Rede von
Dr.
Rita
Süssmuth
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Bundespräsident! Herr Alterspräsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine Damen und Herren! Ich möchte mich zuallererst herzlich für das große Vertrauen bedanken, das Sie mir mit Ihrer Wahl entgegengebracht haben. Ich möchte denen, die mich gewählt haben, und jenen, die mich nicht gewählt haben, sagen: Ich bin selbstverständlich die Präsidentin aller Abgeordneten und trete für die Belange aller Abgeordneten ein. Was ich mir dabei wünsche, ist ein starkes Parlament. Das braucht die Demokratie; davon lebt sie. Das ist unser aller politischer Auftrag.
Herr Alterspräsident, ich möchte Ihnen ganz herzlich danken. Sie haben nun zum drittenmal eine konstituierende Sitzung geleitet. Ich danke im Namen aller Mitglieder dieses Hauses für das, was Sie uns heute morgen in Ihrer Rede mit auf den Weg gegeben haben.
Als Sie die Belange unseres Volkes, die europäischen und die internationalen Belange ansprachen, wurde deutlich, welche Wegweisung uns damit für unsere parlamentarische Arbeit in den nächsten vier Jahren gegeben ist. Möge es uns gelingen!
Unser Parlament konstituiert sich zu seiner 12. Wahlperiode, seiner ersten gesamtdeutschen, hier in Berlin, in der Stadt, in der wir sehr lange mit Gegensätzen und Widersprüchen, Hoffnung trotz Hoffnungslosigkeit, Freiheit im Angesicht der Unfreiheit gelebt haben. Sie ist seit dem gewaltlosen Fall der
Deutscher Bundestag — 12, Wahlperiode — 1. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 20. Dezember 1990 7
Präsidentin Dr. Süssmuth
Mauer wieder eine freie, ungeteilte, weltoffene Hauptstadt. Sie gehört wieder ganz zu uns, ebenso wie die Menschen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen.
Einer unserer wichtigsten Wünsche muß sein, daß wir, wenn wir vom Zusammenwachsen unseres Volkes sprechen, hier, im Parlament, zusammenwachsen und daß am Ende dieser Wahlperiode noch deutlicher wird als am Anfang: Wir sind ein Parlament, wir sind alle zuständig für ein und dieselbe Aufgabe: zum Wohle unseres ganzen Volkes zu arbeiten.
Dies ist das erste Parlament nach dem Ende des Krieges, in dem wir zu Beginn einer neuen Wahlperiode nicht an die Trennung und Teilung erinnern, nicht mehr auf die Einheit hoffen oder an sie mahnen müssen.
Was bleibt, ist die Verpflichtung gegenüber der Vergangenheit; sie ist heute morgen für uns alle verbindlich hier angesprochen worden.
Besonders sage ich dies gegenüber jenen Opfern, die wir hier unmittelbar in Berlin zu beklagen haben. Aber ich sage es auch für jene, die anderswo in den Tod gegangen sind oder verfolgt wurden. Und ich sage es für jene, die von uns erwarten, daß wir die Rehabilitierungsarbeit schnellstens fortsetzen, die in der Volkskammer begonnen wurde und die von den vom System Unterdrückten auch von uns erwartet wird.
Wir nehmen es fast schon als zu selbstverständlich hin, daß wir in einem freien Parlament geeint unsere konstituierende Sitzung abhalten. Ich möchte am heutigen Tage daran erinnern, daß das keineswegs selbstverständlich ist. Wir sind so schnell im Vergessen. Wir eilen mit Übergeschwindigkeiten durch die Zeit. Ich möchte für uns alle sagen: Diese Einheit ist Leistung von unzählig vielen Menschen, und sie ist Geschenk. Sie ist Grund für Dankbarkeit und Zuversicht.
All diejenigen, die schon die Nachricht vom Rücktritt des sowjetischen Außenministers Schewardnadse zur Kenntnis genommen haben, wissen, was das bedeuten kann. Wir können nicht dankbar genug sein, daß wir die Einheit in dem zurückliegenden Zeitraum vollziehen konnten.
Herr Alterspräsident, lieber Herr Kollege Brandt, ich möchte Ihnen bei dieser Gelegenheit auch sagen, daß Sie zu Recht hier im Reichstag gerade noch einmal gefragt haben: Wie halten wir es mit den Verfolgten des Naziregimes, mit seinen Opfern?
Ich kann unseren Kolleginnen und Kollegen sagen: In der vergangenen Wahlperiode wurde die Arbeit an der Dokumentation der Schicksale der verfolgten Abgeordneten des Reichstages abgeschlossen. Wir haben alle Einzelschicksale verfolgt. Wir werden sie hier in diesem Reichstag dokumentieren. Zugleich ist in
dieser Wahlperiode auch die Entscheidung über ein Mahnmal für diese verfolgten Reichstagsabgeordneten gefallen, das ebenfalls in diesem Reichstag in Kürze, wie ich hoffe, seinen Platz finden wird. Ich bin froh, dies am heutigen Tag sagen zu können; denn zu Recht wurde eben auf Einheit und Brüche in diesem Reichstag verwiesen.
Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch einiges zu unserem neuen Parlament sagen. Es ist in der Tat größer geworden. Es gibt einige, die sagen: Es ist viel zu groß. Zunächst möchte ich sagen: Der Grund für die Vergrößerung ist der beste, den ich mir überhaupt vorstellen kann.
Mit der Vergrößerung ist es zugleich jünger und weiblicher geworden. Allein in den beiden letzen Wahlperioden hat sich der Anteil der weiblichen Mitglieder verdoppelt.
Das ist noch nicht genug, aber es ist ein guter Start.
Diejenigen, die sagen, das Parlament sei zu groß geworden, möchte ich an das erinnern, was heute morgen gesagt wurde: Auch die Erwartungen in unseren Wahlkreisen haben sich verändert, nicht nur im Zusammenhang mit den Direktmandaten. Ich bin nicht dafür, daß wir die Wahlkreise vergrößern, wenn damit der Einsatz vor Ort verringert wird. Je mehr uns die Bürger und Bürgerinnen direkt erreichen, um so besser ist es. Deswegen sollte es keine Verkleinerung des Parlaments geben.
Ich möchte uns in diesem Zusammenhang vor Augen führen, daß die vor uns liegende Zeit keine Zeit sein wird, in der wir uns abstrakt über eine Parlamentsreform unterhalten sollten. Wohl aber bin ich der Auffassung, daß die vor uns liegende Zeit noch mehr vom Parlament fordert, als es die Vergangenheit getan hat. Warum? Weil die Aufgaben mit einem nicht mehr in Blöcke eingeteilten Europa nicht kleiner, sondern größer geworden sind, weil von uns erwartet wird, daß wir nicht nur mit dem alten Denken und mit alten Lösungsmustern neue Aufgaben und neue Anforderungen angehen, sondern daß wir in der Lage sind, die neuen Aufgaben auch mit neuen Ideen zu füllen. Keine der Aufgaben im Innern unseres Landes kann gelöst werden, ohne daß sie im europäischen Zusammenhang gesehen wird, im Zusammenhang mit der Europäischen Gemeinschaft und mit unseren Nachbarn im Osten. Denn von uns wird erwartet, daß wir zeigen, daß wir uns mit den Lösungen, die wir vorschlagen, nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa bewähren.
Ein weiteres ist unverzichtbar: Nur wenn es uns gelingt, dieses Europa beschleunigt zu einer Einigung zu führen, werden wir in der Lage sein, die jungen Demokratien sozial und wirtschaftlich wie auch politisch zu stärken. Dies ist unsere gemeinsame Aufgabe.
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Präsidentin Dr. Süssmuth
Es gibt ein Drittes. Nichts bedrängt im Augenblick auch die Menschen bei uns so sehr wie die Frage: Werden wir den Frieden wahren können? Es ist die Aufgabe dieses Parlamentes, es ist die Aufgabe der politisch Verantwortlichen, alles zu tun, um einen Krieg des Wahnsinns zu verhindern.
Wir haben nicht für den Frieden in Europa gestritten, damit er in anderen Teilen der Welt nicht aufgebaut oder nicht gewahrt werden kann.
In Europa und gerade auch bei uns werden die Bedrängnisse in bestimmten Bereichen größer werden. Viele Menschen sind unterwegs, weil sie Not leiden. Wir werden nicht unsere Grenzen schließen und die Notleidenden draußen lassen können. Das heißt, wir sind verantwortlich für diese eine Welt und für menschenwürdige Verhältnisse in der ganzen Welt, für den Erhalt des Planeten und tatkräftige Arbeit an Verhältnissen, die die Weltflüchtlingsbewegung geringer machen. Dies fordert uns ebenfalls europäische Lösungen ab.
Wichtig ist dabei, daß wir Fremdheit im eigenen Land überwinden und Solidarität praktizieren.
Hier muß nach den Erfahrungen, die wir gegenwärtig wieder machen, unser dringendstes Anliegen sein, daß die Vergangenheit die Zukunft nicht beherrscht. Die Stasi darf nicht Macht über uns bekommen; dagegen müssen wir uns gemeinsam in der Demokratie wehren.
Dies bedeutet, daß wir die Vergangenheit nicht verdrängen dürfen, sondern so mit ihr umgehen müssen, daß die Schuldigen bestraft werden, daß aber die Unschuldigen und jene, die in diesem System leben mußten, eine neue Chance, eine neue Zukunft haben. Wir können unsere gemeinsame Zukunft auch nur gemeinsam bauen, nicht im Mißtrauen, sondern im Zutrauen zueinander. Dazu sind große Anstrengungen von uns allen erforderlich.
Auch wenn ich meine Rede mit Blick auf die weiteren Geschäftsgänge kurzhalten will, so möchte ich diesem Hause doch noch eines sagen: Anläßlich der 25-Jahr-Feier der Ruhruniversität Bochum wurde mir das Original-Siegel der Frankfurter Paulskirche überreicht; es wurde mir von der Familie Simon überreicht, deren Ahnherr Heinrich Simon 1848 dem radikalen Flügel der Frankfurter Paulskirche angehörte. Er wurde gezwungen, Deutschland zu verlassen, ging in die Schweiz; aber er konnte dieses Siegel mit sich nehmen. Es ist dann in der Familie Simon verblieben und wurde dem Deutschen Bundestag auf Grund des neuen Zutrauens in Deutschland und Europa im Juni dieses Jahres geschenkt als Zeichen der Verbundenheit, als Zeichen dafür, daß sich demokratische Traditionen bei uns fortsetzen mögen. Ich denke, dieses Geschenk ist ein Zeichen der Anerkennung, aber auch ein Zeichen der Verpflichtung, und es ist ein Zeichen der Zuversicht.
Ich schließe mit dem Wort: Demokratische Traditionen verpflichten, aber nichts ist stabil, ohne daß wir uns immer wieder selbst fordern und gefordert wissen. Ich wünsche uns, daß wir so miteinander umgehen, aufeinander achten, hören und vor allem voneinander lernen, daß die Erfüllung der uns gestellten Aufgaben auch in dieser Wahlperiode gelingt. Ich danke schon jetzt allen, die mich dabei unterstützen werden.
Ich danke Ihnen.
Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Punkt 4 der Tagesordnung auf:
Beschlußfassung über die
Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages
Gemeinsame Geschäftsordnung des Bundestages und des Bundesrates für den Ausschuß nach Artikel 77 des Grundgesetzes
Geschäftsordnung für den Gemeinsamen Ausschuß nach Artikel 53 a des Grundgesetzes
Geschäftsordnung für das Verfahren nach Artikel 115d des Grundgesetzes
Die Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP beantragen außerdem, heute über die vorläufige Übernahme des Beschlusses des Bundestages vom 31. Oktober 1990 zur Behandlung von Verdächtigungen gegen Mitglieder des Deutschen Bundestages zu beschließen. — Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann können wir so verfahren.
Es liegen noch verschiedene Anträge vor.
Die Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE haben auf Drucksache 12/2 einen Antrag auf Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages vorgelegt.
Außerdem liegt ein Antrag des Abgeordneten Dr. Gysi auf Drucksache 12/5 vor.
Beide Anträge betreffen die Herabsetzung der Fraktionsmindeststärke auf 7 Mitglieder.
Weiter liegt ein Antrag der Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE auf Drucksache 12/11 vor, mit dem § 12 der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages — Stellenanteile der Fraktionen — geändert werden soll.
Schließlich wird von den Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE auf Drucksache 12/9 beantragt, die Zählung der Wahlperioden des Deutschen Bundestages nicht fortzuführen, sondern nunmehr mit der 1. Wahlperiode neuer Zählung zu beginnen.
Zur Geschäftsordnung hat sich Herr Dr. Ullmann gemeldet.