Rede von
Thomas
Wüppesahl
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(GRÜNE)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Weite Strecken der Reden des Bundeskanzlers und des Konkurrenten hatten den Charakter einer Feierstunde, aber herzlich wenig mit dem zu tun, über was eigentlich debattiert werden sollte, nämlich über das Wahlgesetz und die deutsch-deutsche Vereinigungsproblematik.
Die Rede des Bundeskanzlers kann man insgesamt mit folgendem Terminus auf den Punkt bringen: Kohls Märchenstunde.
Ich werde mir jetzt das Recht herausnehmen, als einziger Redner von all den Rednerinnen und Rednern zu dem Wahlgesetz zu sprechen, und mit zwei bekannten Vergleichen einsteigen. Neben dem Faktum, daß nach den althergebrachten Grundsätzen des Preußischen Landrechtes „Das haben wir schon immer so gemacht — jedenfalls in der Bundesrepublik — , da kann ja jede DDR kommen", usw. das Wahlrecht der BRD reichsweit eingeführt wird, gibt es eine Besonderheit, und zwar die Möglichkeit der Listenverbindungen. Deshalb fehlt bei den 16 von mir eingebrachten Änderungsanträgen eigentlich einer, der ungefähr so lauten müßte: Das Wahlgesetz wird darauf reduziert, daß es folgenden Wortlaut hat: Die DSU erhält 33 Sitze. Die PDS darf nicht antreten.
Das ist der demokratische Gehalt dieses Wahlgesetzes. Dieser demokratische Gehalt entspricht ungefähr einem Änderungsantrag, den ich auch hätte stellen können und der vielleicht folgenden Wortlaut gehabt hätte — ein Zwischenruf deutete das eben schon an — : Einzelabgeordnete werden, wenn sie mehr als 120 Minuten im Kalenderjahr im Plenum reden und/ oder mehr als 150 Änderungsanträge im Durchschnitt der vier Jahre einer Legislaturperiode stellen, automatisch für die nächste Legislaturperiode im Deutschen Bundestag plaziert.
Das ist wirklich der demokratische Gehalt dieses Wahlgesetzes, das trotz des Lachens in der SPD-Fraktion von Ihnen mitgetragen wird.
Zurück zu der gebotenen Ernsthaftigkeit: Als Argument für die Fünfprozentklausel wird immer wieder angeführt, sie solle verhindern, daß wieder wie in der Weimarer Republik eine große Anzahl kleiner Parteien im Parlament die Regierungsfähigkeit und somit die Demokratie gefährde. Das widerspricht den historischen und aktuellen Erfahrungen; denn erstens war die NSDAP eine Partei, die mehr als 5 % der Wählerstimmen auf sich ziehen konnte — teilweise waren es über 30 % —,
und zweitens ist bislang nicht bekannt — das ist das aktuelle Beispiel — , daß die Südschleswigsche Wählervereinigung mit ihrem Landtagsabgeordneten Karl Otto Meyer im Kieler Landtag die Regierungsfähigkeit in Schleswig-Holstein herbeigeführt hat. Im Gegenteil, dieser Einzelabgeordnete hat durch sein Verhalten in der CDU-Barschel-Affäre — einer Affäre, die der direkte Ausfluß der geschützten Parteienherrschaft war — der Demokratie einen großen Dienst erwiesen und dem Einzelabgeordneten eine hohe moralische und politische Legitimation eingebracht.
Die Fünfprozentklausel ist undemokratisch; denn sie engt den Entscheidungsspielraum der Bürger ein. Viele werden ihre Entscheidung nämlich auch davon abhängig machen, ob die von ihnen favorisierte Partei die Fünfprozentmarke überspringen wird.
Die kleinen Parteien werden, sollten sie sich großen Parteien anschließen, ihre politische Eigenständigkeit bis zur Unkenntlichkeit verstümmeln. Das merken wir gerade bei der Verbindung Bündnis 90 mit den GRÜNEN. Auch dies bedeutet weniger Pluralismus, mehr Einfalt und weniger Demokratie.
Die Fünfprozentklausel steht nicht im Einklang mit Art. 38 des Grundgesetzes, der von Abgeordneten als höchster politischer Einheit spricht und nicht von Parteien. Auch dieser Grundsatz der Verfassung wird durch die Fünfprozentklausel verworfen.
Die Abschaffung der Fünfprozentklausel — zu diesem Zeitpunkt historisch die beste Möglichkeit für die Bundesrepublik — richtet sich gegen die Selbstherrlichkeit von Parteien, wie sie zur Zeit von CDU und CSU in erbärmlicher Art und Weise zur Schau gestellt wird. Legitimiert wird die Wahlrechtsmanipulation mit der Fünfprozentklausel, die den Einzug von Splitterparteien in ein Parlament verhindern soll.
Besonders delikat ist natürlich die Konstruktion der Listenverbindungen, die ausschließlich für die DSU und die PDS geschaffen worden ist. Abgesehen davon, daß dieses Vorgehen auch unter dem Gesichtspunkt einer verwirklichten Demokratie problematisch ist und es ein Armutszeugnis der gemeinsamen Demokraten darstellt, wenn sie politische Auseinandersetzungen mit der Keule des Wahlrechtes totschlagen und damit zumindest 30 % der DDR-Bevölkerung quasi parlamentarisch mundtot machen wollen, so ist dies aus mehreren Gründen mit der Verfassung schwerlich in Einklang zu bringen.
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 221. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. August 1990 17461
Wüppesahl
Ich meine, wir haben mit der Art und Weise, wie über dieses bedeutsame Gesetz durch die Zusammenfügung der beiden Tagesordnungspunkte, über die eigentlich getrennt hätte debattiert werden müssen, heute auch wieder hinweggegangen worden ist, ein lebendiges Beispiel für den real existierenden Parlamentarismus in der Bundesrepublik Deutschland vorgeführt bekommen.