Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht bei unserem Antrag um eine Änderung des § 10 Abs. 1 der Geschäftsordnung. Danach sollen nach unserem Vorschlag nicht mehr fünf vom Hundert, 34 der Mitglieder des Bundestages, sondern sieben Abgeordnete der in dem kleineren Zählgebiet der Bundestagswahl, also in der ehemaligen DDR, gewählten Abgeordneten, für die Bildung einer Fraktion ausreichen.
Die Grundlage für die richtige Beantwortung dieser Fragestellung und für die Behandlung dieses Antra-
10 Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 1. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Dezember 1990
Dr. Heuer
ges ist das richtige Verhältnis der Widerspiegelung des Wählerwillens einerseits und der Arbeitsfähigkeit des Parlamentes andererseits. Nach dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist die Arbeit des Parlaments an den Interessen des Volkes orientiert, geht alle Staatsgewalt vom Volke aus. Deshalb ist vorgesehen, daß das Wahlrecht darauf zielt, diese Widerspiegelung des Willens des Volkes zu sichern.
Damit verbunden, davon abgeleitet ist die Chancengleichheit der Parteien. In dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Wahlrecht heißt es:
Die Demokratie kann nicht funktionieren, wenn nicht die Parteien grundsätzlich unter gleichen rechtlichen Bedingungen in den Wahlkampf eintreten.
Nun gibt es eine Gegenargumentation, wie sie in einer gemeinsamen Sitzung der Ausschüsse Deutsche Einheit am 26. Juli 1990 der Abgeordnete Schröder vortrug. Er sagte damals:
Das Parlament ist kein Repräsentantenhaus, das möglichst das politische Spektrum des Landes vollständig widerspiegeln soll.
Das sei Aufgabe der Medien.
Auch der Abgeordnete Vogel erklärte damals die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes als die Hauptforderung, als die Hauptgrundlage und forderte deshalb die Anwendung der Sperrklausel für das gesamte Wahlgebiet.
Grundlegend müssen aber nach unserer Auffassung Wählerwillen und Chancengleichheit sein. Parteien, Parlament, Fraktionen sind Mittel zum Zweck der Demokratie.
Ich meine, daß in der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Sperrklausel dieser Grundgedanke seine Widerspiegelung gefunden hat. Dort heißt es, eine einheitliche Sperrklausel verletze die Chancengleichheit zu Lasten der Parteien der DDR und bedeute eine Intervention zugunsten der Parteien der BRD. Die DDR-Parteien müßten sich gewissermaßen aus dem Stand heraus um ein neues Wählerpotential bemühen, das um das mehr als Dreifache größer sei als ihr bisheriges.
Es geht auch um Chancengleichheit der Wähler dieses Gebietes, die, historisch begründet, ganz andere Interessen haben, die sie so schnell nicht in gesamtdeutsche Interessen einbringen können.
Die Regelung war getroffen worden, um spezifischen Parteien, spezifischen Interessen der Wähler im Gebiet der DDR die Möglichkeit zu geben, in den Deutschen Bundestag zu kommen. Das aber muß zur Konsequenz haben, daß sie auch im Rahmen des Parlaments entsprechend auftreten können. Dafür ist aber der Fraktionsstatus entscheidende Voraussetzung.
Die Rolle der Fraktionen wurde im Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 13. Juni sehr stark hervorgehoben. Sie seien maßgebliche Faktoren der parlamentarischen Willensbildung. Frau Hamm-Brücher hat ausdrücklich vom „Parlament der Fraktionen" gesprochen und sogar gesagt, daß hier ein Mißbrauch bestehe, daß hier schwere Probleme bestünden.
Die Bildung der Fraktionen ist in der Geschäftsordnung offensichtlich der Wahlrechtsregelung nachgebildet. Daraus ergibt sich nach unserer Auffassung zwingend die Konsequenz: Wenn zum Einzug der Parteienlistenverbindungen vom einheitlichen Wahlgebiet abgegangen wurde, wegen der Widerspiegelung des Wählerwillens, dann muß das auch für die Arbeit im Parlament gelten. Zwar hat das Parlament eine autonome Befugnis, seine Geschäftsordnung zu regeln, aber die Arbeitsfähigkeit des Parlamentes ist inhaltlich und formell an die Macht, an den Willen des Volkes gebunden. Es kann deshalb in der Geschäftsordnung keine andere Entscheidung als im Wahlgesetz getroffen werden.
Lassen Sie mich noch einen Gedanken hinzufügen: In der Arbeit dieses Hauses werden noch für längere Zeit Interessenunterschiede zwischen den beiden Teilen Deutschlands eine Rolle spielen. Viele ökonomische Unterschiede bestehen fort; sie verstärken sich gegenwärtig sogar.
Es gibt eine positive Entwicklung der Kultur im westlichen Teil unseres Landes, eine negative Entwicklung im östlichen Teil. Im Westen gibt es den Beamtenstatus, bei uns werden Hunderttausende in den Wartestand versetzt, wissenschaftliche Einrichtungen abgewickelt. Wir haben starke soziale Konflikte in diesem Land.
Ich meine, daß zur Bewältigung dieser juristischen und sozialen Konflikte eine Bewehrung der Institutionen des Verfassungs- und Sozialstaates notwendig ist. Das erfordert auch, daß die Menschen in der DDR, die mit diesem Lande in Leid und Widersprüchen verbunden waren — das sind nicht nur die Wähler der PDS, auch die Wähler des Bündnisses 90/GRÜNE — , Menschen, die diese Geschichte nicht einfach streichen können und wollen, die mit diesem neuen Deutschland zu Rande kommen wollen, in diese Ordnung hineinwachsen, ökonomisch, sozial, aber auch ideell-psychologisch.
Dieser Weg für Millionen Menschen wird besser geebnet, wenn Parteien und Bewegungen, die diese Interessen vertreten wollen, nicht durch Verbotsdrohungen eingeschüchtert werden, sondern gleichberechtigt an diesem Prozeß teilnehmen können. Deshalb bitte ich Sie eindringlich, durch Änderung der Geschäftsordnung diese Entwicklung zu einem Stück zu erleichtern.
Danke schön.