Rede von
Prof.
Egon
Bahr
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(SPD)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Ich habe schon früher gesagt, daß es einen Zeitpunkt gegeben hat, in dem man die Friedensbewegung hätte erfinden müssen, wenn es sie nicht gegeben hätte.
Ich möchte darauf aufmerksam machen, daß Forschungsprogramme und Entwicklungsprogramme weiterlaufen. Wenn wir es nicht schaffen, da einen Deckel draufzusetzen, hat Europa auf Sand gebaut.
Verhandlungen mit dem Ziel Stopp der Modernisierung müssen nun beginnen. Die beiden bisherigen Seiten dürfen je 20 000 Panzer behalten. Wer braucht gegen wen 40 000 Panzer, da niemand mehr Gegner und Feind hat?
Die zügige Fortsetzung der Verhandlungen zur Fortsetzung der Abrüstung ist geboten. Geboten ist die Überprüfung aller Rüstungsprogramme. Gegen wen sollen die Panzer rollen, die in den nächsten vier Jahren vom Band rollen sollen? — Wirtschaftlicher Unsinn muß gestoppt werden, um den politischen Unsinn einer neuen Drohkulisse zu verhindern.
Hier kann sich die neue Souveränität des größeren Deutschland bewähren. Es wird gar nicht billig, den Schutt des alten Konflikts wegzuräumen, aber das darf doch kein Grund sein, neuen Schrott zu produzieren!
Wenn 1994 alle sowjetischen Streitkräfte hinter der sowjetischen Grenze stehen werden, reduziert und kontrolliert, dann werden die Amerikaner bedeutend weniger als 100 000 Mann haben, die Engländer stark reduziert haben, die Franzosen vielleicht abgezogen sein. Andere Verbündete auf deutschem Boden werden sich ähnlich entscheiden. Polen will seine Streitkräfte auf 130 000 Mann reduzieren, die CSFR auf 60 000. Deutschland wird dann 370 000 Mann haben,
und unsere Nachbarn werden fragen: Wozu braucht ihr soviel?
In der Tat: Wir werden nicht mehr brauchen als alle unsere Nachbarn zusammen, die ja weder Gegner noch Feind sind. „Sicherheit für Deutschland und Sicherheit vor Deutschland" wird ein Kriterium der europäischen Stabilität sein, die eben nur im gesamteuropäischen Rahmen zu finden sein wird.
Da also weitere Abrüstung erwünscht und möglich ist, wird die Bundeswehrplanung schon jetzt darauf einzurichten sein, daß es nicht bei 370 000 Mann bleibt.
Die Bundeswehr steht vor der größten Reform, seit es sie gibt.
Da man den Streitkräften nicht alle vier Jahre eine neue Struktur verordnen kann, sollten die jetzt fälligen Entscheidungen so getroffen werden, daß weitere Reduktionen mitgedacht werden.
Ich nenne einmal die Richtzahl von 250 000,
die unter- oder überschritten werden kann, je nachdem, wie wir das im Verbund mit unseren Nachbarn beschließen.
Streitkräfte brauchen eine sinnvolle und erfüllbare Aufgabe, sonst passiert, was wir bei der sowjetischen Armee in Ostdeutschland sehen. Unsere Sorge vor ihr ist zu einer Sorge für sie geworden. Was also wird die Aufgabe der Bundeswehr?
Eine ist sicherlich, die Unverletzlichkeit des eigenen Territoriums zu schützen. Da wird dann die Frage zu stellen sein, ob Deutschland so stark aus dem Westen bedroht wird, daß es die Masse seiner Streitkräfte im Westen haben muß. Zwei Drittel des deutschen Territoriums bildet die ehemalige Bundesrepublik, ein Drittel bildet die ehemalige DDR. Im Augenblick ist vorgesehen, daß sechs Siebtel der Bundeswehr im alten Westen, ein Siebtel im alten Osten stehen.
Das macht keinen Sinn. Wer für die neuen Bundesbürger gleiche Rechte und Pflichten will, weil nur so die
Einigung der Deutschen zu vollenden ist, wird ihnen
18888 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 236. Sitzung, Bonn, Donnerstag, den 22. November 1990
Bahr
auch gleiche Belastungen bei den Streitkräften zumuten oder zubilligen.
Aber da wir ja auch im Osten keine Gegner oder Feinde mehr haben, gegen die wir die Bundeswehr konzentrieren müßten, wird sich für die Bundeswehr eine so ausgewogene Stationierung empfehlen, daß weder im Westen noch im Osten deutsche Hintergedanken vermutet werden können. Eine territorial ausgewogene Verteilung von Streitkräften, die im wesentlichen territoriale Aufgaben haben — das ist die Richtung für die deutschen wie für die Streitkräfte unserer europäischen Nachbarn.
Eine zweite Aufgabe der Bundeswehr wird sein, ihren Beitrag im und zum Verbund der europäischen Sicherheit und der dafür aufzubauenden Strukturen zu leisten.
Zum Schutt aus den Zeiten der Konfrontation und Bedrohung gehören die Atomwaffen auf unserem Boden. Mit dem INF-Vertrag wurden landgestützte weitreichende Mittelstreckenraketen verboten. In kurzer Zeit wird es keine solchen Waffen mehr geben, die vom Boden der NATO-Staaten aus die Sowjetunion erreichen können. Gleiches gilt umgekehrt für sowjetische Atomwaffen mit europäischen Reichweiten.
Was zu regeln bleibt, sind weitreichende Raketen, die aus der Luft oder von Schiffen aus gegeneinander gerichtet werden können. Ich denke, es ist klar: Sie müssen weg, und neue zu entwickeln ist sinnlos.
Falls sie in Amerika noch entwickelt werden sollten, was unwahrscheinlich geworden ist, sollte die Bundesregierung erklären, daß sie jedenfalls nicht in Deutschland stationiert werden.
Sie würden nicht in die Landschaft passen, in der Sicherheit in Europa gemeinsam mit dem Partner hergestellt wird. Wir haben ja in der letzten Woche vertraglich festgelegt, daß auch die Sowjetunion zu diesen Partnern gehört.
Dann gibt es noch die Kurzstrecken- und Gefechtsfeldwaffen. Sie können noch die Tschechen bedrohen; oder die Bundesregierung, falls sie nach Berlin zieht.
Auch unsere französischen Freunde werden sich zu fragen haben, ob die größere Reichweite, die sie mit der Hades statt der Pluton gewinnen wollten, noch irgendeinen politischen oder militärischen Sinn macht. Denn wem soll es nützen, Dresden oder Rostock oder Prag treffen zu können? Seit der Bundeskanzler Ostdeutschland endgültig zur atomwaffenfreien Zone gemacht hat, verdient er nicht nur den Glückwunsch der Sozialdemokraten, die das schon lange wollten, sondern er steht auch vor der grundsätzlicheren Frage: Soll das geeinte Deutschland in
der Sicherheit geteilt bleiben? Wir können für die Westdeutschen weder mehr noch weniger Sicherheit wollen oder haben wie für die Ostdeutschen. Gegen wen oder was sind Atomwaffen noch zu begründen?
Unsere alte Forderung „keine Atomwaffen auf dem Gebiet von Staaten, die darüber nicht verfügen" muß jetzt verwirklicht werden.