Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Die Aggression Iraks gegen Kuwait und die anschließende Annexion dieses Staates hat die Welt in eine schwere Krise geführt. Der Frieden ist bedroht. Das Schicksal unserer Staatsangehörigen in Irak und Kuwait erfüllt uns mit großer Sorge.
Die Bundesregierung verurteilt die Aggression und die Annexion. Sie sieht in der Festsetzung unserer Staatsangehörigen und der anderen Ausländer eine schwere Verletzung des Völkerrechts und der elementaren Menschenrechte.
Am Montag dieser Woche haben Herr Kollege Stoltenberg und ich in einer gemeinsamen Sitzung des Auswärtigen Ausschusses und des Verteidigungsausschusses über die Lage am Golf und über unsere Einschätzung gesprochen.
Heute habe ich von dem Ministertreffen der Westeuropäischen Union und der Europäischen Gemeinschaft zu berichten, die sich vorgestern in Paris mit
dem Golf befaßten. Beim Ministertreffen der Westeuropäischen Union haben Herr Kollege Stoltenberg und ich die Bundesregierung vertreten. Die Bundesregierung begrüßt es, daß die Westeuropäische Union als europäisches Gremium zur Erörterung von und der Abstimmung über Sicherheitsfragen in einer schwerwiegenden, auch die Sicherheitsinteressen Europas berührenden Frage ihrer Haltung bestimmt und damit die sicherheitspolitische Identität Europas zur Geltung gebracht hat.
Die Staaten der Westeuropäischen Union zeigen, daß sie entschlossen sind, ihre Verantwortung für die Wahrung der internationalen Rechtsordnung wahrzunehmen. Es war wichtig, daß die Westeuropäische Union — auch die Staaten der Europäischen Gemeinschaft, die nicht Mitglieder sind, sowie ein von der gegenwärtigen Krise besonders betroffenes NATO-Land, nämlich die Türkei —, eingeladen hat, an dem Treffen teilzunehmen.
Die Westeuropäische Union nimmt, wie schon während der Golfaktionen in den Jahren 1987/88, Aufgaben der Konsultation und der Koordination wahr. Beschlossen wurde über die intensive Konsultation hinaus eine Koordination der internationalen Maßnahmen in der Krisenregion. Dazu gehört die Einsetzung einer Ad-hoc-Gruppe von Vertretern der Außen- und Verteidigungsministerien und die Vorbereitung eines Treffens der Generalstabschefs der Mitgliedstaaten.
Die Tagung der Westeuropäischen Union hat aber auch wichtige politische Akzente gesetzt. Die Staaten der Westeuropäischen Union haben gegenüber den arabischen Staaten ihre Solidarität zum Ausdruck gebracht. Es handelt sich um einen Konflikt, bei dem zum zweiten Mal nach dem Angriff des Iraks auf den Iran ein islamisches Land Opfer einer irakischen Aggression wird. In diesem Konflikt, der diesmal ein innerarabischer Konflikt ist, geht es um die Sicherung der Souveränität und der territorialen Integrität der Staaten und um die Stabilität in der Region.
Unsere Politik entspricht den Zielen unserer Freunde am Persischen Golf und in der arabischen Welt. Ziel unserer Politik ist die Beendigung der Annexion und Besetzung Kuwaits durch den Irak und die Wahrung der Sicherheit der Staaten in der Region.
Die Wiederherstellung der territorialen Integrität und Souveränität Kuwaits ist auch das Ziel des vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen beschlossenen Embargos. Gefordert sind jetzt die konsequente Durchführung der Beschlüsse des Sicherheitsrates und die Solidarität mit den Staaten, die von der gegenwärtigen Entwicklung besonders betroffen sind.
Das vom Sicherheitsrat beschlossene Embargo kann nur dann Erfolg haben, wenn Staaten, die wirtschaftlich eng mit Irak verbunden waren, geholfen wird, die Opfer zu tragen, die durch das Embargo und die Flüchtlingsströme für sie entstehen.
Wir denken dabei an Jordanien. Es befindet sich in einer besonders exponierten Lage. Wir fühlen uns ihm besonders freundschaftlich verbunden.
Wir denken an Ägypten, dessen Präsident mit Verantwortung und Entschlossenheit um die Solidarität
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 221. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. August 1990 17469
Bundesminister Genscher
der arabischen Welt mit dem überfallenen Kuwait bemüht ist. Ägypten ist durch die Rückkehr Hunderttausender von Ägyptern aus Irak wirtschaftlich empfindlich getroffen.
Solidarität, vor allem durch seine Bündnispartner, kann die Türkei erwarten, die bisher einen großen Teil ihrer Erdölversorgung aus Irak bezieht und die insbesondere im Dienstleistungsbereich enge Wirtschaftsbeziehungen zum Irak unterhält.
Bei dem EPZ-Treffen hat die Kommission der Europäischen Gemeinschaft erste konkrete Vorschläge für die Hilfe an die betroffenen Länder vorgelegt.
Die zwölf Außenminister haben ebenfalls erörtert, welche weiteren politischen Aktionen möglich sind, um den Resolutionen des Sicherheitsrates Geltung zu verschaffen. Im Interesse einer politischen Lösung werden wir im Rahmen der EPZ den europäisch-arabischen Dialog zu weiteren Kontakten nutzen. Wir bekennen uns zu der Notwendigkeit, alles in unseren Kräften Stehende zu tun, damit eine politische Lösung herbeigeführt werden kann. Wir unterstützen dabei insbesondere alle politischen Bemühungen aus dem Kreis der arabischen Staaten. Wir stehen in engem Kontakt mit unseren arabischen Freunden, mit unseren Freunden und Verbündeten und mit der Sowjetunion.
Die Europäische Gemeinschaft wird den Beziehungen zu Syrien und dem Iran größere Beachtung schenken. Darüber werden die politischen Direktoren schon morgen in einer Sondersitzung im einzelnen beraten. Die Zeit für einen verständnisvollen Ausbau der Beziehungen der Gemeinschaft zu diesen Staaten ist gekommen.
Besondere Beachtung verdient die einstimmige Haltung des Weltsicherheitsrates. Die Klarheit seiner Entschließungen zeigt, daß die Überwindung der Ost-West-Gegensätze nicht nur ein Gewinn für Europa ist. Das neue West-Ost-Verhältnis trägt zur Stabilität überall in der Welt bei. Vor allem aber stärkt das neue West-Ost-Verhältnis die Handlungsfähigkeit der Vereinten Nationen. Besonders zu begrüßen ist dabei die enge Zusammenarbeit zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion.
Die Westeuropäische Union und ihre Mitgliedstaaten werden weiterhin die notwendigen Schritte unternehmen, um die vom Sicherheitsrat in der Resolution 661 beschlossenen Embargomaßnahmen durchzuführen.
Wir würdigen die bedeutenden Anstrengungen der Vereinigten Staaten zur Durchsetzung der Sanktionen des Sicherheitsrats und zum Schutz Saudi-Arabiens. Wir haben einen Appell an den Sicherheitsrat gerichtet, weitere Maßnahmen zu beschließen, die der Durchsetzung der bisher verabschiedeten Resolutionen dienen. Es ist von größter Wichtigkeit, daß die Völkergemeinschaft die bisher bewiesene Geschlossenheit aufrechterhält und alles tut, um die irakische Aggression zu beenden.
In der Westeuropäischen Union haben Herr Kollege Stoltenberg und ich unsere Haltung zur Frage der Entsendung von deutschen Streitkräften dargelegt. Wir
haben erläutert, daß das Grundgesetz die Entsendung von Truppen in Regionen außerhalb des Bündnisgebietes nicht erlaubt. Wir haben unsere Partner darüber unterrichtet, daß die Bundesregierung am Montag begonnen hat, mit der sozialdemokratischen Opposition eine Ergänzung des Grundgesetzes zu erörtern. Das Ziel ist es, der Bundeswehr in Zukunft die Teilnahme an Aktionen zu ermöglichen, die im Rahmen der Charta der Vereinten Nationen vom Sicherheitsrat beschlossen werden.
Die Bundesrepublik Deutschland bringt damit ihre Bereitschaft zum Ausdruck, nach der Überwindung der Teilung Deutschlands und nach der Überwindung des West-Ost-Gegensatzes ihre Verantwortung für die Sicherung des Friedens in der Welt im Rahmen der Vereinten Nationen und auf der Grundlage ihrer Charta zu übernehmen.
Herr Kollege Stoltenberg hat die konkreten Maßnahmen dargestellt, mit denen wir die internationalen Aktionen unterstützen. Es wurden ein Verband der Bundesmarine mit sieben Schiffen in das östliche Mittelmeer entsandt und Spezialgerät, sogenannte Spürpanzer, zur Verfügung gestellt, die sich zur Identifikation gefährlicher Waffen eignen. Außerdem hat die Bundesregierung zugestimmt, daß die amerikanischen Basen in Deutschland in vollem Umfang für den Einsatz am Golf genutzt werden.
Portugal, Belgien und Spanien haben in der Sitzung die Entsendung von Marineeinheiten in den Golf angekündigt, nachdem Großbritannien, Frankreich, die Niederlande und Italien das schon vorher getan hatten.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Lage unserer Staatsangehörigen in Kuwait und im Irak spielte schon bei den Gesprächen im Rahmen der Westeuropäischen Union eine zentrale Rolle. Sie stand im Mittelpunkt des EPZ-Außenministertreffens.
Wir verurteilen es, daß die Staatsbürger unserer Länder gegen ihren Willen festgehalten werden.
Besonders abscheulich ist es, daß sie in der Nähe von militärischen Stützpunkten untergebracht werden sollen. Dies ist ein Verstoß gegen das internationale Recht und die Normen des zivilisierten Verhaltens.
Wir haben die irakische Regierung vor der Gefährdung unserer Staatsbürger gewarnt. Wir haben außerdem alle irakischen Staatsbürger davor gewarnt, sich an Unrechtshandlungen gegenüber unseren Staatsbürgern zu beteiligen. Sie können dafür persönlich verantwortlich gemacht werden.
Wir hoffen auf einen Erfolg der Bemühungen des Generalsekretärs der Vereinten Nationen, allen Ausländern die Ausreise aus dem Irak und aus Kuwait zu ermöglichen. Ich möchte in diesem Zusammenhang die Bemühungen der sowjetischen Regierung um die
17470 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 221. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. August 1990
Bundesminister Genscher
Möglichkeit der Ausreise für alle Ausländer besonders würdigen.
Der Irak hat dazu aufgefordert, die ausländischen Botschaften in Kuwait zu schließen, da Kuwait nunmehr irakisches Territorium sei. Die Außenminister der Zwölf haben in Übereinstimmung mit der Sicherheitsratsentschließung beschlossen, dieser Aufforderung nicht Folge zu leisten. Die Annexion Kuwaits wird von der Staatengemeinschaft nicht anerkannt. Der Irak hat kein Recht, die Schließung unserer Botschaften zu verlangen. Zahlreiche Angehörige unserer Staaten befinden sich in Kuwait. Sie bedürfen der Betreuung durch unsere Diplomaten.
Wir sind uns bewußt, daß wir mit dieser Entscheidung ein hohes Maß an Pflichterfüllung von unseren Mitarbeitern verlangen, die in Kuwait trotz der gegenteiligen Auffassung der irakischen Regierung bleiben. Ich möchte unseren Botschaftsangehörigen in Kuwait und Bagdad Dank und Anerkennung für ihre Einsatzbereitschaft aussprechen.
Sie verrichten unter schwierigsten Verhältnissen einen wichtigen Dienst. Wir versichern allen deutschen Staatsbürgern in Kuwait und im Irak und ihren Familien unsere Verbundenheit. Sie sollen sicher sein, daß die Bundesregierung alles in ihrer Macht Stehende unternimmt, um ihre Sicherheit zu gewährleisten und ihre volle Bewegungsfreiheit wiederherzustellen. Wir werden das nicht im Alleingang erreichen, sondern nur in der Solidarität der Staatengemeinschaft.
Meine Damen und Herren, wir sind uns alle bewußt: Die irakische Aggression hat die Welt in eine schwere Krise gestürzt. Von dieser Aggression und nicht von den Gegenmaßnahmen der Staatengemeinschaft gehen die Gefahren für den Weltfrieden aus. Die Entschließungen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen haben gezeigt, daß sich die Staatengemeinschaft von der Auffassung leiten läßt: Wehret den Anfängen. Der große europäische Friedensschluß, der mit dem KSZE-Gipfel im November dieses Jahres in Paris vorgenommen werden soll, darf keinen Raum für Aggressionen in anderen Teilen der Welt gewähren. Das ist unsere europäische Friedensverantwortung.