Golf und im Baltikum. Der Eindruck, jedenfalls Teilen der Koalitionsparteien seien parteipolitische Streitereien auch in dieser Zeit wichtiger als die Befassung mit Krisen, die der Welt den Atem verschlugen, wird Ihnen noch einige Zeit anhaften.
    Inzwischen gehen diese Streitigkeiten aber offenbar munter weiter. Die Art und Weise, in der das offizielle Organ der Christlich-Sozialen Union gestern über Herrn Genscher hergefallen ist, läßt für die Zukunft noch einiges erwarten. Ich verhehle nicht
    — auch wenn es da und dort Stirnrunzeln verursachen sollte — , auf welcher Seite in dieser Auseinandersetzung meine persönlichen Sympathien liegen.

    (Beifall bei der SPD — Lachen bei der CDU/ CSU)

    Ich füge nun mit einem etwas größeren Ernst hinzu, meine Damen und Herren: Mir ist wohler, daß in dieser Situation ein Mann Außenminister ist, der von der Seite in der Weise angegriffen wird, als wenn dort ein Mann militanter Auffassungen zwar den Beifall des „Bayernkurier", aber nicht den hier im Hause hätte.

    (Beifall bei der SPD und der FDP)

    Die Regierung, die Sie, Herr Bundeskanzler, soeben gebildet haben, zeichnet sich — das wird Sie selbst nicht überraschen — eher durch Quantität aus. Sie zählt insgesamt 19 Mitglieder und bis zur Stunde
    — wir kommen mit dem Zählen gar nicht so schnell nach — insgesamt 58 Parlamentarische und beamtete Staatssekretäre. Nach den jüngsten Wasserstandsmeldungen sind es also 77 Regierungspersonen. Diese Aufblähung und wunderbare Vermehrung verursacht einen Mehraufwand in zweistelliger Millionenhöhe, und das zu einem Zeitpunkt, zu dem Sie von der Notwendigkeit von Einsparungen an anderer Stelle und sogar von Steuererhöhungen reden.
    Als ärgerlich empfinden es viele auch, daß die Präsenz der Frauen im Kabinett nur durch einen Trick verstärkt worden ist, nämlich durch die Dreiteilung eines Ressorts, dessen Zuständigkeiten schon bisher eher kärglich waren.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Wenn gerade die Frauen in dieser Dreiteilung einer „Lehr-Einheit" eine Geringschätzung sehen

    (Heiterkeit bei der SPD)

    und fragen, ob so etwas auch mit Männern gemacht worden wäre, dann kann ich das gut verstehen.

    (Beifall bei der SPD)

    Von den personellen Entscheidungen — auch dies zu würdigen ist die Pflicht der Opposition — sind sicherlich die Berufung des Herrn Kollegen Möllemann zum Wirtschaftsminister und seine Betrauung mit der Bekämpfung des Rüstungsexports die originellste Entscheidung.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/GRÜNE)

    In diesem Punkt stimme ich nun wieder dem „Bayernkurier" zu.
    Hinsichtlich der Qualifikation des Herrn Möllemann verweise ich auf die Bekundung eines sachverständigen Zeugen, der heute leider nicht anwesend ist, aber auf den ich mich gelegentlich berufen kann, nämlich die des Grafen Lambsdorff.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Sie waren doch auch Lehrer und dann Justizminister! Was soll denn das?)

    — Ich muß sagen: Ihre geistigen Anstrengungen überschreiten heute morgen wirklich das bisher Gewohnte. —

    (Beifall bei der SPD)

    Der sachverständige Zeuge Graf Lambsdorff hat nämlich im Zusammenhang mit dieser Personalentscheidung, als er sie noch bekämpfte, — —

    (Heiterkeit bei der SPD)

    — Beim Grafen ändert sich das ja manchmal. Wenn er Rechtsauskünfte bekommt, dann ändert sich das ja auch gelegentlich.
    Als er sie noch bekämpfte, hat er der Öffentlichkeit mitgeteilt — das Zitat steht hier zur Abholung gerne zur Verfügung — , daß bei ihm, also dem Grafen, vor allem von seiten kleiner und mittlerer Unternehmen massenhaft Protest eingegangen sei und die Frage aufgeworfen worden sei: Ist die FDP verrückt geworden? Offenbar hat der Graf keinen Grund gesehen, diese Frage zu verneinen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    In die weitere Entwicklung dieser vom Grafen aufgeworfenen Frage mischen wir uns nicht ein; aber zitieren dürfen wir sie.
    Originell ist auch, Herr Bundeskanzler, die Berufung des Herrn Kollegen Spranger zum Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Jetzt gehen Sie aber zu weit!)

    — Nein, ich gehe nur bis ins protestantische Franken, Herr Bötsch. — Welche Überlegungen zu dieser Berufung geführt haben, wird Ihr Geheimnis bleiben. Ich bin im Zweifel, ob die Länder der Dritten Welt diese Ernennung als Beweis dafür ansehen, daß der NordSüd-Problematik besondere Bedeutung beigemessen wird.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Meine Damen und Herren, gefreut haben wir uns ungeachtet aller Meinungsverschiedenheiten darüber, daß Herr Kollege Schäuble sein Amt fortführt.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP, beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Das setzt ein beachtliches Beispiel und wird viele, die
    sich in vergleichbaren Situationen befinden, ermuti-



    Dr. Vogel
    gen, diesem Beispiel zu folgen und nicht aufzugeben.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und beim Bündnis 90/GRÜNE)

    Zum innenpolitischen Teil der Regierungserklärung werden sich meine Kollegen und Kolleginnen im einzelnen äußern. Ich konzentriere mich auf vier Punkte: erstens auf die Art und Weise Ihres Umgangs mit den Versprechen, die vor der Bundestagswahl gemacht wurden, zweitens auf das Fehlen eines schlüssigen Konzepts für die gesellschaftliche Einigung Deutschlands, die jetzt der staatlichen Einigung folgen muß, drittens auf die Frage nach der ökologischen Erneuerung unserer Wirtschaft und unserer Gesellschaft und viertens auf die Frage nach dem, was in den nächsten vier Jahren geschehen muß, um das tägliche Wohlergehen der Menschen zu sichern, die uns ja gerade auch deshalb gewählt haben.
    Vor der Wahl — ich kann das nicht ausklammern — haben Sie den Menschen in den neuen Bundesländern gesagt, es werde niemandem schlechtergehen als zuvor; Sie selber kennen das Zitat. Den Wählerinnen und Wählern in den alten Bundesländern haben Sie gesagt — wörtliches Zitat — : „Keiner wird wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten müssen."

    (Austermann [CDU/CSU]: Nein, weniger haben!)

    — Entschuldigung, vielleicht können Sie sich nachher das Zitat in Fotokopie von mir geben lassen. Aber ich lese es Ihnen auf Grund Ihres Zwischenrufes auch gerne noch einmal vor.

    (Hornung [CDU/CSU]: Wer hat denn heute schon verzichtet? Niemand!)

    Das Zitat steht im Bulletin der Bundesregierung — das ist sicherlich keine Fehlmeldung — :
    Und für die Menschen der Bundesrepublik gilt: Keiner wird wegen der Vereinigung Deutschlands auf etwas verzichten müssen.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das stimmt doch! Wer hat denn bisher verzichtet?)

    — Würden Sie vielleicht etwas Geduld haben?

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie haben bei der Wahl auf Stimmen verzichtet! Das ist alles!)

    Graf Lambsdorff hat für seine Partei das gleiche erzählt. Er hat sogar vor wenigen Tagen, am 13. Januar, diesmal kurz vor der Wahl in Hessen, noch einmal wörtlich beteuert:
    Es bleibt dabei, daß Steuererhöhungen zur Finanzierung der deutschen Einheit nicht notwendig sind.

    (Beifall bei der FDP)

    In aller Ruhe sage ich: Das war nicht redlich. Sie haben diese Versprechen ja auch nicht halten können; Sie haben sie gebrochen.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP — Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Wo denn?)

    — Hören Sie doch in Ruhe zu; es kommt ja alles.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sagen Sie einmal, wo! Einen Satz darüber, wo!)

    — Entschuldigung, Herr Gerster, ich bitte, zur Kenntnis zu nehmen, daß ich meine Rede so halte, wie es mir paßt, und nicht so, wie es Ihnen paßt.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie haben sich mit allerlei Spitzfindigkeiten und Wortklaubereien über den angeblichen Unterschied zwischen Steuern, Abgaben und Gebühren oder die Gründe für die Steuererhöhungen herauszureden versucht.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Es gibt doch Unterschiede!)

    Wie wäre es eigentlich gewesen, wenn Sie vor der Wahl im Herbst folgendes gesagt hätten: Wir sind dankbar, daß die staatliche Einheit gelungen ist und die Zustimmung unserer Nachbarn, Verbündeten und Partner gefunden hat. Aber — so hätte man fortfahren können — ihre gesellschaftliche Vollendung wird noch große Anstrengungen erfordern.

    (Zurufe von der CDU/CSU: Hat er doch gesagt! — Logisch!)

    Jede und jeder in der ehemaligen DDR wird den Übergang von dem bisherigen System und seiner schlimmen Hinterlassenschaft zur neuen Ordnung spüren, und vielen wird zunächst an Umstellung und an Veränderung der Lebensgewohnheiten sowie an existentiellen Unsicherheiten eine ganze Menge zugemutet werden, bevor es dann wirklich aufwärtsgeht.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Was hat denn der Oskar gesagt?)

    Die Menschen in den alten Bundesländern — so hätte man weiter sagen können — werden Verzichte leisten müssen; denn die Teilung kann nun einmal nur durch Teilen überwunden werden. Dafür — so hätte man fortfahren können — sind große Summen erforderlich. Wir werden sie in sozial gerechter Weise nicht nur durch Einsparungen, sondern auch durch Steuererhöhungen aufbringen. Zu diesem Zweck wird zunächst die im Grundgesetz vorgesehene Ergänzungsabgabe erhoben.

    (Beifall bei der SPD)

    Das haben wir gesagt. Sie haben das nicht gesagt. Sie haben uns und vor allem Oskar Lafontaine deswegen kritisiert.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sie doch auch!)

    Sie haben die Größe der Aufgabe beschönigt. Ich glaube, das war ein kardinaler Fehler. Denn die Geschichte zeigt: Die solidarischen Kräfte eines Volkes weckt man nicht, indem man die Lage verschleiert. Man weckt die Kräfte zu gemeinsamer Anstrengung, indem man den Menschen die Wahrheit sagt und sie dann an der Anstrengung teilnehmen läßt.

    (Beifall bei der SPD)

    Jetzt hat Sie die Wirklichkeit eingeholt. Die Menschen in den neuen Bundesländern sind desillusioniert. Schlimme Parolen, die unter die Menschen gebracht werden, finden leider nicht sofort und hundertprozentig Ablehnung. Vor allem die Arbeitslosigkeit



    Dr. Vogel
    bedrückt sie. Unter Einschluß der Kurzarbeit sind jetzt schon fast 2,5 Millionen Männer und Frauen in den neuen Bundesländern davon betroffen. Und wir alle wissen: Wenn am 31. März 1991 die Übergangszahlungen für diejenigen auslaufen, die in großer Zahl aus dem öffentlichen Dienst ausscheiden mußten — das geben wir zu — , dann wird die Arbeitslosigkeit noch einmal steigen.
    Die Defizite der neuen Bundesländer und ihrer Gemeinden sind von Ihnen stets zu niedrig angesetzt worden. Ich erinnere mich an die Gespräche von damals, als es um den Einigungsvertrag ging. Herr Kollege Waigel, als Walter Romberg, der sozialdemokratische Finanzminister der damaligen DDR, die Defizite im Sommer 1990 mit rund 90 Milliarden DM bezifferte, haben Sie ihn als Defätist bezeichnet und seine Ablösung gefordert. Heute sprechen Sie selber schon von 115 Milliarden DM. Das ist aber immer noch zuwenig. Sonst würden doch die Ministerpräsidenten von Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern, die Herren Biedenkopf und Gomolka, und der anderen Bundesländer nicht fast täglich vor der unmittelbar bevorstehenden Zahlungsunfähigkeit ihrer Länder und Gemeinden warnen.
    Herr Romberg hat sehr viel mehr Recht gehabt als Sie, und Sie haben seine Ablösung gefordert. Ich will diese gedankliche Logik nicht weiterführen, weil ich nicht für solche Forderungen bin.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Aber das, was Sie heute sagen, Herr Waigel, wird doch von den Herren Biedenkopf, Gomolka, Kühbacher, Stolpe usw. als weit hinter der Wirklichkeit zurückbleibend beschrieben.
    Inzwischen sind Sie übrigens natürlich auch dabei, die Steuern zu erhöhen — ich meine nicht die gestrige Erklärung, sondern die von vorher — , und zwar — das beklagen wir zusätzlich — unter Mißachtung der Gebote der sozialen Gerechtigkeit. Was ist denn die Verteuerung des Telefonierens anderes als eine Telefonsteuer,

    (Beifall bei der SPD)

    die vor allem Menschen trifft, die auf das Telefonieren angewiesen sind, weil sie sonst vereinsamen? Herr Schwarz-Schilling hat doch mit jeder wünschenswerten Deutlichkeit gesagt, daß er das Geld nicht für die Zwecke der Post braucht, etwa dafür — was wir befürworten würden — , um in den neuen Bundesländern noch rascher bessere Leitungen zu bauen, sondern weil ihm höhere Ablieferungen auferlegt worden sind. Man kann darüber streiten wie ein Advokat, aber das ist eine Telefonsteuer. Sie sollten das zugeben.

    (Beifall bei der SPD)

    Das ist nun eine der Erläuterungen, die Herr Gerster haben wollte.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Aber mangelhaft!)

    Die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung werden um rund 60 % erhöht. Dies ist die reale Steigerung. Es ist immer ein bißchen täuschend, wenn von 2,5 Prozentpunkten die Rede ist. Die Beiträge werden um 60 % erhöht. Das ist im Ergebnis, in der Wirkung eine Steuer. Denn die Milderung und Überwindung der Arbeitslosigkeit, die sich aus der notwendigen Aufarbeitung der schrecklichen Hinterlassenschaft und der Umstellung ergibt, ist eine Gemeinschaftsaufgabe, die uns alle angeht und die deshalb von uns allen, von unserem Gemeinwesen insgesamt finanziert werden müßte. Sie ziehen allein die Arbeitnehmer und ihre Arbeitgeber heran. Warum eigentlich? Warum bleiben denn alle übrigen, etwa die Selbständigen, die Beamten oder die Besitzer großer Vermögen, verschont?

    (Beifall bei der SPD)

    Wo bleiben diesmal die Krokodilstränen, die Graf Lambsdorff sonst immer vergießt, wenn von der Erhöhung der Lohnnebenkosten die Rede ist?
    Gestern sind Sie einen Schritt weitergegangen und haben selbst erklärt, Herr Bundeskanzler, daß Sie die Steuern erhöhen wollen. Sie sagen, diese Steuererhöhungen seien jetzt wegen des Golfkrieges notwendig geworden.

    (Hornung [CDU/CSU]: Stimmt das denn nicht?)

    Herr Bundeskanzler, ich drücke mich vorsichtig aus: Ich sehe darin eine Fortsetzung der Vernebelung.

    (Hornung [CDU/CSU]: Billiger geht es wirklich nicht mehr!)

    Sie wissen doch genauso gut wie wir, daß der Finanzbedarf zur Vollendung der deutschen Einheit den in- folge des Golfkrieges um ein Vielfaches übertrifft. Da ist es doch geradezu peinlich, daß nun der Golfkrieg als eine Art Ausrede herhalten soll.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Sie können es drehen und wenden, wie Sie wollen: Die Wählerinnen und Wähler sind nicht mit der Wahrheit bedient worden.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Na! Na! Langsam!)

    Nach dem 2. Dezember 1990 ist das Gegenteil von dem geschehen, was Sie vorher versprochen haben. Das Wahlergebnis in Hessen — keiner weiß das besser als Kollege Dregger — war dafür eine erste Quittung.

    (Widerspruch bei der CDU/CSU)

    — Sie meinen, Herr Wallmann war schuld an dem Wahlergebnis? Ich bin eher anderer Meinung. Ich kann mich täuschen. Ich bin sicher: Weitere Quittungen werden folgen. Übrigens spricht vieles dafür, daß der starke Rückgang der Wahlbeteiligung und die Verdrossenheit auch hier ihre Wurzel haben könnte.

    (Beifall bei der SPD)

    Was ich soeben ausgeführt habe, zeigt, daß die Koalition kein schlüssiges Konzept für die Vollendung des deutschen Einigungsprozesses besitzt. Unklar ist aber nicht nur die Finanzierung dieses Prozesses. Ebenso unklar ist auch nach Ihrer gestrigen Regierungserklärung, was nun konkret geschehen soll. Der



    Dr. Vogel
    Eindruck ist, daß die Hilferufe aus den neuen Bundesländern und gerade auch Ihrer Parteifreunde verhallen und daß die Menschen in den neuen Bundesländern den Eindruck gewinnen, zu vieles bliebe offen und in zu vielem blieben sie sich selbst überlassen. Unser Konzept versucht klare und realistische Antworten. Ich will die wichtigsten Elemente vortragen.
    Erstens: bessere finanzielle Ausstattung der neuen Bundesländer und Gemeinden. Wir halten das für eine Kernfrage.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Herr Waigel, in aller Ruhe: Wir haben die 70 Milliarden DM, die Sie — zugegebenermaßen in einer schwierigen Situation — errechnet haben, schon damals für absolut unzureichend gehalten. Deswegen sagen wir: bessere Ausstattung. Wo finden Sie denn eine Opposition, die sagt, zu diesem Zweck ist sie bereit, der Erhebung der Ergänzungsabgabe zuzustimmen und sozial gerecht Steuererhöhungen mitzutragen?

    (Beifall bei der SPD — Dr. Rüttgers [CDU/ CSU]: Ladenhüter!)

    Aber dazu bedarf es auch des Verzichts auf Steuersenkungen. Herr Bundeskanzler, die geplante Aufhebung — Sie haben diesen Punkt gestern übergangen, aber so steht es in den Koalitionsvereinbarungen — der Vermögensteuer und der Gewerbekapitalsteuer auch in den alten Bundesländern mit einem Volumen von 6 bis 8 Milliarden DM im Jahr ist in Anbetracht dieses Finanzbedarfes und der angekündigten Steuererhöhungen geradezu absurd. Es darf doch nicht Steuererhöhungen geben, damit jetzt die Vermögensteuer oder die Gewerbekapitalsteuer wegfallen kann.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Es mag auf der Bundesratsbank mit gemischten Gefühlen gehört werden, aber ich sage für die Opposition ausdrücklich: Neben dem Bund müssen sich auch die alten Bundesländer stärker engagieren,

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    und zwar die A-, B-, C- und D-Länder. Das ist keine parteipolitische Frage.

    (Hornung [CDU/CSU]: Dazu können Sie einen guten Beitrag leisten! — Zuruf von der CDU/CSU: Vielleicht erst für Salzgitter nachzahlen!)

    Meine Damen und Herren, ich habe immer gedacht, Sie haben die äußerste Höhe Ihrer geistigen Möglichkeiten schon erreicht. Aber es geht immer noch höher.

    (Zustimmung bei der SPD — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Diese Arroganz!)

    — Bei mir sind Zwischenrufe erlaubt. Nur zu!

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Warum reagieren Sie dann so sauer? — Dr. Dregger [CDU/CSU]: Mein Gott, dieses Gesicht!)

    — Lieber Kollege Dregger, ich bin mit meinen inzwischen höheren Jahren gerne für mein Gesicht verantwortlich.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Das ist traurig!)

    Ich finde es nicht sehr hilfreich, daß wir uns gegenseitig unsere Gesichter vorhalten. Mir würde zu manchem Gesicht hier auch eine Menge einfallen.

    (Beifall bei der SPD)

    Der besonderen Situation Berlins muß bei all dem Rechnung getragen werden. Alle Probleme des Zusammenwachsens treten hier in geradezu exemplarischer Weise auf. Deshalb braucht Berlin in der nächsten Zeit, was das Volumen angeht, eher mehr als weniger Hilfe. Die Zielrichtung dieser Hilfe muß sich allerdings den veränderten Verhältnissen anpassen.
    Ich glaube, es ist gut, daß Sie, Herr Bundeskanzler, die Frage des Regierungssitzes und Parlamentssitzes nicht angesprochen haben. Ich will Ihrem Beispiel folgen. Aber ich glaube, eine sich anbahnende Verständigung darüber feststellen zu können — und darum will ich das aussprechen — , daß die Entscheidung bis zur Sommerpause getroffen und nicht auf unabsehbare Zeit weiter hinausgeschoben werden sollte. Darauf haben beide Städte einen Anspruch.

    (Beifall bei der SPD)

    Zweitens. Spätestens sobald das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, müssen die bodenrechtlichen Regelungen des Einheitsvertrages präzisiert und die Verfahren gestrafft werden. Es ist unerträglich, daß Rückgabeansprüche den wirtschaftlichen Aufschwung auf Jahre verzögern können und ihn schon jetzt verzögern.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Auch da wird mit falschen Alternativen gearbeitet: Die einen seien für das Recht, und die anderen verteidigten das Unrecht, das die SED und die damals Regierenden zu verantworten hätten. Das ist nicht wahr; es geht um eine Abwägung. Die Abwägung muß in all den Fällen, in denen der wirtschaftliche Aufschwung betroffen ist, dazu führen, daß Entschädigung an die Stelle der Rückgabe tritt.

    (Beifall bei der SPD)

    Den entscheidenden Gemeinden und Landräten muß Mut gemacht werden, indem die neuen Bundesländer die finanzielle Haftung dafür übernehmen, wenn sie eine solche Entscheidung treffen. Und es muß mit Sofortvollzug gearbeitet werden.
    Drittens. Die Verwaltung in den neuen Bundesländern muß so rasch wie möglich voll handlungsfähig werden. Dafür bedarf es wirksamerer Anreize für Verwaltungskräfte aus den alten Bundesländern, vorübergehend oder für immer in die neuen Bundesländer überzuwechseln. Dem Dank, den Sie ausgesprochen haben, schließe ich mich an. Aber wir wissen, daß materielle Dinge hier eine Rolle spielen. Mir ist es lieber, wir geben mehr Geld aus, und die Verwaltungen drüben werden endlich handlungsfähig; denn handlungsfähige Verwaltungen sind auch eine unab-



    Dr. Vogel
    dingbare Voraussetzung für den wirtschaftlichen Aufschwung.
    Außerdem glaube ich, wir kommen überhaupt nicht darum herum: Die Vergütung muß auch für diejenigen erhöht werden, die im Verwaltungsdienst der neuen Bundesländer tätig sind. Diese 35 To sind auch eine Bremse.

    (Beifall bei der SPD)

    Viertens: absoluter Vorrang für die Finanzierung der Maßnahmen zur Verbesserung der Infrastruktur.
    Fünftens: Auflegung umfassender Programme zur Qualifizierung, Fortbildung und Umschulung sowie Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen zur Beschäftigung derer, denen Arbeitslosigkeit droht oder die schon arbeitslos sind. Wir können doch wohl übereinstimmen, wenn ich sage: Jede Mark, die hier eingesetzt wird, bewahrt Menschen vor Hoffnungslosigkeit und steigert auch bereits kurzfristig die Produktivität.
    Sechstens: Erarbeitung eines längerfristigen Programms zum Abbau der ökologischen Altlasten in der Reihenfolge, die sich aus dem Maße ihrer Gefährlichkeit für Mensch und Natur ergibt. Wir wissen, daß die schlimme Hinterlassenschaft des SED-Regimes auf diesem Gebiet nicht von heute auf morgen bewältigt werden kann.
    Siebtens. Das gilt auch für die noch schlimmeren Zerstörungen, die das Regime mit seinem menschenverachtenden Stasi-Praktiken hinsichtlich des wechselseitigen Vertrauens in die Gesellschaft und der Selbstachtung derer angerichtet hat, die ihm in die Hände gefallen sind. Hier sollten wir aus den alten Bundesländern uns zurückhalten und uns von denen raten lassen, die das selbst über Jahrzehnte am eigenen Leib erfahren haben. Ich folge denen aus den neuen Bundesländern, die uns sagen: Die Rehabilitation der Opfer muß an erster Stelle stehen; die bisherigen Rehabilitationsvorschriften sind ungenügend.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Auch muß verhindert werden, daß ehemalige StasiOffiziere — ob im besonderen Einsatz oder nicht im besonderen Einsatz, ob gesellschaftliche Kräfte oder andere Kräfte — ihre destruktive Arbeit unverändert fortsetzen können, indem man ihren Denunziationen Gehör schenkt oder ihnen angebliches Material abkauft, um es zu innenpolitischen Zwecken nutzen zu können.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Wir in den alten Bundesländern sollten uns bei all dem vor pharisäerhaften Urteilen hüten,

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU)

    insbesondere auch über diejenigen, die mit den Staatsorganen der ehemaligen DDR in Kontakt standen, weil sie nur so etwas bewirken und Bedrängten helfen konnten.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Ich möchte, daß wir in diesem Punkt möglichst dicht beieinander bleiben.
    Achtens. Ein breiter Dialog in Gesamtdeutschland ist bisher nur in Ansätzen in Gang gekommen. Wir halten den Prozeß, der im Einklang mit dem Einigungsvertrag aus dem Grundgesetz die endgültige Verfassung der größeren Bundesrepublik werden lassen soll, für ein wichtiges Mittel, diesen Dialog zu verbreitern und zu verstärken. Meine Damen und Herren, die intensive Mitwirkung gerade der Menschen in der ehemaligen DDR und die abschließende Inkraftsetzung der Verfassung durch eine Volksabstimmung können bewirken, daß sich diese Menschen nicht mehr allein als Aufgenommene verstehen, die zu etwas schon Fertigem und nicht mehr Beeinflußbarem hinzutreten, sondern als Bürgerinnen und Bürger, die mit uns gemeinsam die deutsche Einigung vollenden und die Konstitution dieses neuen Deutschland mitgestalten und ihre Erfahrungen in diese Konstitution einbringen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE — Hornung [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Die haben doch das Grundgesetz gewählt! Die wollten doch zu uns kommen!)

    Dazu gehört aber, daß man diesen Prozeß ernst nimmt und nicht nur als eine von jenen Grundgesetzänderungen ansieht, wie sie immer wieder einmal vorkommen. So aber klang es gestern in der Regierungserklärung.
    Was ich über das Verfassungsrecht sagte, gilt auch für die Erneuerung des Schwangerschaftsrechtes, die den Schutz des vorgeburtlichen Lebens nicht mit strafrechtlichen Mitteln, sondern mit Rechtsansprüchen auf Hilfe und Beratung und einer Veränderung des Bewußtseins in unserer Gesellschaft erreichen will.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE und der FDP)

    Auch hier ist ein breiter, die Menschen in den neuen Bundesländern einschließender Dialog die Voraussetzung dafür, daß eine breit akzeptierte Lösung gefunden wird.
    Herr Bundeskanzler, Sie haben auf der Grundlage der Entspannungs-, Ost- und Deutschlandpolitik Ihrer sozialdemokratischen Vorgänger ihren Beitrag zur Herstellung der staatlichen Einheit geleistet. Ich halte es für ein Gebot der Fairneß, das hier an dieser Stelle auszusprechen. Gerade deshalb appelliere ich aber an Sie, sich persönlich für eine ungehinderte und breite Verfassungsdiskussion einzusetzen. Niemand muß doch im Ernst befürchten, daß dabei die großen und wichtigen Errungenschaften des Grundgesetzes, zu denen wir alle beigetragen haben, angetastet werden oder sogar auf der Strecke bleiben.

    (Beifall bei der SPD)

    Im übrigen besteht unsere Bereitschaft zur Zusammenarbeit bei der Vollendung der deutschen Einheit auch in anderen damit zusammenhängenden Fragen fort. Es liegt an Ihnen, ob eine solche Kooperation zustande kommt. Wenn nicht bereits andere Motive dafür ausreichen, sollte jedenfalls ein Blick auf die



    Dr. Vogel
    Zusammensetzung des Bundesrates die richtige Antwort nahelegen.
    Jeder versteht, daß die Sorge um den Golfkrieg und um die Entwicklung im Baltikum und in der Sowjetunion die politische Aufmerksamkeit fast vollständig beansprucht. Schon die Probleme der deutschen Einigung treten dahinter im Augenblick stärker zurück, als es ihrer Bedeutung für Millionen von Menschen entspricht. Deshalb habe ich diese Probleme ausführlicher angesprochen. Wir dürfen aber auch die anderen innenpolitischen Aufgaben nicht vergessen, von deren Bewältigung das Wohlergehen unseres Volkes in besonderem Maße abhängt. Wir dürfen auch nicht so tun, als ob es in den alten Bundesländern nicht auch zu verbessern, zu verändern und zu reformieren gäbe.

    (Beifall bei der SPD)

    Dazu gehören die ökologische Erneuerung unserer Wirtschaft und die substantielle Verminderung des Energieverbrauches. Die Golfkrise hat die Notwendikgeit, unsere Abhängigkeit vom Öl zu verringern, übrigens noch zusätzlich unterstrichen. Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch.
    Weiter gehören dazu aber auch das Zuwanderungsproblem, dessen Lösung — wenn ich es richtig verstanden habe — bei den Koalitionsverhandlungen eher ausgeklammert wurde, und die Pflegeproblematik, deren Regelung Sie vertagt haben, obwohl die Zahl der Pflegebedürftigen ständig steigt und der Pflegenotstand andauert. Wir sind ja bereit, der Einladung zu folgen, an einer erneuten Diskussion teilzunehmen. Aber, Herr Bundeskanzler, auf diesem Sektor fehlt es doch nicht an der breiten Diskussion, sondern daran, daß es für die vernünftige Lösung deshalb keine Mehrheit gibt, weil sich Ihre Koalition auf diese vernünftige Lösung bisher nicht einigen konnte.

    (Beifall bei der SPD) Trotzdem sind wir zur Diskussion bereit.

    Ich nenne die Wohnungsnot, die den Menschen im Osten und im Westen unseres Landes zunehmend zu schaffen macht und die durch Fehlentscheidungen in den vergangenen Jahren zusätzlich verschärft worden ist. Auch hier laufen die halbherzigen Außerungen der Koalitionsvereinbarungen und der Regierungserklärung im Ergebnis auf eine Vertagung und damit eher auf ein Laufenlassen hinaus. Denn diese 20-Prozent-Entscheidung ist ja nun wirklich auch nicht Fisch und nicht Fleisch.
    Dann erwähne ich den drohenden Verkehrsinfarkt, der sich durch immer häufigere und umfassendere Verkehrszusammenbrüche ankündigt und schon jetzt Millionen von Menschen täglich das Leben vergällt!
    Auch die Gleichstellung der Frauen ist noch immer weit von ihrer Realisierung entfernt.
    Wir werden dabei vor allem auch für die soziale Gerechtigkeit kämpfen. Sie konfrontieren uns immer wieder mit schlimmen Verstößen gegen diese Gerechtigkeit. Einige habe ich schon genannt. Ein weiteres schlimmes Beispiel ist die Ausweitung der Steuervergünstigung für Hilfen in Privathaushalten. Sie werden niemandem klarmachen können, Herr Bundeskanzler, es sei gerecht, daß jemand mit 240 000 DM im Jahr
    für eine Kinderhilfe im Hause vom Staat über 9 500 DM erstattet bekommt, während der Normalverdiener noch nicht einmal die Kindergartenbeiträge für den Kindergartenplatz von der Steuer abziehen kann. Das ist doch ungerecht!

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste und des Bündnisses 90/ GRÜNE)

    Ich will noch etwas ansprechen — ich weiß, wie schwierig das ist, und man kann das auch nicht schwarzweiß darlegen — : Es geht darum, wer die wegen der Verfassungswidrigkeit des Kinderfreibetrages zuviel gezahlten Steuern zurückbekommt. Ich klage Sie wegen der Verfassungswidrigkeit gar nicht an. Ich weiß ja, wann das Gesetz gemacht worden ist. Ich spreche von der Rückerstattung. Nur der bekommt die zuviel gezahlten Steuern zurück, der sich einen Steuerberater leisten kann oder eben, weil er dem Staat mißtraut, in jedem Fall von vornherein Einspruch einlegt. Das ist doch nicht das letzte Wort. Das kann doch nicht so bleiben. Sie laufen nämlich auch Gefahr, Herr Finanzminister, daß jeder Steuerzahler in Zukunft vorsorglich alle Rechtsmittel ausschöpft, weil er dann bei Rückerstattungen dabei ist, während der Gesetzesgläubige der Dumme ist.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der PDS/Linke Liste)

    Sie Herr Bundeskanzler, haben gestern auf solche Feststellungen einmal mehr mit dem Vorwurf geantwortet, hier äußere sich der Sozialneid. Herr Bundeskanzler, meine Kritik geht von einem aus, der ja von diesen unmöglichen Bestimmungen begünstigt wird. Ich könnte ja, wenn ich wollte, von der Steuerbegünstigung Gebrauch machen. Ich habe natürlich auch einen Steuerberater, der dafür sorgt, daß die Dinge berücksichtigt werden. Das ist doch nicht Sozialneid. Ich spreche doch für andere, nicht für mich.

    (Beifall bei der SPD)

    Lassen Sie sich bitte sagen: Wer das Streben nach Gerechtigkeit als Neid herabsetzt, der läßt erkennen, daß er ein Grundelement unseres Zusammenlebens geringer achtet, nämlich eben die Gerechtigkeit,

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE — Hornung [CDU/CSU]: So einfach ist das nicht!)

    von der übrigens schon Augustinus gesagt hat — damit Sie sich nicht wieder aufregen: ich zitiere ihn —, die Staaten seien Räuberbanden, wenn sie der Gerechtigkeit entbehrten. Und deswegen kämpfen wir für Gerechtigkeit!

    (Beifall bei der SPD — Bohl [CDU/CSU]: Er hat nur Neue Heimat und Co op dabei vergessen! — Hornung [CDU/CSU]: Ja, da gibt es eine ganze Menge Beispiele!)

    Die Koalitionsvereinbarungen und der Start der Bundesregierung sind auf breite Kritik gestoßen, und zwar bis hin zu Zeitungen, in denen wir das üblicherweise nicht feststellen können: „Niederschmetternd mittelmäßig", „Der Start ist mißglückt", „Mit Geburtsfehlern — Kabinett ohne Glanz", „Ohne Phantasie und Mut", „Auf langer Talfahrt" gehören dabei noch zu den milderen Urteilen. Es wird niemanden



    Dr. Vogel
    verwundern, daß wir Sozialdemokraten zu keinem anderen Ergebnis kommen.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Ihr kommt zu gar keinem Ergebnis!)

    Unsere Konsequenz ist aber, daß wir unsere Alternativen noch sorgfältiger entwickeln.

    (Bohl [CDU/CSU]: Sie haben noch nicht einmal die Führungsstruktur in Ihrer Fraktion geregelt!)

    — Nun kümmern Sie sich mal nicht um unsere Führungsstruktur. Wir machen so etwas in zehn Tagen. Gucken Sie einmal, wie das anderswo zugeht!

    (Beifall bei der SPD)

    Kümmern Sie sich mal nicht um alles, Herr Bohl!

    (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Doch, Sie kümmern sich ja auch!)

    Schauen Sie mal, daß Ihre Leute an der richtigen Stelle klatschen und nicht immer die Zurufe erst kommen müssen, also bitte!

    (Beifall bei der SPD)

    Es wird niemanden verwundern, daß wir zu keinem anderen Ergebnis kommen. Unsere Konsequenz ist, daß wir unsere Alternativen noch sorgfältiger entwikkeln und noch nachdrücklicher vertreten werden. Unsere Aufgabe — die Aufgabe und Funktion der Opposition — ist noch wichtiger geworden. Wir können nicht an Stelle der Regierung oder der Mehrheit handeln, aber wir haben vielfältige Möglichkeiten, auf die Meinungsbildung und den Entscheidungsprozeß Einfluß zu nehmen. Immer wieder erleben wir ja auch, daß uns Dinge, die wir gegen Ihren Widerstand vorschlagen, nach einiger Zeit als Mitteilungen, als alte Bekannte, in der Regierungserklärung begegnen, zum Beispiel das kommunale Wahlrecht für EG-Ausländer. Das ist ein alter Bekannter; er sei herzlich begrüßt!

    (Beifall bei der SPD)

    Wir werden all diese Möglichkeiten nutzen, damit die Politik korrigiert wird, damit Schaden von unserem Volk abgewendet wird und damit Frieden, Gerechtigkeit, Freiheit und Solidarität die zentralen Grundwerte unseres Gemeinwesens bleiben — im Streit, wo immer notwendig, im Zusammenwirken, wo immer möglich. Als die älteste demokratische Partei Deutschlands kennen wir unsere Verantwortung. Wir wollen dieser Verantwortung gerecht werden.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der SPD sowie Beifall bei Abgeordneten der PDS/ Linke Liste und des Bündnisses 90/ GRÜNE)