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    Plenarprotokoll 12/2 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 2. Sitzung Bonn, Montag, den 14. Januar 1991 Inhalt: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zur Lage in der Golfregion und in Litauen Dr. Kohl, Bundeskanzler 21 B Brandt SPD 24 C Dr. Bötsch CDU/CSU 28 D Dr. Vogel SPD 30 C Dr. Graf Lambsdorff FDP 32 B Duve SPD 33 D Dr. Gysi PDS/LL 34 C Frau Wollenberger Bündnis 90/GRÜNE . 36A Dr. Stoltenberg, Bundesminister BMVg . . 38B Dr. Seifert PDS/LL 40 A Schulz (Berlin) Bündnis 90/GRÜNE (zur GO) 40 C Dr. Gysi PDS/LL (zur GO) 40 D Namentliche Abstimmung 40 D Frau Wieczorek-Zeul SPD (Erklärung nach §31 GO) 41A Nächste Sitzung 42 D Berichtigung 42 Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 43* Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 2. Sitzung. Bonn, Montag, den 14. Januar 1991 21 2. Sitzung Bonn, den 14. Januar 1991 Beginn: 14.01 Uhr
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    *) Das endgültige Ergebnis und die Namensliste werden als Anlage im Plenarprotokoll 12/3 am 17. 1. 1991 abgedruckt. Berichtigung 1. Sitzung, Seite 17 A*. In die Liste der entschuldigten Abgeordneten ist einzufügen: Dr. Schäuble, CDU/ CSU, 20. 12. 90. Anlage zum Stenographischen Bericht Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Böhm (Melsungen) CDU/CSU 14. 1. 91 * Buwitt CDU/CSU 14. 1. 91 Conradi SPD 14. 1. 91 Dr. Diederich (Berlin) SPD 14. 1. 91 Frau Fischer (Gräfenhainichen) SPD 14. 1. 91 Gattermann FDP 14. 1. 91 Grünbeck FDP 14. 1. 91 Kretkowski SPD 14. 1. 91 Dr. Modrow PDS 14. 1. 91 Rappe (Hildesheim) SPD 14. 1. 91 Rühe CDU/CSU 14. 1. 91 Dr. Schäuble CDU/CSU 14. 1. 91 Dr. Schöfberger SPD 14. 1. 91 Spilker CDU/CSU 14. 1. 91 Dr. Vondran CDU/CSU 14. 1. 91 Vosen SPD 14. 1. 91 Frau Wiechatzek CDU/CSU 14. 1. 91 Zierer CDU/CSU 14. 1. 91 * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
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    Rede von Dr. Wolfgang Bötsch


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die jüngsten Ereignisse in Litauen haben leider bestätigt, daß unsere Befürchtungen zum Nationalitätenkonflikt in der Sowjetunion berechtigt gewesen sind. Die Auswirkungen der Entwicklungen in der Sowjetunion auf die weltpolitische Situation und im speziellen auch auf den Golfkonflikt lassen sich derzeit noch nicht völlig abschätzen; sie geben aber jedenfalls zu Sorge Anlaß.
    Mit Erschütterung stellen wir fest, daß die Auffassung, die der KGB-Chef im letzten Dezember vor dem Obersten Sowjet äußerte, nämlich daß die — wie er



    Dr. Bötsch
    sagte — Ordnung notfalls mit Blut wiederhergestellt werden müsse, Realität geworden ist. Dabei ist es zunächst gleichgültig, welche Person den Marschbefehl für das brutale Vorgehen der sowjetischen Truppen in Wilna gegeben hat. Die Schüsse dienten jedenfalls dazu, Menschenrechte und Selbstbestimmung in Litauen zu verletzen.
    Ich habe eine dpa-Meldung von vor einer halben Stunde hier in der Hand, in der es heißt, daß Präsident Gorbatschow nach eigenen Worten erst am Sonntagmorgen von dem militärischen Eingreifen in Wilna erfahren habe. Dem müssen wir zunächst glauben, und zunächst müssen wir davon ausgehen, daß Präsident Gorbatschow weiterhin Perestroika und Glasnost in der Sowjetunion wünscht. Ich möchte ihn auffordern, wenn dies so ist, zu versuchen — ich sage: zu versuchen — , falls dies möglich ist, die Verantwortlichen für den militärischen Einsatz in Wilna zur Rechenschaft zu ziehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Meine Damen und Herren, die gute und hoffnungsvolle Zusammenarbeit mit der Sowjetunion, die wir insbesondere in Deutschland im letzten Jahr getätigt haben und die eigentlich in ihren Grundsätzen erst begonnen hat, darf nicht zu einem Kapitel der Vergangenheit werden. Die sowjetische Führung muß begreifen, daß sich heute der Freiheitsdrang der Menschen nicht mehr wie zu Stalins Zeiten mit militärischen Mitteln unterdrücken läßt.

    (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Von Gorbatschow stammen die Worte: Es gibt kein Zurück zum gestrigen Tag. Die Zukunft der Sowjetunion läßt sich nur durch Fortsetzung des Reformkurses und die Achtung der Menschenrechte sichern, nicht durch den Einsatz von Panzern gegen friedliche Demonstranten. Ich glaube, das ist die Quintessenz, die nicht nur wir, sondern die Sowjetunion aus diesen Ereignissen zu ziehen haben.
    Für den Nahen Osten gelten im Grundsatz die gleichen Gesetze. Eine Lösung der Golfkrise kann es nur auf der Grundlage der Entschließungen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen geben. Es ist ja nicht nur die mehrmals erwähnte Entschließung 678, sondern es wurde mit dem Golfkonflikt insgesamt ein Dutzend Entschließungen gefaßt.
    Die durch den Überfall auf Kuwait verletzte Völkerrechtsordnung muß ohne Einschränkung wiederhergestellt werden. Dazu müssen die irakischen Truppen abziehen und muß die widerrechtliche Annexion Kuwaits als irakische Provinz annulliert werden.
    Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion unterstützt die Haltung der Bundesregierung, die sich mit allen Kräften bis zur letzten Sekunde für eine friedliche Lösung einsetzen will.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Solange noch eine Chance für den Erfolg diplomatischer Mittel besteht, muß der Waffeneinsatz vermieden werden. Darüber besteht wohl in diesem Haus volles Einvernehmen.
    Auch Präsident Bush will eine friedliche Lösung und hat dem Irak zugesagt, daß es bei einer Räumung Kuwaits keinen Angriff geben werde. Auch darauf möchte ich noch einmal hinweisen.
    Wenn der irakische Diktator zu einer nüchternen Analyse seiner eigenen Lage bereit wäre — oder soll ich sagen: in der Lage wäre —, müßte er jetzt die Ausweglosigkeit, in der er sich befindet, einsehen und dem eindeutig erklärten Willen der internationalen Völkergemeinschaft nachgeben. Es liegt allein an ihm, ob der Krieg vermieden werden kann.
    Bisher scheint aber niemand den Weg zu kennen, Saddam Hussein zur Vernunft zu bringen. Der Iraker verstrickt sich in immer mehr folgenschwere Fehlrechnungen. Es scheint ihm gleichgültig zu sein, daß er mit seinem Handeln seinem eigenen Land, aber auch den armen Ländern zumindest in seiner Region großes menschliches Leid und massiven Schaden zufügen wird.
    Der bisherige Verlauf der Krise hat gezeigt, daß er im Grund genommen nur in den Kategorien der militärischen Macht zu denken vermag. Für diplomatische Bemühungen scheint er nur ansprechbar, wenn ihnen mit militärischen Machtmitteln Nachdruck verliehen werden kann.
    Daher, Herr Kollege Brandt, halte ich die Entscheidung, internationale Truppen an den Golf zu senden, für richtig, genauso wie die Entscheidung der Bundesregierung, 18 Kampfflugzeuge im Rahmen der AMF in die Türkei zu entsenden.
    Die Verlegung der deutschen Flugzeuge dient ausschließlich Verteidigungszwecken des NATO-Partners Türkei und dokumentiert unseren Willen, im Rahmen des Bündnisses einen Beitrag zur Abschrekkung und zur Kriegsverhinderung zu leisten; zu nichts anderem.
    Zu der Behauptung mancher, die Verlegung der Maschinen sei eine Angriffsvorbereitung, will ich sagen: Sie grenzt zumindest an Verleumdung. Schließlich gab es die AMF schon, als die SPD noch den Verteidigungsminister stellte; und unter SPD-Ministern hat die AMF schon damals auch an Übungen in der Türkei teilgenommen. Das muß man wissen, wenn man den Sachverhalt objektiv beurteilen will.
    Herr Kollege Vogel, heute ist das Wort nicht mehr gefallen; am Anfang der Debatte wurde diese Entsendung aus Ihrer Partei als Verfassungsbruch bezeichnet. Dann, als dieser Irrtum offensichtlich wurde, hat man sich auf die Formel zurückgezogen: politisch nicht notwendig.
    Meine Damen und Herren, ich würde mir wünschen, daß Sie begreifen, daß gerade die Entsendung von Soldaten ein unverzichtbares Mittel zur friedlichen Beilegung der Krise darstellt, weil nur dann die Abschreckung in diesem Bereich glaubhaft ist. Diplomatie ohne Macht ist wirkungslos. Aggressoren muß man entschlossen entgegentreten, wenn man sie vor weiteren Überfällen abhalten will.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Wir verstehen die Sorgen der Menschen in unserem Lande um die Erhaltung des Friedens. Ich möchte aber diejenigen, die in diesen Tagen auf die Straße



    Dr. Bötsch
    gingen oder gehen, auch diejenigen, die hier vor dem Parlament demonstrieren und denen ich meinen persönlichen Respekt für ihre subjektive Sorge um den Frieden nicht versagen will, fragen, ob sie dem Frieden nicht weit mehr gedient hätten, wenn sie unmittelbar nach dem 2. August 1990, also nach dem Überfall auf Kuwait, demonstriert hätten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich glaube, daß dies der richtigere Zeitpunkt gewesen wäre.
    Der Bundespräsident hat jüngst in einem Interview mit einer süddeutschen Zeitung zur Frage von außenpolitischer Selbstbeschränkung unterstrichen, daß — ich zitiere — „wir Deutsche uns nicht auf uns selbst zurückziehen dürfen". Deutschland darf also nicht abseits stehen, wenn es um einen Beitrag zur Bewältigung von Krisen und zum Erhalt des Friedens in der Welt geht.
    Meine Damen und Herren, es ist hier schon gesagt worden: Die Krise am Golf wird mit der Räumung Kuwaits nicht beendet sein. Es gibt dort zahlreiche weitere Konfliktfelder mit ähnlicher Brisanz. Wir sollten uns deshalb heute schon damit befassen, wie es danach weitergehen kann. Wir wollen weiter suchen, wie in dieser krisengeschüttelten Region ein dauerhafter Friede gesichert werden kann.
    Der Bundeskanzler und der Kollege Brandt haben das Recht der Palästinenser auf einen eigenen Lebensraum angesprochen. Es gibt weitere Punkte: Der Reichtum der Golfregion sollte nicht weiter für die Aufrüstung verschwendet werden, der Nahe Osten braucht vielmehr ein wirksames Rüstungskontrollregime mit weitreichenden Abrüstungsvereinbarungen.

    (Zustimmung des Abg. Jäger [CDU/CSU])

    Langfristig wird es darauf ankommen, einen auf Verträge gegründeten Ausgleich auch zwischen den armen und den reichen Staaten in dieser Region zu erreichen und der Bevölkerung dort einen besseren Anteil an den vorhandenen, auch Reichtum bewirkenden Ressourcen zu organisieren.
    Die Länder, die die Natur mit umfangreichen Ressourcen gesegnet hat, sollten in gleicher Weise zur Unterstützung bereit sein, wie dies in der Europäischen Gemeinschaft in den letzten Jahren gegenüber Spanien und Portugal, gegenüber Griechenland und Irland erfolgt ist, in der gleichen Weise, wie jetzt die Europäische Gemeinschaft, die Länder der Europäischen Gemeinschaft und die übrigen Länder Westeuropas bereit sind, den Ländern Ost- und Südosteuropas in ihrer wirtschaftlichen Not zu helfen und die Wohlstandsgrenze überwindbar zu machen. Ich will nicht sagen, daß wir da alles richtig gemacht haben, aber wir, die Europäische Gemeinschaft, sollten unsere Hilfe anbieten, wenn geeignete Wege zur Überwindung der Spannungen gesucht werden müssen und wenn die Vielzahl der in der Golfregion angestauten Probleme gelöst werden müssen.
    Meine Damen und Herren, namens der CDU/CSUFraktion möchte ich die Bundesregierung bitten, in ihren Bemühungen, solange auch nur eine Chance
    besteht, den Krieg zu verhindern, zur friedlichen Lösung des Konflikts am Golf fortzufahren.
    Vielen Dank.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Vogel.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Nachrichten und die Bilder, die uns gestern aus Wilna erreicht haben, sind erschütternd und bedrückend zugleich. Unter dem Eindruck dieser Bilder und des Blutes, das in Wilna geflossen ist, spreche ich vor allem anderen auch an dieser Stelle den Opfern und ihren Angehörigen unser Mitleid und unser Mitgefühl

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    und denen, die versucht haben, das von ihnen gewählte Parlament und die Einrichtungen ihrer Republik mit ihren Leibern zu schützen, unsere Sympathie und unseren tiefen Respekt aus.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)

    Was immer auch in den nächsten Wochen und Monaten geschehen mag, eines ist gewiß: Mit Panzern und militärischer Gewalt läßt sich das Streben der Menschen nach Freiheit und Selbstregierung für einige Zeit, vielleicht sogar für Jahre unterdrücken. Auslöschen läßt sich dieses Bestreben nicht.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Das hat die Entwicklung in Ungarn seit den 50er und die Entwicklung in der Tschechoslowakei seit Ende der 60er Jahre, aber auch die Entwicklung in Polen nach der Verhängung des Kriegsrechts gezeigt. Das sollte denen Hoffnung geben, die jetzt von Enttäuschung und Verzweiflung überwältigt werden. Das sollten aber auch die begreifen, die den Befehl für die Militäraktion in Wilna gegeben haben und die damit jetzt zu den gleichen Mitteln greifen, die schon in Budapest und Prag versagt und in diesen Ländern nur zur inneren Lähmung und gegenüber der Sowjetunion zu Empörung und Ablehnung, ja zum Haß zwischen den Völkern geführt haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Für die deutsche Sozialdemokratie verurteile ich die Aktionen, die das sowjetische Militär bisher in Wilna und offenbar auch in anderen Städten Litauens unternommen hat, mit Entschiedenheit. Sie richten sich gegen ein frei gewähltes Parlament und die von ihm bestellte Regierung, also gegen Institutionen, die im Einklang mit den Prinzipien der Perestroika ins Leben getreten sind. Sie richten sich ferner gegen das Selbstbestimmungsrecht, also gegen einen völkerrechtlichen Grundsatz, der in der Charta der Vereinten Nationen verankert und in der KSZE-Schlußakte bekräftigt worden ist.
    Natürlich kann auch dieses Recht — wir wissen das aus unserer eigenen Geschichte der letzten 40 Jahre — nicht absolut gesetzt und ohne Rücksicht auf die jeweiligen Umstände und auf die Folgen um



    Dr. Vogel
    jeden Preis in vollem Umfang durchgesetzt werden. Natürlich spielt auch hier die zeitliche Dimension eine Rolle. Aber nichts erlaubt einer wie auch immer firmierenden Personengruppe, sich an die Stelle eines demokratisch gewählten Parlaments und einer demokratisch gewählten Regierung zu setzen und deren Befugnisse an sich zu reißen.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Nichts rechtfertigt es, gegen diejenigen, die ihre demokratischen Institutionen gewaltlos verteidigen, Panzer in Marsch zu setzen und andere militärische Gewaltmittel anzuwenden.
    Ein solches Vorgehen verstößt gegen die Prinzipien der KSZE, wie sie von der Sowjetunion und allen anderen KSZE-Mitgliedern zuletzt im November vergangenen Jahres in der Charta von Paris für ein neues Europa bekräftigt worden sind. Wir verurteilen die Militäraktionen schon aus diesem Grunde auf das entschiedenste und fordern, sie sofort zu beenden und nicht an anderer Stelle wieder aufzunehmen.

    (Beifall bei der SPD und dem Bündnis 90/ GRÜNE)

    Zugleich fordern wir alle Beteiligten auf, erneut in Verhandlungen einzutreten und nach friedlichen Lösungen zu suchen. Die Reise einer Delegation des sowjetischen Föderationsrates nach Wilna und die Kontakte, die daraufhin offenbar zwischen dem litauischen Parlament und den Militärbehörden zustande gekommen sind, geben in dieser Hinsicht eine gewisse Hoffnung. Die Militäraktion zu beenden und zum Dialog zurückzukehren, das verlangt das Recht, das verlangen aber auch die politische Vernunft und die Sorge um den Frieden in Europa und in der Welt.
    Wer immer die Befehle für die Militäraktion gegeben hat, der muß wissen: Militärische Gewalt mildert die Nationalitätenkonflikte in der Sowjetunion nicht, sondern verschärft sie. Alle Völker der Sowjetunion, die Autonomie und Selbstregierung oder auch Selbständigkeit anstreben, werden jetzt fürchten, daß das, was in Wilna, in Litauen geschah, morgen auch bei ihnen geschehen kann. Der Weg, den Michail Gorbatschow zur Erneuerung der rechtlichen Grundlagen für die Zusammenarbeit der Völker der Sowjetunion, ihrer Staaten und Republiken bereits eingeschlagen hat, wird dadurch blockiert. Bürgerkrieg könnte an die Stelle von Verhandlungen und von Interessenausgleich treten. Was Bürgerkrieg in einem Land bedeuten könnte, in dem an vielen Orten noch immer atomare Waffen in großer Zahl lagern, bedarf wohl keiner näheren Erläuterung.
    Wer militärische Gewalt anwendet, muß weiter wissen, daß er damit das Vertrauen in die Reformpolitik der letzten Jahren erschüttert und den Eindruck erweckt, er wolle diese Politik beenden oder gar in die Vergangenheit zurückkehren. Das würde in der Sowjetunion selbst den erbitterten Widerstand derer hervorrufen, die die im Verlauf der Perestrojka gewonnenen Freiheiten nicht wieder verlieren und erneut gegen eine Diktatur eintauschen wollen. Es würde aber auch das aufs Spiel setzen, was in Europa und im Verhältnis zwischen Ost und West insgesamt,
    gerade auch auf Grund der Politik Gorbatschows seit 1985, an Verständigung, Kooperation und Friedenssicherung gewachsen ist.
    In beiden Richtungen haben die ernsten Mahnungen, die Eduard Schewardnadse anläßlich seines Rücktritts als Außenminister geäußert hat, durch die jüngsten Ereignisse eine besorgniserregende Bekräftigung erfahren. Ich bin tief überzeugt, daß die große Mehrheit der Menschen in der Sowjetunion das, was da in Europa gewachsen ist, nicht wieder preisgeben will. Ich sehe bis zur Stunde auch keine Beweise dafür, daß Michail Gorbatschow sein eigenes Friedenswerk in Frage stellen oder gar zerstören will.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Deshalb muß mit der eindringlichen Warnung an die Kräfte der Konfrontation die Bekräftigung unserer festen Absicht einhergehen, den reformerischen Kräften in der Sowjetunion weiterhin, ja sogar noch verstärkt zu helfen,

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU)

    und zwar im Sinne einer gemeinsamen europäischen Anstrengung. Darum wäre es auch verfehlt, die humanitäre Hilfe für die Menschen der Sowjetunion jetzt einzustellen.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

    Im Gegenteil, gerade diese Hilfe macht deutlich, was Zusammenarbeit und wechselseitiges Verständnis bewirken und was der Rückfall in die Vergangenheit zerstören würde — auch an menschlichen Brücken, die durch diese Hilfe entstanden sind.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Die heutige Sitzung war zunächst allein dazu bestimmt, die Golfkrise zu debattieren. Über das Wochenende ist die litauische Krise hinzugekommen. Zwischen beiden besteht ein zeitlicher Zusammenhang. Die Gefahr für den Weltfrieden würde sich erhöhen, wenn beide Krisen darüber hinaus politisch zusammenfließen und zu einer Konfrontation der Weltmächte führen würden.
    Herr Kollege Brandt hat in unserem Namen bereits vor einem militärischen Automatismus und vor einem Krieg am Golf gewarnt. Ich wiederhole diese Warnung und sage: Das Recht muß gegen den irakischen Diktator mit Mitteln durchgesetzt werden, die das gegenwärtige Übel, das schlimm genug ist, nicht durch ein größeres, noch viel schlimmeres Übel mit unübersehbaren Risiken ersetzen.

    (Beifall bei der SPD und des Abg. Dr. Ullmann [Bündnis 90/GRÜNE])

    Diese Risiken sind durch die Vorgänge in Litauen größer, keinesfalls aber geringer geworden.
    An die Kräfte der Konfrontation in der Sowjetunion richte ich die Warnung, den Golf-Konflikt nicht als Schutzschild für militärische Gewalt im eigenen Land zu mißbrauchen. Dies würde den Diktator in Bagdad ermutigen, ja vielleicht sogar auf einen Konflikt der



    Dr. Vogel
    Weltmächte hoffen lassen, der ihm nutzt. Wer so handelt, lüde in einer Situation, in der die Menschen ohnehin von Stunde zu Stunde mehr um den Frieden bangen, schwerste Verantwortung auf sich.

    (Beifall bei der SPD und beim Bündnis 90/ GRÜNE)

    Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen, das vergangene Jahr war ein Jahr, in dem die Menschen in Europa, und nicht nur in Europa, Hoffnung schöpften, ein Jahr, in dem die Freiheit und die Demokratie vorankamen, Waffen verschrottet und alte Gräben eingeebnet wurden, das Jahr auch, in dem unser Volk zu seiner Einheit gefunden hat, und ein Jahr, in dem die Vision vom gemeinsamen europäischen Haus Gestalt gewann. Das darf uns nicht unter den Händen zerrinnen, das darf sich nicht als Fata Morgana erweisen.
    Deshalb müssen wir gemeinsam mit unseren europäischen Freunden, mit unseren Verbündeten und unseren Partnern jede Anstrengung unternehmen, damit in diesem Europa die Vernunft die Oberhand behält und Europa nicht wieder in die Zeiten der Konfrontation und des Ost-West-Gegensatzes zurückfällt.

    (Beifall bei der SPD)

    Es spricht alles dafür, daß die Fraktionen dieses Hauses, das Regierung und Opposition bei allem, was uns sonst trennen mag und auch in der Einschätzung der weiteren Entwicklung der Golfsituation trennen mag, in diesem Punkt so weit wie möglich zusammenarbeiten. Wir sind zu dieser Zusammmenarbeit bereit.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90/GRÜNE)