Ich habe gesagt: „vor einem Jahr",
und Sie haben auf das Jahr 1987 verwiesen. Sie haben also nicht zugehört, was ich gesagt habe.
Man hält es kaum für möglich: Vor zwölf Monaten glaubten nur wenige an eine Wiedervereinigung, an den Grenzen in Deutschland wurde geschossen, und für die Deutschen jenseits von Elbe und Werra gab es keine Chance zu Freiheit und Selbstbestimmung. Vor neun Monaten wurden die ersten Entwürfe der Bundesregierung, die Einheit schrittweise wiederherzustellen, als illusorisch und gefährlich kritisiert. Noch vor sechs Monaten bestimmten in der DDR die alten SED-Genossen, wirtschaftliche Reformen waren praktisch nicht erkennbar. Und noch vor drei Monaten bestand Unsicherheit über die Zustimmung der Sowjetunion zur vollen Souveränität Deutschlands und zum Verbleib in der NATO.
Gestern nun — das haben alle Redner mit Ausnahme der GRÜNEN begrüßt — hat die Volkskammer den Beitritt zum 3. Oktober beschlossen. Mit dieser Entscheidung wird der Prozeß der Vereinigung in weniger als zwölf Monaten nach dem Fall der Mauer abgeschlossen. Jetzt können wir auf verläßlicher Grundlage ein einiges Deutschland aufbauen.
Weiß Gott ein Tag der Freude, der Dankbarkeit und der Genugtuung für alle Demokraten in diesem Haus!
Zu dieser Politik und auch zur möglichst schnellen Einführung der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion gab es keine Alternative. Ohne diesen Vertrag wäre gestern diese Entscheidung in der Volkskammer nicht zustande gekommen. Das muß jeder wissen, der das heute noch kritisiert.
— Ich komme zur Sache.
Es ist grotesk, wenn Ministerpräsident Lafontaine davon spricht, die DDR wäre vor dem Fall der Mauer
ein attraktiver Produktionsstandort und ein führendes Industrieland gewesen.
Wer die angeblichen sozialen Errungenschaften des Kommunismus heute noch preist, unterschlägt, wie teuer die Bürger der DDR für alles bezahlen mußten, was der Staat ihnen angeblich schenkte.
Nicht die Währungsunion, sondern die abgedankten Kommunisten tragen die Verantwortung für das, was jetzt erkennbar wird. Wir lassen uns nicht die Verantwortung für etwas zuschieben, mit dem wir nichts zu tun haben. Wir tragen Verantwortung für das, was wir hier geschaffen haben, vor allen Dingen seit 1982. Das ist das Kennzeichen unserer Politik. Für das, was drüben passiert, tragen andere die Verantwortung.
Nun gibt es auf dem Gebiet der DDR eine Krise, ohne Zweifel. Niemand will das bestreiten, und jeder hat gewußt, daß dies so kommen muß.
— Das ist auch gesagt worden; Sie haben eben nicht zugehört. — Jedermann weiß auch, daß das stimmt, was der spanische Philosoph Ortega einmal gesagt hat, daß nämlich das Wesen geschichtlicher Krisen gerade darin bestehe, aus dieser Krise herauszufinden und sie zum Besseren zu wenden. Das tun wir mit dieser Wirtschafts- und Währungsunion und mit der deutschen Einheit, die unumgänglich ist.
Angesichts der Unvermeidbarkeit der Anpassungskrise haben wir das soziale Netz in der DDR aufgespannt und dort für Kurzarbeitergeld, Arbeitsbeschaffungsprogramme und Umschulung gesorgt. Aber noch wichtiger als das ist die Gewißheit der Menschen drüben in der DDR bezüglich einer besseren wirtschaftlichen Zukunft. All das, was in bezug auf die Währungsreform 1948/49 gesagt wurde, gilt auch hier. Sehr bald gab es auch damals zweistellige Wachstumsraten und steigenden Wohlstand.
Wir haben den richtigen Weg eingeschlagen, und es gibt keine neue Tatsachen, die unseren Kurs widerlegen. Man muß sich einmal vorstellen: 16 000 Tage Sozialismus/Kommunismus können doch nicht in 54 Tagen freier und sozialer Marktwirtschaft und Währungsunion überwunden werden. Hier muß man doch die Dimensionen sehen.
Es gibt auch heute schon die Erfolge die Redner vor mir, der Bundeskanzler und auch Graf Lambsdorff, aufgezeigt haben. Eines ist ganz wichtig: Wir müssen die Teilung unseres Vaterlandes nicht nur ökonomisch, sondern auch in den Köpfen der Menschen überwinden, und wir müssen auch noch einiges von der Hinterlassenschaft des Sozialismus beseitigen. Wir profitieren gemeinsam von der Wiedervereinigung, und gemeinsam müssen wir deshalb die gestellten Aufgaben lösen. So müssen wir z. B. die Subventionsmentalität, die es in der DDR noch gibt, abbauen;
17458 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 221. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. August 1990
Bundesminister Dr. Waigel
denn sie ist das größte Investitionshindernis, das es in dem Zusammenhang gibt.
Mit dem Umtauschkurs von 1: 1 haben wir mehr gegeben, als in dem Bereich ökonomisch ohne weiteres angezeigt war. Aber das war notwendig, und das war sozial ausgewogen. Jedermann muß jedoch auch wissen, daß im Bereich der Löhne und Gehälter eine Beziehung zur Produktivität gegeben sein muß. Lohnzuschläge von bis zu 70 %, wie sie in einzelnen Bereichen vereinbart wurden, werden diesem Erfordernis nicht gerecht. Wer drüben mit der Lohn- und Gehaltsforderung überzieht, vernichtet Arbeitsplätze, bewahrt sie nicht und schafft schon gar keine neuen.
Noch eines zur Solidarität: Herr Ministerpräsident Lafontaine, ich wäre Ihnen schon sehr dankbar, wenn Sie angesichts Ihrer Forderung nach mehr Solidarität und Ihrer Forderung, die Aufgaben ganz pragmatisch anzugehen, Ihren Einfluß bei den Ländern geltend machen würden, daß wir zu einer Lösung kommen, die dem Geist und dem Wortlaut des Grundgesetzes entspricht. Ich empfehle Ihnen hier, den Art. 107 des Grundgesetzes nachzulesen. Dann müßten Sie mindestens zu der Lösung kommen, die ich als Bundesfinanzminister vorgeschlagen habe, wenn nicht zu mehr. Denn wir wollen doch in der Tat keine zwei verschiedenen Länder, keine zwei verschiedenen Klassen: die drüben und die hüben. Ich wäre Ihnen also dankbar, wenn Sie hier Ihren ganz pragmatischen und praktischen Beitrag zur Solidarität im Bereich der deutschen Einheit als Ministerpräsident erbringen würden.
Wir brauchen die Solidarität von Bund, Ländern und Gemeinden, wir brauchen eine strikte Ausgabendisziplin, und wir brauchen weiterhin eine wachstumsfördernde Finanz- und Steuerpolitik. Gerade zur Diskussion um Steuererhöhungen: Nach allen Erfahrungen würden Steuererhöhungen den Staatsanteil nicht nur vorübergehend, sondern dauerhaft erhöhen und so Spielräume für private Investitionen verschließen.
Meine Damen und Herren, lassen Sie mich einmal ganz offen sagen: In dem Moment, in dem Steuererhöhungen angekündigt oder in Erwägung gezogen werden, hört der heilsame Druck auf die Kollegen drüben in der DDR, aber auch auf die Kollegen, die hier auf der Regierungsbank sitzen, sofort auf, und man beginnt, etwas großzügiger zu werden. Ich meine, genau das können wir uns in einer solchen Situation nicht leisten.
Das Lächeln des Bundeskanzlers zeigt mir, daß er mir recht gibt.
Die Vorwürfe, wir würden hier eine unsolide oder eine unverantwortliche Haushaltsplanung betreiben, sind aus der Luft gegriffen und falsch. Wir haben stets auf der Grundlage aller erreichbaren Informationen und Daten geplant, und wir haben die absehbaren Risiken klar beim Namen genannt. Wenn Sie über Herrn Romberg bessere und solidere Zahlen haben,
dann wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie mir die mitteilen würden.
Ich könnte Ihnen gern über den Erfahrungsschatz mit diesem ehemaligen sozialdemokratischen Finanzminister einiges mitteilen. Sie hätten Ihre Freude daran.
Wenn die Opposition behauptet, ich hätte den Regierungsentwurf zum Haushalt 1991 dem Parlament nicht zugeleitet, um die tatsächlichen Kosten der Vereinigung zu verschleiern, dann ist das schlichtweg falsch gegenüber dem, was das Grundgesetz selber verlangt. Sie wissen, unsere Verfassung läßt eine Verabschiedung des ursprünglichen Haushaltsplans nicht zu. Sie selbst haben durch die Verweigerung eines Wahltermins im Oktober einen früheren Einstieg in die Beratung eines neuen gesamtdeutschen Haushalts verhindert.
Wir wollen jedoch bis Ende Oktober einen Nachtragshaushalt 1990 vorlegen, der neben dem möglichen Mehrbedarf der Sozialversicherungen in der DDR auch die Finanzierung zusätzlicher Wachstumsimpulse für die DDR ermöglicht.
Ich will Ihnen die wichtigsten Elemente eines solchen Wirtschaftsförderungsprogramms vortragen.
Das ist einmal die Ausdehnung der Gemeinschaftsaufgabe „Regionale Wirtschaftsförderung " auf die DDR mit Präferenzvorsprung über die bereits beschlossene Investitionszulage von 12 bzw. 8 %. Das ist notwendig, um in ganz Deutschland zu einem vernünftigen Präferenzgefälle zu kommen.
Das ist zum zweiten ein Gemeindekreditprogramm für drei bis vier Jahre mit einem Volumen von jeweils 10 Milliarden DM zur Finanzierung kommunaler Investitionen.
Das ist weiter die Aufstockung des laufenden ERP-Kreditprogramms für den Mittelstand in diesem Jahr um 6 Milliarden auf 7,5 Milliarden DM, 1991 auf 4,5 Milliarden DM.
Das sind ferner ein Modernisierungsprogramm für die Wirtschaft, die Übertragung unserer sektoralen Förderung sowie Bürgschaftsrahmen für Modernisierungsinvestitionen und eine Einzelfall-Entschuldung von ehemals volkseigenen Betrieben. Eine GesamtEntschuldung haben wir von Anfang an für falsch gehalten, weil sie nämlich Gerechte und Ungerechte trifft; aber wir wollen denen helfen, bei denen es einen Sinn macht, daß ihnen die Schulden erlassen werden.
Nach dem Beitritt der DDR wird die Bundesregierung so schnell wie möglich über die Eckwerte des gesamtdeutschen Haushalts 1991 beraten. Wir werden den Wählern nichts verschweigen, sondern ihnen unseren Weg zur Wiedervereinigung auch in Zahlen und Fakten offenlegen.
Meine Damen und Herren, diese Republik, dieser Staat hat große Gemeinschaftsaufgaben seit 1949 er-
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Bundesminister Dr. Waigel
füllt. Wir stehen heute wieder vor einer Bewährungsprobe. Wir haben wieder die Chance, wie beim Wiederaufbau, bei der Wiedergutmachung, bei der Aufnahme von Millionen von Flüchtlingen, dieser Aufgabe gerecht zu werden, und ich bin sicher, wir werden diese Bewährungsprobe bestehen.
Die Bundesregierung bekennt sich zur deutschen Nation. Wir bekennen uns zu unserer Vergangenheit, und wir glauben an die Zukunft Deutschlands. Wir bauen ein Deutschland, das ein starker und verläßlicher Partner in der Völkergemeinschaft sein wird, und zur Mitwirkung an der Erfüllung dieser Aufgabe ist jeder aufgefordert. Sie haben einige Namen genannt, Herr Lafontaine. Graf Lambsdorff hat sie um einen ergänzt, den auch ich genannt hätte: Reiner Kunze. Ich nenne den Sozialdemokraten Ulrich Schacht, der mutig die Dinge immer beim Namen genannt hat. Und ich möchte nicht versäumen, den zu nennen, der unentwegt über die deutsche Einheit gesprochen und geschrieben hat, der nicht von der Ostsee, nicht von der Nordsee und nicht von der Zonengrenze stammt, sondern vom Bodensee: Martin Walser.
Carlo Schmid wurde heute schon zitiert. Lassen Sie mich noch ein Zitat von Carlo Schmid anfügen:
Jede Nation bedarf, um bestehen zu können, einer jungen Elite, die sich ihr tätig und leidend verbunden weiß.
Jahrzehntelang überwog das Leid unserer Nation. Jetzt haben wir die Chance, aktiv tätig zu werden. Wir sind es den Menschen, wir sind es unserem Volk, wir sind es unserer Nation schuldig.