Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der guten Ordnung halber darf ich fragen: Ist jemand im Saal, der vor dem 18. Dezember 1913 geboren wurde? — Das scheint keiner zugeben zu wollen oder zu können.
Dann darf ich Sie, meine werten Kolleginnen und Kollegen, Mitglieder des am 2. Dezember gewählten 12. Deutschen Bundestages, hier im Reichstagsgebäude in der Hauptstadt Berlin willkommen heißen und die 1. Sitzung der 12. Wahlperiode des Deutschen Bundestages eröffnen.
Erstmals nach vielen Jahrzehnten versammeln sich die in gesamtdeutschen freien Wahlen bestimmten Abgeordneten, fürwahr ein Ereignis, das historisch genannt werden wird.
Ich darf in Ihrer aller Namen sprechen, wenn ich sage: Wir danken dem Herrn Bundespräsidenten — auch dafür, daß er heute hier bei uns ist.
Mein respektvoller Gruß, Herr Bundespräsident, gilt zugleich Ihrem persönlichen Gast, dem Präsidenten der Italienischen Republik,
Herrn Professor Francesco Cossiga, der sich an diesem für uns bedeutungsvollen Tag hier eingefunden hat. Schönen Dank, Herr Präsident!
Wir wissen zu schätzen, daß Botschafter und Missionschefs von mehr als 70 Ländern und andere Gäste aus fern und nah an diesem nicht allein für uns Deutsche wichtigen Tag hierher gekommen sind.
Ich grüße die Mitglieder des Bundesrates und nicht zuletzt die anwesenden Landtagspräsidenten. Unser Gruß gilt im besonderen den Präsidenten der Parlamente der fünf neuen Bundesländer.
Sodann darf ich mich an all die Wahlbürgerinnen und Wahlbürger wenden, in deren Auftrag wir hier sind. In besonderer Verbundenheit grüße ich die Landsleute in den neuen Bundesländern, in Goethes und Schillers Thüringen, in Bachs und Leibniz Sachsen, in Luthers und Nietzsches Sachsen-Anhalt — wenn es das schon gegeben hätte —,
in Fritz Reuters und Ernst Barlachs Mecklenburg, in Caspar David Friedrichs Vorpommern, in Schinkels und Fontanes Brandenburg, in Humboldts und Hegels jetzt nicht mehr zerklüfteten Berlin.
Meine Damen und Herren, über seine Geschäftsordnung wird der 12. Deutsche Bundestag im weiteren Verlauf dieser Sitzung — unter Tagesordnungspunkt 4— beschließen. Bis es soweit ist, verfahren wir nach den Regeln, die für den 11. Deutschen Bundestag gegolten haben.
In Übereinstimmung mit den Fraktionen benenne ich als vorläufige Schriftführer die Damen und Herren Abgeordneten Hartmut Büttner, Peter Harry Carstensen , Gertrud Dempwolf, Hans-Joachim Fuchtel, Dr. Walter Hitschler, Susanne Jaffke, Ernst Kastning, Franz Heinrich Krey, Uwe Lambinus, Dr. Christine Lucyga, Dr. Michael Luther, Dr. Dietrich Mahlo, Dr. Rolf Niese, Doris Odendahl, Eduard Oswald, Dr. Gerhard Päselt, Rosemarie Priebus, Bernd Reuter, Hannelore Rönsch (Wiesbaden), Ortrun Schätzle, Heinz Schemken, Ursula Schmidt, Wolfgang Schulhoff, Heinrich Seesing, Lisa Seuster, Wieland Sorge, Margitta Terborg, Hans-Günther Toetemeyer, Barbara Weiler, Uta Würfel und Benno Zierer. Die Abgeordneten Krey und Lambinus bitte ich, neben mir Platz zu nehmen.
Meine Damen und Herren, die Wahlen zum ersten gesamtdeutschen Bundestag sind, was den Auftrag zur Regierungsbildung angeht, eindeutig. Gleichwohl lebt die parlamentarische Demokratie vom Wechselspiel zwischen Regierung und Opposition, vom Wettbewerb unterschiedlicher Angebote zur Lösung von Problemen. Daß hier gestritten wird, gehört zur freiheitlichen Ordnung. Meinungsstreit muß ja nicht Wahlkampf in Permanenz bedeuten. Demokratie gedeiht nicht ohne jenen Grundkonsens, der die verfassungsmäßigen Grundfesten sichert. Das gegenseitige
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Alterspräsident Brandt
Wohlwollen mag gelegentlich strapaziert scheinen, die staatspolitische Gleichwertigkeit hat außer Zweifel zu stehen. Unsere Auseinandersetzungen sollten sachlich den Bürgern zugewandt sein, die wir zwar jeder für sich und mit seinen Gleichgesinnten, aber eben auch miteinander zu vertreten haben.
Parlamente in aller Welt haben sich heutzutage zu fragen, wie sie dem Drucksacheninfarkt vorbeugen.
Und doch führt nichts daran vorbei, daß auf diesen Bundestag viel und besondere Arbeit wartet. Die vier Jahre dieser Wahlperiode sind entscheidend dafür, wie die staatliche Einheit ausgefüllt wird, zumal in Richtung grundsätzlich gleicher Lebensverhältnisse, wie sie das insoweit nicht ergänzungsbedürftige Grundgesetz vorschreibt. Zum anderen ist dies der Zeitraum, in dem die Einigung Europas mindestens einen qualitativen Sprung nach vorn erfahren dürfte. Drittens ist die Mitverantwortung in der Welt gewachsen. Krieg droht vor der Haustür Europas. Die Überlebensfragen der Menschheit lassen jedenfalls kein Land unberührt, und Deutschland würde Schuld auf sich laden, wollte es über seinen eigenen die globalen Sorgen Welthunger, Armutswanderungen, Umweltzerstörung vergessen.
Darüber Bescheid zu wissen ist besser als das Gegenteil, aber sich zu entsprechendem Handeln durchzuringen, darauf kommt es an. Wohl wissend, daß die Aufgaben im eigenen Land nicht klein sind, dürfen wir doch in der Solidarität mit den Geplagten dieser Welt nicht versagen.
Zweimal, als der 10. und der 11. Bundestag zusammentraten, habe ich an die Pflicht erinnert, in die uns das Grundgesetz genommen hat: für den Frieden, für Europa, für des eigenen Volkes Recht auf Selbstbestimmung. Damals, vor acht Jahren, konzentrierte sich meine Hoffnung darauf, die beiden deutschen Staaten, die es damals gab, und ihre Bürger möchten sich nicht unnötig auseinanderentwickeln. Vor knapp vier Jahren sprach ich davon, in dieser Phase der geschichtlichen Entwicklung müßten wir Deutsche uns trotz staatlicher Trennung um Zusammenhalt bemühen.
Jene Phase der Ängste und der Hoffnungen ist versunken. Das Ende des Kalten Krieges und der militärischen Konfrontation, das friedlich-mutige Aufbegehren auch unserer Landsleute in der damaligen DDR und die Verwirklichung der staatlichen Einheit, die Chancen auf gesamteuropäische Einigung, dies alles war und bleibt Grund zu großer Freude.
Was aber wäre große Freude ohne Selbstprüfung? Nehmen wir, darf ich fragen, hinreichend wahr, wozu uns die Geschichte einlädt? — Verantwortung für die Geschichte: ich hoffe, das vereinte Deutschland nimmt sie mit allen ihren Seiten an.
Unsere parlamentarische Demokratie ist uns — uns im Westen — nach dem Zusammenbruch von 1945 geschenkt worden, erst in den alten und damals neuen Ländern, dann im Drei-Zonen-Bund. Und doch: Warum verschweigen, daß gerade in jener von Existenzangst erfüllten Zeit alte und schöne Traditionen wiederaufgelebt sind? Wir stehen jedenfalls, so denke ich, in der Tradition der Nationalversammlungen von Frankfurt 1848 und von Weimar 1919
und der freiheitlichen Kräfte im Reichstag vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Wir sind dem Erbe des deutschen Widerstandes verpflichtet. In dieser Stunde denke ich an Julius Leber und an den Grafen Stauffenberg.
Nicht vergessen sind die Opfer der kommunistischen Diktatur.
Wir führen weiter, was 1948/49 von Bonn aus begonnen wurde, und haben nicht überhört, was uns die frei gewählte Volkskammer vor der Einschmelzung in den gesamtdeutschen Prozeß zu sagen hatte.
Der Blick aus dem Reichstagsgebäude schließt die Erinnerung ein. Da ist nicht nur der Freiraum, den der Fall der Mauer geschaffen hat; da sind auch die Plätze, von denen der Krieg und die Verbrechen ausgegangen sind. Wir brauchen den Reichstag nicht einmal zu verlassen. Dieses Gebäude ist, wie man weiß, in Flammen aufgegangen, nachdem sich das Gros der Insassen in einen gröhlenden Männerchor verwandelt hatte.
Mich kümmert die Frage: Ist den nachwachsenden Generationen deutlich gemacht worden, daß an die 200 Mitglieder des Reichstags in Konzentrationslager und Gefängnisse verbracht wurden — manche für kürzere Zeit, manche für Zeiten jahrelanger Peinigung? Wer weiß noch, daß über 100 Abgeordnete ihr Leben verloren haben? Darunter sind auch solche, die im westlichen Exil, oder von dort ausgeliefert, zugrunde gingen und ostwärts durch Stalins Schergen zu Tode gebracht wurden?
Die frei gewählte Volkskammer hat drüben, im damals noch anderen Teil dieser Stadt, am 12. April an die furchtbaren Leiden erinnert, die im deutschen Namen anderen im Osten zugefügt wurden. Ich denke, wir machen uns dies heute noch einmal zu eigen.
Unsere Würde gebietet einen unübersehbaren Ausdruck der Erinnerung an die Ermordung der europäischen Juden. Die Last dieser schrecklichen Vergangenheit wird nur dann leichter, wenn wir sie für unser Volk immer noch einmal annehmen.
Ich füge mit Bedacht hinzu: Die Mitverantwortung für Sicherheit und Wohlfahrt des Staates Israel kann uns nicht loslassen. Daran knüpfe ich die eindringliche Hoffnung auf Ausgleich mit den arabischen Nachbarn.
Ich füge den leidenschaftlichen Appell hinzu: Am Persischen Golf möge völkerrechtswidriges Vorgehen korrigiert und dem Gebot der zu neuem Leben er-
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Alterspräsident Brandt
wachten Vereinten Nationen Folge geleistet werden. Der Nahe Osten hat seine Friedensordnung verdient. Sie bräuchte weniger Zeit, könnte Europa seine guten Dienste einbringen. Mein knappes Wort ist das einer inständigen Bitte um Frieden und Gerechtigkeit auch im Nahen Osten.
Meine Damen und Herren, die Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen: Das Ende des Kalten Krieges, über das wir uns aufrichtig freuen — ich sagte es —, könnte anderswo zerstörerische Kräfte freisetzen. Deshalb muß, was uns in Europa mit dem HelsinkiProzeß gelungen ist — nicht nur auf die Unverletzlichkeit der Grenzen bezogen — , auch in anderen Weltregionen versucht werden, nämlich Sicherheit und Zusammenarbeit auf eine breite Grundlage zu stellen.
Für uns in Deutschland geht es jetzt darum, mit welchem Inhalt wir das gemeinsame Gehäuse nicht nur materiell füllen. Wir mit unseren Wahlkreisen und Landeslisten im Westen wollen, so hoffe ich, aufmerksam auf die Kolleginnen und Kollegen hören, die in den neuen Bundesländern gewählt worden sind. Noch wichtiger ist, daß wir aufeinander hören mögen. Auch über dieses Hohe Haus hinaus mögen die Deutschen aus West und Ost unverkrampft aufeinander zugehen.
Sicherlich sind es wirtschaftliche Nöte und soziale Sorgen, die für viele im Vordergrund stehen und die die Gesetzgeber wie die Regierenden in der vor uns liegenden Zeit beschäftigen werden: Arbeitsplätze, Wohnungen, klare Eigentumsverhältnisse, Sicherheit im Gesundheits- und Bildungswesen, Erneuerung der Infrastruktur und nicht zuletzt deutlich erkennbarer Abbau der Umweltlasten. Ich bin davon überzeugt: Alles dies ist zu schaffen.
Aber ich meine auch, wir schaffen es leichter, wenn wir auch die nichtmateriellen Faktoren wichtig genug nehmen. Der Ministerpräsident von Brandenburg sprach dieser Tage von wundgescheuerten Seelen und davon, daß es das Selbstbewußtsein, das Selbstwertgefühl der Menschen zu festigen gelte. Ängste vor den Härten des Strukturwandels gehen um, und Demütigungen aus den Jahrzehnten der Diktatur wirken nach, und sei es nur das Empfinden, in das gemeinsame Haus weniger mit eingebracht zu haben.
Mauern in den Köpfen stehen manchmal länger als die, die aus Betonklötzen errichtet sind.
Nebenbei gesagt: Selbst in Europa gibt es immer noch scheußliche Trennwände, in Nikosia, in Belfast.
Ich beschwöre unsere Landsleute: Möge das Gefühl, auf der falschen Seite der Geschichte gestanden zu haben, sich nicht in Mutlosigkeit oder gar Aggressivität entladen. Möge es in dem Gefühl aufgehoben sein, daß niemand zu spät kommt, wenn sich das Leben weitet.
Die rechtliche und möglichst gerechte Bereinigung dessen, was das alte Herrschaftssystem hinterließ, muß, meine ich, zügig vorankommen. Das heißt aus meiner Sicht und Erfahrung: Es ist so deutlich wie irgend möglich zwischen denen zu trennen, die sich so verhalten und so bereichert haben, daß sie vor den Kadi gehören, und vielen anderen, die politisch geirrt oder sich bloß durchgemogelt haben. Ihnen wird die Demokratie die Chance des Mittuns und der Bewährung nicht vorenthalten.
Ich möchte folgendes hinzufügen, meine Damen und Herren: Die Maßstäbe des demokratischen Rechtsstaats lassen sich nun einmal an das Leben im diktatorischen Unrechtsstaat nicht anlegen, nicht an ein System, das von der kleinen Bestechung mindestens so lebte wie von der großen. Deshalb ist die moralische und juristische Beurteilung von Verhalten und Fehlverhalten, von Falschspiel und Doppelspiel so sehr schwer.
Eines ist sicher: Zu Helden konnten auch im Staat der SED nur wenige geboren sein. Und das andere: Wer fühlt sich berufen, seines Bruders Richter zu sein?
Wir in der alten Bundesrepublik haben unsere Landsleute im Osten nicht aufgefordert, ihre Heimat zu verlassen; wir haben sie gebeten zu bleiben, so es ging.
Die gegensätzlichen Entwicklungen und die so unterschiedlichen Lebenswege zu überbrücken, wird uns für geraume Zeit Herausforderung bleiben.
Was die vor uns liegende und diesem Bundestag bevorstehende Diskussion um Ergänzungen des Grundgesetzes betrifft: Es hat sich — das sagt einer, der seit 1949 dabei war — für die alte Bundesrepublik voll bewährt. Gleichwohl sollten wir nicht auf Erfahrungen verzichten, die die Landsleute im Osten für uns mit haben machen müssen.
Man konnte in der ersten Hälfte des Jahres den Eindruck gewinnen, bedenkenswerte Anregungen vom Runden Tisch seien unter demselben gelandet, noch bevor sie geprüft werden konnten. Vieles scheint mir dafür zu sprechen, daß das Ergebnis der Diskussion über das Grundgesetz, mit einer Zweidrittelmehrheit beschlossen, den Bürgerinnen und Bürgern des vereinten Deutschland vorgelegt wird.
Wenn sie ihr Votum zur gemeinsamen verfassungsmäßigen Grundlage abgeben, wird dies der inneren Zusammengehörigkeit der Volksteile zugute kommen können.
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Alterspräsident Brandt
Im Westen — ich nehne den Faden noch einmal auf — brach hier und da eine Art Schuldvermutung gegenüber Landsleuten, die in der DDR zu leben hatten, hervor, als ob das Versagen des Systems den Menschen anzulasten sei. Das ist zutiefst ungerecht.
Aber man kann auch fragen: Woher sollte allen bei uns im Westen gleich bewußt gewesen sein, daß es nicht Verdienst, sondern Zufall gewesen ist, in die eine statt in die andere Ordnung hineingewachsen zu sein, und daß daraus das Gebot materieller Hilfe erwächst? Das muß ja nicht im Gegensatz zur Meinung derer stehen, die frühzeitig um Klarheit baten, wem was abverlangt werden wird.
Auch im eigenen Volk wollen Gerechtigkeit und Mitmenschlichkeit geweckt sein. Freilich, wenn man sich sicher fühlt, wie ich es tue, daß die Mehrheit der „Wessis" zu helfen bereit ist, wird man auch manchen „Ossis" von übertriebener Dünnhäutigkeit abraten dürfen.
Das sich vielerorts noch zeigende Verhältnis von oben und unten oder von Lehrern zu Belehrten wird sich, eher über kurz denn über lang, in eines von Gleichen zu Gleichen verwandeln. Wir tun uns alle miteinander auch keinen Gefallen, wenn wir den heute noch gegebenen Zustand hier der Westen, dort der Osten fortschreiben wollten. Es wäre zudem realitätsfern.
Schon heute gibt es eine Fülle neuer Querverbindungen — zusätzlich zu den wiederbelebten —, beides zu stärken und dabei die kulturelle Vielfalt nachhaltig zu fördern. Dies ist die eigentlich schöne Aufgabe, die wir vor uns haben.
Dazu gehört dann der Rat an die Landsleute: Scheut euch nicht, uns Abgeordnete — angefangen bei den Stadt- und Gemeinderäten — für die Vertretung eurer Interessen in Anspruch zu nehmen, und zögert nicht, euch zur Wahrung eurer Rechte mit anderen so zusammenzuschließen, wie dies zum Sozialstaat gehört.
Ein in sich ruhendes gemeinschaftliches Selbstwertgefühl erwächst nicht daraus, daß wir von neuen Bundesbürgern erwarten, sie möchten möglichst widerspruchslos aufgehen im Land des großen Bruders. Ich bleibe bei meinem Rat, zusammenwachsen zu lassen, was zusammengehört. Abgeschlossen ist dieser Prozeß erst, wenn wir nicht mehr wissen, wer die neuen und wer die alten Bundesbürger sind.
Gestatten Sie mir — es wäre verwunderlich, wenn ich darauf verzichtete — ein Wort zu Berlin und dazu, wie wir uns auch aus föderalistischer und europäischer Sicht hinsichtlich des Sitzes von Bundesorganen und Bundesbehörden verhalten sollten.
Berlin ist die Hauptstadt Deutschlands. Es lag deshalb auf der Hand, den gesamtdeutschen Bundestag hier zusammentreten zu lassen. Der Einigungsstaatsvertrag bestätigt, daß Berlin Hauptstadt ist, und läßt offen, was das praktisch bedeutet. Bedeutet es, daß Berlin künftig Sitz von Parlament und Regierung und
natürlich des Staatsoberhaupts sein soll — oder Bonn oder was?
Wir wissen, daß die Meinungen zu dieser Frage auseinandergehen. Mein Eindruck ist, daß Argumente kaum überzeugen, weil sie allzuoft nicht mehr der Urteilsfindung dienen, sondern nur noch der Urteilsbegründung.
Zudem vermuten viele von uns — ich vermute es jedenfalls — , die Güte deutscher Politik hänge nicht in erster Linie davon ab, ob sie von B 1 oder B 2 aus betrieben wird. Gewiß ist zu vermuten, daß sich die künftige Dimension engen europäischen Zusammenwirkens erheblich von der bisherigen westeuropäischen unterscheiden wird. Doch auch dafür spielen die 600 km, die B 2 und B 1 voneinander trennen, keine entscheidende Rolle. Ebensowenig wie die Geographie läßt sich die Geschichte zugunsten nur der einen oder nur der anderen Stadt wenden. Ich denke freilich an Ernst Reuter, wenn ich eine für mich wesentliche Ausnahme mache. Wenn zwischen 1946 und, sagen wir, 1962 — ich könnte auch sagen: 1971 — Berlin nicht standgehalten hätte, wären wir heute nicht hier versammelt.
Zu beantworten sind, so will mir scheinen, mindestens vier Fragen.
Erstens. Sollten wir nicht davon ausgehen, wenn wir denn in die Beratung einsteigen, daß der Deutsche Bundestag jedenfalls darüber zu entscheiden hat, wo er seinen Sitz haben und wo er tagen will?
Zweitens. Sollten wir nicht unsere neu zu wählende Präsidentin, wer immer es sein möge —
ich habe mit der, von der ich vermute, daß sie es sein wird, gestern schon ein Wort hierüber sprechen dürfen — , bitten, hierzu wie zum Sitz der anderen Verfassungsorgane sowie der obersten Gerichte und Bundesbehörden unter Berücksichtigung der Bundesstaatlichkeit im allgemeinen und der neuen Bundesländer im besonderen den Rat einer hochrangigen Kommission von auch geschichtlich versierten Sachkundigen einzuholen und dem Bundestag hierüber alsbald zu berichten?
Drittens. Wäre nicht der Bundesrechnungshof am besten in der Lage, uns über die Kostenfrage unparteiisch aufzuklären?
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Alterspräsident Brandt
Sollte dabei nicht berücksichtigt werden, was die Zusammenfügung und der Ausbau des vereinigten Berlin uns auf jeden Fall abverlangen werden?
Viertens. Würde es der Sache nicht am besten gerecht werden, wenn wir die insoweit anstehende Entscheidung ohne Fraktionsbindungen fällten
und wenn wir sie nicht ohne Not über die erste Hälfte des vor uns liegenden Jahres hinausschöben?
Schließlich, wenn Sie noch erlauben, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen: Ich denke, bei dem Begriff „Bundesrepublik" wird es bleiben.
Wir sollten dieses Wort auf zweierlei Weise denken und sagen lernen: zum einen als Bestätigung der in Länder gegliederten Ordnung, die zum Besten gehört, was wir aus dem Staat von Bonn ins vereinte Deutschland herübernehmen. Zum anderen: Das vereinte Deutschland soll sich vom Beginn an als Teil des werdenden Europa verstehen, nicht weniger als die anderen europäischen Staaten auch.
Nationalismus, denke ich, ist der großen Mehrheit unseres Volkes fremd geworden und zuwider. Deutsch und europäisch gehören jetzt und hoffentlich für alle Zukunft zusammen. Europa wird nicht an den Staaten vorbei, sondern nur mit diesen geschaffen werden. Gute und lebendige Traditionen werden dabei nicht untergehen, regionale Zusammenschlüsse neue Chancen erhalten.
Wir erinnern uns noch einmal: Ohne die freiheitliche Selbstbehauptung des deutschen Westens und Berlins hätte jede Hoffnung unserer Landsleute zwischen Elbe und Oder erlöschen müssen. Wir wissen auch: Unsere Freiheit hätten wir nicht bewahren können, wäre sie nicht durch die Atlantische Allianz und im wachsenden Maße durch die Prosperität und Solidarität der Europäischen Gemeinschaft geschützt worden. Zu den Gründervätern des vereinten Deutschland zählen in diesem Sinne — wir sollten es nicht vergessen — die Urheber des Marshallplans und Männer wie Jean Monnet, die unseren Völkern den Weg nach Europa haben weisen helfen, noch ehe Hitler zur Hölle gefahren war. Wenig später hat Thomas Mann das Wort geprägt, das auch zu unserer Verfassung paßt: Nicht ein deutsches Europa, sondern ein europäisches Deutschland muß das Ziel unserer Anstrengungen sein.
Europa bauen, das ist gewiß nicht Sache Deutschlands allein, aber von unserer Mitverantwortung hängt es ab, daß der wohlstandshungrige und freiheitsdurstige europäische Osten nicht alleingelassen wird.
Die Europäische Gemeinschaft wird in dieser Legislaturperiode des Bundestages eine ihrer entscheidenden Etappen erreichen: die umfassende Wirtschaftsunion 1993, den folgenden bedeutenden Schritt hin zur Währungsunion und dann, so hoffen wir, auch zur sozialen und ökologischen Gemeinschaft, zu einer politischen Union, zu einer solchen der Sicherheit.
Die Gemeinschaft der Zwölf muß erstens demokratisiert werden und darf sich zweitens nicht abschotten.
Als die EWG, die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft, ins Leben trat, wurde festgelegt, daß ihr demokratische Staaten aus allen Teilen des Kontinents beitreten könnten. Das bleibt vernünftig; denn es sollte auf längere Sicht kein Europa der zwei Klassen geben.
Nüchterne Erfahrung sagt uns zugleich: Wenn wir unseren Nachbarn in Zentral- und Osteuropa helfen wollen, dann dürfen wir das Haus der bestehenden Gemeinschaft keiner Einsturzgefahr aussetzen. Perfektionismus wird nichts erreichen und alles bedrohen; aber schöpferische Politik hat stets den Mut zum Wagnis verlangt. So ist es auch jetzt.
Meine Damen und Herren, Menschen, die mir freundlich gesonnen sind, bemerken dann und wann, der Tag, an dem sich die Deutschen in Freiheit vereinten, müsse die Erfüllung meines politischen Lebens sein. Das ist zu kurz gedacht und zu eng. Ich möchte den Tag sehen, an dem Europa eins geworden sein wird.
Nun zum Schluß schlicht und einfach: Ich wünsche uns gute Arbeit und diesem 12. Deutschen Bundestag jeden möglichen Erfolg.
Meine Damen und Herren, ich rufe nunmehr den Tagesordnungspunkt 2 auf:
Wahl des Präsidenten, verbunden mit Namensaufruf und Feststellung der Beschlußfähigkeit
Ich bitte um Vorschläge zur Wahl des Präsidenten. — Herr Abgeordneter Dr. Dregger, bitte.