Rede von
Dr.
Wolfgang
Ullmann
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Abgeordneten von Bündnis 90/GRÜNE beantragen die Vertagung der Beschlußfassung bis zur Bildung der Gemeinsamen Kommission aus Bundestag und Bundesrat zur Beratung der anstehenden Grundgesetzänderungen. Sie beantragen das im Blick auf die Geschäftsordnung für das Verfahren nach Art. 115d des Grundgesetzes.
Deutscher Bundestag — 12. Wahlperiode — 1. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Dezember 1990 9
Dr. Ullmann
Zur Begründung darf ich folgendes sagen, meine Damen und Herren Abgeordnete, verehrte Frau Präsidentin. Ich stelle anhand einer routinemäßigen Geschäftsordnungsfrage fest, welche Lapalien uns im Wahlkampf beschäftigt haben. Das gilt sicherlich auch für die politische Gruppierung, für die ich hier spreche. Wir stellen anhand dieser Geschäftsordnungsfrage plötzlich fest, vor welcher Grundalternative der gegenwärtigen Epoche wir stehen: ob dem Gebrauch lebens- und umweltzerstörender technischer Mittel oder dem den Frieden erhaltenden und neu stiftenden Weg des Rechts lokal, regional oder global die Entscheidungsgewalt gebührt. Art. 115 d des Grundgesetzes hat mit dem Verteidigungsfall zu tun. Wir begründen unseren Vertagungsantrag damit, daß der Verteidigungsfall unter diesen Bedingungen neu zu definieren ist. Der Verteidigungsfall ist gegeben, wo immer Menschenwürde oder Menschenrechte in Gefahr sind, nicht erst dort, wo sie verletzt werden. Der Verteidigungsfall ist gegeben, wo immer soziale Gegensätze so tief sind, daß das Zusammenleben gefährdet ist. Der Verteidigungsfall ist gegeben, wo immer ein Teil der für die Lebensqualität unentbehrlichen außermenschlichen Wirklichkeit gefährdet ist. Unser Land hat sich an diesen Maßstäben messen zu lassen. Es hat, gemessen an diesen Maßstäben, keine rühmliche Rolle gespielt und spielt sie so lange noch nicht, als die Teilnahme am internationalen illegalen Waffenhandel nicht aufgedeckt und unterbunden wird. — Das ist die eine Begründung.
Die zweite Begründung. Es hat in unserem Lande eine Diskussion über die Erweiterung der Einsatzmöglichkeiten der Bundeswehr begonnen, eine Diskussion, die eine verfassungsrechtliche Dimension hat, wie jeder Abgeordnete und jede Abgeordnete dieses Hauses weiß. Vor diesem Hintergrund ist das in Rede stehende besondere Gesetzgebungsverfahren alles andere als verfassungsrechtlich belanglos. § 1 Abs. 1 der in Rede stehenden Geschäftsordnung, die übernommen werden soll, spricht der Bundesregierung eine ganz besondere Kompetenz für die Einleitung dieses besonderen Gesetzgebungsverfahrens zu. Zweitens sieht diese Geschäftsordnung vor, daß die Geschäftsordnung des Bundestages — mitsamt ihren Mehrheitsverhältnissen — übernommen wird. Außerdem ist das Verhältnis zum Art. 53 a, Gemeinsame Kommission, durchaus berührt, weil dieser Artikel eine Vorbehaltsklausel hinsichtlich der Verfassungsrechte der Gemeinsamen Kommission enthält. Hier muß die Frage gestellt werden, wie sich das besondere Verfahren der Gesetzgebung zu dieser Vorbehaltsklausel verhält. Außerdem haben wir gerade vor dem Hintergrund der von dem Herrn Alterspräsidenten Brandt geschilderten neuen europäischen Situation unsere Verfassungsgesetzgebung im Verteidigungsfall ins Verhältnis zu der gewachsenen Bedeutung der KSZE-Konferenz zu setzen.
Meine Damen und Herren, ich denke, daß das Gründe sind, die es rechtfertigen, zu beantragen, daß die Beschlußfassung zu diesem Punkte so lange auszusetzen ist, bis jene in Aussicht genommene Gemeinsame Kommission für die Diskussion der anstehenden Änderungen des Grundgesetzes ins Leben gerufen ist. Sie darf in keiner Weise bei ihrer Arbeit präjudiziert werden.
Lassen Sie mich schließen, indem ich darauf hinweise, daß sowohl der Herr Alterspräsident wie die Frau Präsidentin uns heute verpflichtet haben auf die Traditionen der Paulskirche und die Traditionen der Weimarer gesetzgebenden Versammlung. Mir ist beides aus dem Herzen gesprochen, und ich fühle mich als einer, der mit tiefem Respekt in dieser Tradition steht. Aber diese Tradition besagt nicht, daß man unter veränderten historischen Bedingungen gegebenes Recht fortschreibt, sondern daß man unter geänderten historisch-politischen Bedingungen verfassungsrechtliche Konsequenzen zieht. Das müssen wir gemeinsam tun.
Meine Damen und Herren von der konservativen Seite dieses Hauses, . . .