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ID1200201800

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    Plenarprotokoll 12/2 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 2. Sitzung Bonn, Montag, den 14. Januar 1991 Inhalt: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Lage in der Golfregion und in Litauen Dr. Kohl, Bundeskanzler 21 B Brandt SPD 24 C Dr. Bötsch CDU/CSU 28 D Dr. Vogel SPD 30 C Dr. Graf Lambsdorff FDP 32 B Duve SPD 33 D Dr. Gysi PDS/LL 34 C Frau Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE . 36A Dr. Stoltenberg, Bundesminister BMVg . . 38B Dr. Seifert PDS/LL 40 A Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE (zur GO) 40 C Dr. Gysi PDS/LL (zur GO) 40 D Namentliche Abstimmung 40 D Frau Wieczorek-Zeul SPD (Erklärung nach §31 GO) 41A Nächste Sitzung 42 D Berichtigung 42 Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 43* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 2. Sitzung. Bonn, Montag, den 14. Januar 1991 21 2. Sitzung Bonn, den 14. Januar 1991 Beginn: 14.01 Uhr
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    *) Das endgültige Ergebnis und die Namensliste werden als Anlage im Plenarprotokoll 12/3 am 17. 1. 1991 abgedruckt. Berichtigung 1. Sitzung, Seite 17 A*. In die Liste der entschuldigten Abgeordneten ist einzufügen: Dr. Schäuble, CDU/ CSU, 20. 12. 90. Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Böhm (Melsungen) CDU/CSU 14. 1. 91 * Buwitt CDU/CSU 14. 1. 91 Conradi SPD 14. 1. 91 Dr. Diederich (Berlin) SPD 14. 1. 91 Frau Fischer (Gräfenhainichen) SPD 14. 1. 91 Gattermann FDP 14. 1. 91 Grünbeck FDP 14. 1. 91 Kretkowski SPD 14. 1. 91 Dr. Modrow PDS 14. 1. 91 Rappe (Hildesheim) SPD 14. 1. 91 Rühe CDU/CSU 14. 1. 91 Dr. Schäuble CDU/CSU 14. 1. 91 Dr. Schöfberger SPD 14. 1. 91 Spilker CDU/CSU 14. 1. 91 Dr. Vondran CDU/CSU 14. 1. 91 Vosen SPD 14. 1. 91 Frau Wiechatzek CDU/CSU 14. 1. 91 Zierer CDU/CSU 14. 1. 91 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
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    Rede von Vera Wollenberger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Seit dem 29. November befindet sich die Welt im Niemandsland zwischen Krieg und Frieden. Wochenlang hatten sich Politiker und Kommentatoren bemüht, den Eindruck zu erwecken, als wäre dieser Krieg allein ein Problem der Wüstenregion, in der er geführt werden soll, und die europäische und nordamerikanische Bevölkerung könnte zuschauen, wie weit hinten in der Türkei die Völker aufeinanderschlagen, wenn auch — im Unterschied zu Goethes Studenten — vielleicht mit Unbehagen.
    Am Vorabend des Ablaufs des Ultimatums wird klar, daß die Politiker im Begriff sind, die Schwelle zu einem Krieg zu überschreiten, der bereits im Vorfeld deutliche Zeichen eines Dritten Weltkrieges trägt und der in seinen Auswirkungen mit tödlicher Sicherheit global sein wird.
    Fast reaktionslos hat die Welt zugesehen, wie ein riesiges militärisches Potential im Nahen Osten zusammengezogen wurde. Mit 8 000 Panzern, die jetzt in der Wüste stationiert sind, könnte die größte Panzerschlacht aller Zeiten geführt werden. Aber vorher soll es einen Enthauptungsschlag aus der Luft geben, einen Blitzkrieg mit den neuen Wunderwaffen, kurz: Wir erleben die schaurige Wiedergeburt des Wunderglaubens an die Allmacht des Militärischen, die wir in Europa vor kurzem noch für so gut wie überwunden hielten.
    Diese Mißgeburt soll nun helfen, eine Frage gar nicht erst zuzulassen, da sie auch in Bagdad gestellt wird: Gibt es den Nahost-Konflikt, gibt es besetzte Territorien in der Region erst, seitdem irakische Truppen in Kuwait einmarschiert sind? — Wenn die Besetzung Kuwaits unerträglich ist, dann ist auch die Besetzung von Teilen Syriens, des Libanons, der Westbank und Gazas unerträglich. Die Eroberung des Kleinstaates Kuwait unter fadenscheinigen Vorwänden macht die Eroberung des Kleinstaates Panama unter ähnlich fadenscheinigen Vorwänden nicht besser.

    (Duve [SPD]: Das ist aber nicht als 51. Staat einverleibt worden! — Bohl [CDU/CSU]: Ja, ein kleiner Unterschied!)

    Wenn die irakischen C-Waffen unerträglich sind, dann sind es die syrischen und die libyschen, die ägyptischen und die israelischen auch.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und bei Abgeordneten der SPD)

    Wenn die irakische Atomwaffenforschung unerträglich ist, dann sind es die israelischen Atombomben nicht minder, dann sind es auch die amerikanischen und die sowjetischen. Im politischen Urteil darf es nicht zweierlei Maß geben.
    All das macht klar, daß es keinen Kriegsgrund gibt, kein Ziel, das mit diesem Krieg erreicht, kein Problem, das mit ihm gelöst werden könnte.
    Diese Tatsache wird durch das Dilemma verdeckt, daß es im Irak einen Diktator gibt, der gestoppt werden muß. Es gibt einen eindeutigen Bruch des Völkerrechts, den man nicht dulden kann, und das in einer Region, in der das Völkerrecht seit Jahrzehnten mit Füßen getreten wird, und zwar von einer Macht, die jahrelang von allen Seiten gehätschelt und gerüstet wurde, die sieben Jahre lang einen blutigen, menschenverachtenden Krieg gegen das gefürchtete Khomeini-Regime geführt hat, eine Macht, die mit Hilfe deutscher Grundstoffe produzierte chemische Waffen, bereits im Krieg gegen den Iran, gegen die eigene Opposition und gegen die Kurden eingesetzt hat, ohne daß es nennenswerte Proteste internationaler Politiker gegeben hätte und ohne daß es zu einem Stopp der internationalen Rüstungslieferungen gekommen wäre.
    Deshalb stehen wir heute vor der Situation, daß die Soldaten der multinationalen Truppen und auch die deutschen Soldaten auf dem türkischen Militärflughafen in Erhac mit Waffen aus deutscher Produktion bedroht werden. Der Irak verfügt über die Panzerabwehrsysteme HOT und MILAN und über das Flugzeugabwehrsystem Roland, Waffen, die auch von der Bundeswehr benutzt werden.
    Wer Saddam Hussein heute zu Recht verurteilt — wir tun das mit allem Nachdruck — , muß gleichzeitig deutlich machen, daß dieser Diktator seine verhängnisvolle weltpolitische Rolle all jenen verdankt, die ihn offen oder verdeckt unterstützt haben: den USA, der Sowjetunion, Frankreich, Großbritannien, Deutschland — Ost und West — , Italien und etlichen anderen. Saddam Hussein ist das Produkt des kollektiven Versagens der Spitzenpolitiker aller an der Weltpolitik beteiligten Nationen.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE)

    Der Zeitraum des Ultimatums wurde maximal für die Kriegsvorbereitung genutzt und nur minimal, um eine friedliche Lösung des Konfliktes herbeizuführen. Selbst diese minimalen Bemühungen versagten auf ganzer Linie. Dieses Versagen war durch eine Politiksprache vorprogrammiert, die mit den militärischen Drohgebärden korrespondierte. Als ob er die Situation absichtlich festfahren wollte, damit der Krieg auch geführt werden kann, erhöhte Präsident Bush, als Saddam Hussein erste schwache Zeichen des Einlenkens erkennen ließ, seinen Pokereinsatz am Golf um 200 000 Soldaten, um der Weltöffentlichkeit dann eine Friedensgeste nach Bagdad zuzumuten, die da lautete: „Gib auf, du Ratte, oder ich zerquetsche dich! ". Dies ist die Sprache der Eskalation, nicht des Friedenswillens.
    Und dann vollzog Bush in seinem Brief an Hussein eine haarsträubende Kehrtwendung: Es läge nunmehr allein in Husseins Händen, ob dieser Konflikt ohne Gewalt enden kann oder nur ein Vorspiel für weitere Gewalt wird. Einem Nahost-Hitler die Entscheidung über Krieg und Frieden zu überlassen — deutlicher kann eine Bankrotterklärung nicht sein.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS/LL)




    Frau Wollenberger
    Aber während jeder ehrliche Bankrotteur seinen Bankrott anmeldet, sich aus dem Geschäft zurückzieht und Fähigeren das Feld überläßt, soll ein Schlachtfeld das Versagen verdecken — ein Schlachtfeld übrigens, meine Damen und Herren, das zur Hälfte von Kindern bewohnt wird. Pro Soldaten werden auf diesem Schlachtfeld mindestens sechs Kinder sterben. Das ist die Quintessenz der grausigen Logik von Politikern, die mit Hilfe eines Krieges ihr Gesicht wahren wollen.
    Aber die irakischen und kuwaitischen Kinder werden nicht die einzigen Opfer sein. Der durch die Abschreckungspolitik in die Enge getriebene Diktator hat selbst die wirksamsten Abschreckungsmittel in der Hand: erstens Terroranschläge überall auf der Welt; zweitens Unterbindung der Ölzufuhr aus Nahost; drittens Existenzbedrohung für Israel; viertens globale ökologische Folgen eines Brandes der Ölfelder. Nimmt man diese Drohungen ernst — und wir haben allen Grund dazu — , werden Terroranschläge gegen Zentren der Industriestaaten zum Merkmal des drohenden Krieges gehören.
    Vor zwei, drei Jahren begannen deutsche Wissenschaftler die Verwundbarkeit moderner Industriegesellschaften genauer zu untersuchen. Die nüchternen und zugleich erschreckenden Ergebnisse, u. a. Ende 1988 in Berlin und im Juni 1990 in Hamburg diskutiert, führen zu dem eindeutigen Schluß, daß eine moderne Gesellschaft weder zur Kriegführung noch zu einer sinnvollen militärischen Verteidigung ihres eigenen Territoriums in der Lage ist.

    (Zustimmung bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Aber die Erkenntnis, daß die Industriegesellschaft mit ihrem hochempfindlichen Organismus gerade durch ihre innere Struktur kategorisch gezwungen ist, eine unter allen Umständen friedliche Politik zu machen, wird von den Politikern, den Militärs und der Rüstungsindustrie weiterhin ignoriert. Allein die Drohung, den Ölstrom aus dem Nahen Osten im Ernstfall absichtlich längerfristig zum Versiegen zu bringen, müßte jedem Politiker der vom Nahost-OL abhängigen Industriestaaten einen Schauer über den Rücken jagen.
    Meine Damen und Herren, es geht hier nicht darum, den Verlauf des zweiten Golfkrieges prognostizieren zu wollen. Es geht auch nicht darum, einschätzen zu wollen, wie Hussein wirklich reagieren wird, wenn er aufs äußerste bedrängt ist. Es geht darum, eine durch die Verminung der Ölfelder glaubhaft gemachte, auf die Spitze getriebene Abschreckung ernst zu nehmen. Man kann nicht davon ausgehen, daß Hunderte oder gar Tausende brennende Ölfelder innerhalb einiger Monate gelöscht werden können, selbst wenn die Kampfhandlungen wider Erwarten rasch beendet werden sollten. Bereits nach wenigen Monaten wären die Rauchmengen in der Atmosphäre denen gleich, die bei einem großen Atomkrieg entstehen könnten.
    Es gibt kein Beispiel für eine solche Katastrophe in der überlieferten Geschichte; dies muß mit allem Ernst und Nachdruck gesagt werden. Niemand kann sicher sein, welches Ausmaß sie wirklich annehmen könnte. Es besteht das reale Risiko, daß die großen Biotope der Erde in ihrer heutigen Form nicht überleben könnten. Es besteht die Gefahr, daß außerhalb der Konfliktregion wesentlich mehr Menschen an den indirekten Folgen des Golfkrieges sterben als durch die Kampfhandlungen. Obwohl viele Wissenschaftler inzwischen entsprechende Studien vorgelegt haben, sind diese Erkenntnisse bisher politisch nicht wirksam geworden — ein weiteres Glied in der Kette des Versagens der Politiker.
    Als wäre das alles nicht genug, besteht die reale Gefahr, daß im Golfkrieg Atomwaffen eingesetzt werden. Erst gestern hat Israel sein Recht, sich mit eigenen Mitteln gegen Hussein zu wehren, bekräftigt. Husseins Drohung, die Juden zu vergasen, ist ein psychologischer Schockangriff, der angesichts der realen Existenzbedrohung die in Israel ohnehin vorhandene Neigung zu einem Präventivschlag verstärkt hat. Die Erinnerung an den Holocaust des jüdischen Volkes in den Gaskammern des Dritten Reiches setzt die psychische Barriere, einen Atomschlag zu führen, drastisch herab.
    Das bringt die anderen Atommächte in die prekäre Lage, die Entscheidung über einen möglichen eigenen Kernwaffeneinsatz nicht mehr in der Hand zu haben. Explodiert eine Atomwaffe über irakischem Territorium, so wird Hussein alle noch verbleibenden Optionen eines Gegenschlages einsetzen, da sie binnen weniger Minuten verlorengehen könnten. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, daß sich Israelis und Amerikaner beschießen, da es keinerlei Abstimmung zwischen ihnen gibt.
    Was sich hier ankündigt, ist die schockierend einfache Fortschreibung jener militärischen Konzeption, die mit den demonstrativen Atomangriffen auf Hiroshima und Nagasaki das kapitulationsreife Japan zum Kotau zwang und die Welt mit einem brutalen Tritt ins Atomzeitalter beförderte.
    Am Vorabend des Golfkrieges ist die herkömmliche Politik in einer tödlichen Sackgasse. Welche Chancen gibt es, das Unheil abzuwenden? Vor einem Jahr haben wir erlebt, wie scheinbar festgefügte Diktaturen innerhalb weniger Wochen wie Kartenhäuser zusammenbrachen, weil ihnen massenhaft die Akzeptanz entzogen wurde. Wir brauchen jetzt etwas ähnliches. Dem Golfkrieg muß massenhaft die Akzeptanz entzogen werden. Wir brauchen eine Bürgerbewegung gegen das Außen- und Sicherheitspolitikmonopol der Regierung.

    (Beifall bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Wir dürfen den Politikern nicht länger die Entscheidung über Krieg und Frieden überlassen.
    Was wir jetzt brauchen, ist die tägliche Montags-Demo für den Frieden in allen Orten. Die Erfahrungen des gewaltlosen Widerstandes in Osteuropa haben gezeigt, wie wirkungsvoll es ist, wenn er nur konsequent angewendet wird.
    Meine Damen und Herren, auch dieses Parlament — so spät es auch zusammengetreten ist — kann noch etwas tun. Wer an diesem Krieg nicht mitschuldig werden will, den fordere ich auf, über die Parteischranken hinweg gemeinsam Wege aus dem Unheil zu suchen. Über die in unserem Entschließungsantrag



    Frau Wollenberger
    gemachten Vorschläge hinaus, bitte ich Sie dringend um Unterstützung unserer Initiativen. Willy Brandt hat bereits darauf hingewiesen, daß längst nicht alle friedlichen Mittel zur Konfliktbeilegung ausgeschöpft sind. Im Augenblick ist es das Wichtigste, zu verhindern, daß nach Ablauf des Ultimatums sofort die Waffen sprechen.
    Um dies zu unterstützen, schlagen wir vor, daß der Deutsche Bundestag sofort eine Delegation von Mitgliedern aller Fraktionen in den Irak und nach Israel entsendet — als ein Signal, daß das erste frei gewählte deutsche Parlament nicht gewillt ist, sich dem Automatismus des Krieges zu beugen.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der PDS/LL)

    Die Delegation sollte in allen beteiligten Staaten Gespräche führen mit dem Ziel einer Nahost-Friedenskonferenz unter Beteiligung der Palästinenser und der Kurden. Parallel dazu könnte der Bundestag Präsident Mitterrand und Außenminister Poos bitten, sofort in den Irak zu fahren und Verhandlungen aufzunehmen.
    Der Herr Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung gesagt, daß er Saddam Hussein aufgefordert hat, sich jetzt zum Rückzug zu entschließen. Der Bundestag sollte heute beschließen, diese Aufforderung mit einer Geste des unbedingten Friedenswillens des ersten frei gewählten deutschen Parlaments zu begleiten: dem sofortigen Rückzug der Bundeswehreinheiten aus der Türkei.
    Ich danke Ihnen.

    (Beifall beim Bündnis 90/GRÜNE und der PDS/LL sowie bei Abgeordneten der SPD)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Minister der Verteidigung, Herr Dr. Stoltenberg.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Gerhard Stoltenberg


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die dramatische Zuspitzung der Krise am Golf, die Anwendung militärischer Gewalt im Baltikum — bei allen Unterschieden in den Bewertungen kommen die gemeinsamen Sorgen, die wir haben, und auch — trotz aller Differenzierungen — manche gemeinsamen Ziele über die Grenzen der Parteien hinweg in der Debatte klar zum Ausdruck. Aber in der Tat: Es gibt auch Unterschiede in den Bewertungen und Folgerungen. Diese zu verdeutlichen und argumentativ zu begründen ist ja der Sinn einer solchen Debatte.
    Es ist für uns alle — für alle Deutschen und fast alle Europäer — eine bittere Erfahrung, daß auch in der Sowjetunion Gorbatschows militärische Gewalt als Mittel zur Durchsetzung eigener politischer Ziele möglich ist und angewandt wird. Dies ist eine bestürzende Überraschung, obwohl es schon in den letzten Monaten des vergangenen Jahres aus der Führungsgruppe Äußerungen gab, die darauf hinwiesen. Ich bin nicht der einzige, der in den letzten Tagen an die dramatische Rücktrittserklärung Eduard Schewardnadses vom 20. Dezember und das, was er zu ihrer Begründung angeführt hat, gedacht hat.
    Von uns allen weniger beachtet wurde — wir müssen uns selbstkritisch fragen, was wir versäumt haben — der Aufbau einer gewaltigen militärischen Macht, eines gewaltigen Zerstörungspotentials über zehn Jahre hinweg im Irak Saddam Husseins.

    (Vorsitz: Vizepräsident Becker)

    Es ist wahr, daß manche im Westen und auch bei uns in der Zeit der Drohungen des Ajatollah Khomeiny zu sehr geneigt waren, dies bloß unter dem Vorzeichen eines Gegengewichts zu sehen. Aber die gewaltsame militärische Besetzung und Annexion Kuwaits war und ist eine unmittelbare Gefährdung auch anderer Staaten dieser Region: der Vereinigten Emirate, Bahrains und Saudi Arabiens. Deswegen ist mir manche Kritik an der Entscheidung der USA und anderer, auch der Briten und Franzosen, zur Eindämmung und zur Risikominderung ihre Truppen an den Golf zu senden, zu einfach und zu wenig glaubwürdig. Diese Politik der Eindämmung war nicht nur militärisch, sondern auch politisch geboten und nach meiner Ansicht unvermeidbar. Ohne diese Entscheidung wären die Resolutionen der Vereinten Nationen und die intensiven diplomatischen Aktivitäten wohl von Anfang an aussichtslos gewesen.
    Wir reden unter dem drängenden Druck der Probleme und Sorgen dieser Tage. Aber wahr ist auch, daß seit Anfang August, seit über fünf Monaten, vor allem innerhalb der Vereinten Nationen nachhaltige Anstrengungen unternommen worden sind, um den Irak zum Einlenken zu bewegen. Wahr ist, daß sie bis zum heutigen Tag keinen Ansatz eröffnen.
    Ich möchte denen, die in diesen Tagen besonders massiv Kritik an den Vereinigten Staaten von Amerika üben, empfehlen, sich einmal die Debatten im amerikanischen Parlament, vor allem diejenigen vom vergangenen Wochenende, sorgfältig anzuschauen.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    Dort ist über die Frage, ob es eine sinnvolle Alternative ist, noch über viele Monate hinweg den Kurs des Embargos mit allen gewaltigen Problemen und Risiken fortzusetzen, die dies mit sich bringt, abgestimmt worden. Eine Minderheit hat sich aus ehrbaren Motiven dafür ausgesprochen. Aber wir sollten der Mehrheit unserer amerikanischen Kollegen, der Senatoren und der Mitglieder des Repräsentantenhauses, die als Ultima ratio in der Auslegung der Beschlüsse der Vereinten Nationen den anderen Weg für möglich halten, nicht leichtfertig und billig Verantwortungsbewußtsein und Ethos absprechen, wie das zum Teil leider geschieht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir haben diese Entscheidung in Deutschland nicht zu vollziehen. Wir haben mitzudenken und mitzuraten und im Rahmen bescheidener Möglichkeiten mitzuwirken. Wir sollten ja auch alles tun, was die verbleibenden Tage erlauben.
    Aber wahr ist — ich will das hier unterstreichen —, Deutschland beteiligt sich nicht an der militärischen Stationierung im Golf. Die besondere verfassungsrechtliche Situation und Interpretation ist der entscheidende Grund dafür, Wir müßten das allerdings erklären, nicht nur den Amerikanern, Briten und Franzosen, sondern auch den Dänen, Griechen und Portugiesen, die im Herbst Kriegsschiffe an den Golf



    Bundesminister Dr. Stoltenberg
    geschickt haben. Wir müssen das unseren Nachbarn in Polen und in der Tschechoslowakei erklären, deren erste demokratische Regierungen in den letzten Wochen kleine militärische Spezialeinheiten, im wesentlichen zur Vorsorge gegen ABC-Waffen, an den Golf geschickt haben. Niemand wird behaupten, daß ein Mann wie Präsident Vaclav Havel eine solche Entscheidung getroffen hat, weil es ihm mit dem Frieden nicht Ernst sei.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Dieser Mann versteht auf Grund des eigenen Lebensweges sowie der moralischen und politischen Leistung über Jahrzehnte mehr vom Frieden, aber auch vom Zusammenhang von Frieden und Recht als viele, die heute wohlfeil auf die Amerikaner einschlagen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, wir werden uns nicht an militärischen Maßnahmen, Aktionen und Stationierungen im Golf beteiligen. Ich sage es noch einmal, weil es mich bestürzt — ich spreche nicht von dieser Debatte, aber von vielem, was wir in diesen Tagen erleben — , mit welcher Hemmungslosigkeit bestimmte politische Gruppierungen Ängste bei Menschen erzeugen oder ausnutzen.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]; Mein Gott!)

    Da werden, Herr Kollege Ehmke, gefälschte Einberufungsbescheide verteilt. Ich spreche hier niemand in diesem Hause an. Da werden Plakate unter Verfälschung des Emblems der Bundeswehr gedruckt und aufgehängt, daß Bundeswehrsoldaten angeblich an den Golf sollen. Da werden Ängste erzeugt. Da gibt es jene Aufforderung zur Desertion. Herr Kollege Gysi, die Staatsanwaltschaft als unabhängige Instanz hat doch das Verfahren gegen den von Ihnen genannten früheren Geschäftsführer der GRÜNEN nicht deshalb eingeleitet, weil er gegen den Krieg am Golf ist, sondern weil er mit Verleumdungen und Unwahrheiten zur Desertion aufruft. Verfälschen Sie doch die Sachverhalte nicht,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    um die es in diesem Verfahren und in der innenpolitischen Auseinandersetzung geht!
    Wir haben — der Bundeskanzler hat es begründet, die Kollegen Bötsch und Graf Lambsdorff haben dazu Stellung genommen — die Alpha-Jets im Rahmen der Allied Mobile Force und mit ihnen 250 Luftwaffensoldaten in die Türkei nach sorgfältiger Prüfung und Beratung innerhalb der Bundesregierung und auch im Bündnis entsandt, nachdem dies beantragt worden war.
    Hier, Herr Kollege Brandt, verstehe ich Ihre Kritik nicht. Sie haben das als eine untaugliche Maßnahme beschrieben und eigentlich nur gesagt, es sei in der Türkei umstritten.
    Das kann nicht ausreichen. Ich möchte Sie doch einmal daran erinnern — ich habe es jetzt auch in den Unterlagen nachgelesen — , daß im Herbst 1969 die Bundesregierung, der wir beide angehört haben — Sie als Außenminister —, ausdrücklich ihre Zustimmung zu den im Bündnis vereinbarten Regeln für die Allied Mobile Force gegeben hat.

    (Zuruf des Abg. Opel [SPD] — Dr. Vogel [SPD]: Das trägt die Entscheidung nicht!)

    — Ich will das nur sagen. Wir stehen in der Kontinuität jener Entscheidung und jener Grundsätze, Herr Ehmke. Ich will hier nicht die einzelnen Stationen darstellen, wie sie dann in der Zeit auch der Regierung Helmut Schmidts fortgeschrieben und präzisiert worden sind. Es gilt das, was damals im Grundsatz vereinbart wurde.
    Man kann es in der kürzesten Form so zusammenfassen: Wir haben uns konkret zur Solidarität im Bündnis bekannt. Solidarität kann keine Einbahnstraße sein.
    Ich erinnere mich — und einige von Ihnen, meine Damen und Herren von der SPD, tun dies genausogut —, wie wir 1961 beim Bau der Mauer und bei dem gewaltigen Schock, der Deutschland erschütterte, darauf vertraut haben, daß unsere Verbündeten bei uns die Sicherheit Westdeutschlands und Berlins militärisch gewährleisteten. Ich erinnere mich an Debatten in diesem Hohen Hause, dem ich auch damals angehörte, 1968 bei der Invasion in die Tschechoslowakei — und ich könnte einige noch auf ihre damaligen Beiträge hier ansprechen — , und daran wie entscheidend es für uns war zu wissen: Wenn dies eskaliert, dann haben wir Verbündete auf deutschem Boden, und solche, die uns helfen werden. Das haben wir als Grund genommen zu sagen: Wir können den Frieden behaupten.
    Aber wenn wir uns in den Jahren und Jahrzehnten der Konfrontation in Zentraleuropa, von der wir trotz des schlimmen Rückschlags in der Sowjetunion hoffen, daß sie in der alten Form vorbei ist, auf das Bündnis verlassen haben, dann müssen auch andere sich auf unsere Solidarität im Bündnis verlassen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Denn wenn das nicht mehr der Fall ist, dann ist das Bündnis in der Tat allenfalls noch ein Diskussionsforum

    (Jäger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    und nicht mehr eine glaubwürdige Institution für Sicherheit und, wenn nötig, auch für Verteidigungsfähigkeit.
    Die AMF-Verbände — das war doch der Grund, sie zu entsenden; wir haben es nicht allein getan, sondern einstimmig wurde es so beschlossen — sind ein deutliches Zeichen für die Glaubwürdigkeit des Bündnisses. Diese Entscheidung macht den Krieg jedenfalls hinsichtlich der Einbeziehung der Türkei unwahrscheinlicher. Sie macht die Hemmschwelle für mögliche Angreifer größer.
    Insofern leisten auch hier die Soldaten der Bundeswehr, denen Graf Lambsdorff in eindrucksvoller Weise gedankt hat, einen Beitrag für die Stabilität und die Friedenssicherung nach besten Kräften. Das sollte allgemein Anerkennung in diesem Hause finden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)




    Bundesminister Dr. Stoltenberg
    Ich möchte abschließend sagen: Auch nach der schweren Erschütterung — ich denke dabei an die Sowjetunion und anderes, was dazukommt, aber heute nicht zu diskutieren ist, etwa jene sehr problematischen militärischen und politischen Entscheidungen in Verbindung mit dem soeben unterzeichneten Abrüstungsvertrag — , die einen harten Rückschlag darstellt, wollen wir alles tun, um die positiven Veränderungen in den vergangenen beiden Jahren zu behaupten, zu sichern und auszubauen. Aber wir haben doch lernen müssen, daß die großen Errungenschaften von 1989 und 1990 nicht den Weg in eine völlig konfliktfreie und harmonische Welt von morgen eröffnen. Frieden, Freiheit und die Verwirklichung und Durchsetzung des Rechts miteinander zu verbinden bleibt auch in Europa die zentrale Aufgabe. Dafür brauchen wir weiterhin auch eine Bundeswehr, die in Erfüllung ihres Auftrages vom ganzen deutschen Volk getragen wird.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)