Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen! Meine Herren! Heute morgen um 3 Uhr kam Jubel in der Volkskammer auf, als der PDS-Vorsitzende Gysi den Untergang der Deutschen Demokratischen Republik konstatierte. Der endlich gefaßte Beschluß der Volkskammer über den Beitritt nach Art. 23 GG zum 3. Oktober 1990 zieht den Schlußstrich unter mehr als 40 Jahre kommunistischer Zwangsherrschaft im anderen Teil unseres Vaterlandes.
Wir, die FDP in Ost und in West, sagen: Das ist mehr als ein notarieller formaler Akt. Es ist der Sieg der Freiheit über die Unfreiheit, der Menschenrechte über Gewaltherrschaft, der Sieg des Geistes der Demokratie über den Ungeist der Diktatur.
Aber, Herr Ministerpräsident, ich möchte in dem Zusammenhang eine Anmerkung zu Ihrer Bemerkung zum Thema Einwanderung aus Osteuropa machen. Wenn wir die offenen Grenzen in Europa wollen, dann ist nicht mit verwaltungstechnischen Tricks und Mitteln dagegen anzugehen, sondern dadurch, daß man in diesen Ländern hilft, wirtschaftlich und auch politisch stabile Verhältnisse zu schaffen und den Menschen das Bleiben zu ermöglichen. Das kann die einzige Anwort sein.
Es ist, meine Damen und Herren, heute wahrlich Anlaß zur Freude für alle Deutschen. Ja, wir sind ein Volk, wir sind ein Land, und wir werden wieder ein Staat. Wir sind frei, wir entscheiden über unser Schicksal selbst. Für meine Partei und meine Fraktion sage ich deshalb in so einfachem und klarem Deutsch wie nur möglich: Wir freuen uns heute.
Wir waren immer für frühen Beitritt und frühe Wahlen. Deshalb stimmen wir dem Wahlrechtsvertrag selbstverständlich zu.
Nun, meine Damen und Herren, niemand von uns verkennt die Probleme. Aber sehen wir die Probleme eigentlich in den richtigen Proportionen, oder — besser gesagt — diskutieren wir sie in den richtigen Proportionen? Wir sind es gewohnt, wir haben es geübt und gelernt, kontrovers zu diskutieren. Aus den Reaktionen auch unseres Publikums wissen wir, daß das häufig genug auf Unverständnis und Kritik stößt. Überfordern wir nicht die Menschen in der DDR
17452 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 221. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. August 1990
Dr. Graf Lambsdorff
manchmal mit der Form unserer Auseinandersetzungen? Mancher Brief, manches Gespräch zeigt mir jedenfalls, daß es schwerfällt, nach vierzig Jahren von einem zum anderen Tag mit so viel Meinungsvielfalt in dieser Form konfrontiert zu werden. Ist denn der rote Faden noch erkennbar, dem wir folgen wollen zu dem für uns Liberale jedenfalls selbstverständlichen Ziel: ein Volk, ein Land, ein Staat, eine Gesellschaft, eine Sozialordnung, ein Lebensstandard oder, Herr Ministerpräsident, wie Sie sagen, Einheitlichkeit der Lebensverhältnisse; damit bin ich einverstanden; so können Sie das auch nennen.
Sie haben auch die kulturelle Dimension angesprochen. Sie haben gemeint, Sie wollten diese kulturelle Dimension bewältigen helfen, zum Beispiel mit — die beiden Namen haben Sie genannt — Christa Wolf und Günter Grass. Wer die ganze Auseinandersetzung, angefangen bei Frank Schirrmacher und Hellmuth Karasek mit Christa Wolf und mit Günter Grass verfolgt hat, der wird hinzufügen müssen, daß Reiner Kunze und seine Freunde in dieser Auseinandersetzung eine erhebliche Rolle spielen
und wohl eine bessere Rolle gespielt haben, als wir das bei den von Ihnen genannten erlebt haben.
Aber Sie haben vernünftiger- und richtigerweise nicht etwa Hermann Kant genannt und erst recht nicht Herrn Höppner, der immer noch Mitglied der Volkskammer ist und dessen Auseinandersetzung mit Reiner Kunze nach dem Mordanschlag bei den Olympischen Spielen in München ja nur zu gut bekannt ist. Wir wissen um das Elend der kulturellen Dimension, wenn wir alleine die Diskussion um die Neugründung eines gesamtdeutschen Pen-Clubs verfolgen.
Wir sehen, wie schwierig das ist mit freien Schriftstellern und Künstlern auf unserer Seite und zum guten Teil staatsbesoldeten Schriftstellern, Mitgliedern des Schriftstellerverbandes auf der anderen Seite. Als Mitglied aus dem Schriftstellerverband ausgeschlossen zu werden, hieß ja nicht nur, aus einer Organisation ausgeschlossen zu werden, sondern es hieß, Privilegien, ja Gehalt, die Lebensgrundlage zu verlieren. Das war die Wirklichkeit der DDR. Es wird schwer genug werden. Aber ich stimme Ihnen zu, daß es notwendig ist, diese Diskussion zu führen.
Meine Damen und Herren, wir wissen, es muß um Einzelheiten gerungen und gestritten werden. Aber es bedrückt uns schon etwas, daß unsere von diesem Pult hier ausgesprochene Befürchtung sich täglich bestätigt, wonach jeder Tag Wahlkampf mehr ein Tag zuviel ist, um die Ziele in der DDR besser erreichen zu können.
Wir erhöhen die Unsicherheit der Menschen in der DDR und in der Bundesrepublik. Ich fürchte, wir destabilisieren Vertrauen. Damit verzögern wir — der Herr Bundeskanzler hat es richtig gesagt — Investitionen. Bei Investitionsentscheidungen in der Marktwirtschaft sind Risiken, sind Unsicherheiten unvermeidlich. Es ist ja gerade die Essenz der unternehmerischen Entscheidungen, Risiken abzuwägen und dann eben doch Entscheidungen zu treffen. Die Risiken des Marktes, der Produktion, des Vertriebs, der Zinsentwicklung, das ist und bleibt Unternehmensrisiko. Aber der Staat darf diesen Entscheidungsrahmen nicht einengen. Er darf nicht vermeidbare, zusätzliche Unsicherheiten schaffen.
Der Staat, meine Damen und Herren, das sind nicht nur die Regierenden, das sind, gerade in dieser Lage, wir alle, auch die Opposition. Wer dauernd über Steuererhöhungen redet, muß sich nicht wundern, wenn Unternehmer vorsichtshalber einkalkulieren, daß der Staat ihr Tun auch durch solche Schritte weiter erschweren könnte.
— Natürlich war das ein Fehler!
Jeder noch so gut gemeinte Vorschlag verstärkt die Wartehaltung, wenn aus einem solchen Vorschlag nicht schnell Entscheidung wird. Ja oder nein; Klarheit muß herrschen.
Die wirtschaftspolitischen Probleme der DDR sind gravierend. Wer hat das denn nicht gewußt? Allerdings sind es nicht Probleme, die die Bundesregierung, der Staatsvertrag, die Wirtschafts- und Währungsunion oder die Soziale Marktwirtschaft verursacht haben. Es ist der riesige Schutthaufen, den der Sozialismus dort hinterläßt, und der muß weggeräumt werden.
Das geht nicht über Nacht. Auch in der Bundesrepublik haben wir den Wohlstand, über den wir heute verfügen, nicht in drei Monaten erreichen können. Angst und Panikmache sind in dieser Lage schlechte Ratgeber; sie verschlimmern die Dinge nur noch. Gefordert sind Besonnenheit und ein klarer marktwirtschaftlicher Kurs, damit der Rechtsrahmen der Sozialen Marktwirtschaft, den die DDR ja so zügig eingeführt hat, durch praktisches Handeln ausgefüllt werden kann. Darum geht es jetzt.
Es bewegt sich doch, meine Damen und Herren, viel mehr in die richtige Richtung, als die Medien uns erkennen lassen. Seit Jahresbeginn wurden in der DDR 136 000 Gewerbeanmeldungen registriert, im Juli allein 36 000. Es liegen zahlreiche Anträge auf zinsgünstige Kredite aus dem ERP-Programm vor. Das Zusagevolumen umfaßt 4,7 Milliarden DM. Das Eigenkapitalhilfeprogramm läuft. Nach den Preisturbulenzen der ersten Tage zeigt sich — der Bundeskanzler hat es erwähnt; es ist doch wichtig, dies zu sagen —, daß die Preise um 5,5 Prozent niedriger liegen als im Durchschnitt des vergangenen Jahres. Für öffentliche Investitionen stehen erhebliche Mittel bereit.
Der Stromvertrag — Herr Ministerpräsident, Sie haben es erwähnt — konnte nach Ausräumen der wichtigsten wettbewerbspolitischen Bedenken abgeschlossen werden. Es gibt nicht mehr die monopolartige Situation — hier haben Sie Unrecht — , die die Kommunen und die regionale Verteilung vom Stromgeschäft und von der Stromlieferung in der DDR ausschließt. Das ist in Ordnung gebracht worden, vielleicht nicht ganz so weit, wie wir es hier haben und
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Dr. Graf Lambsdorff
wie wir es gewohnt sind. Aber es ist gegenüber dem ersten Vertragsentwurf eine deutliche Verbesserung erreicht worden. Wir finden es gut, daß der Vertrag jetzt abgeschlossen worden ist; denn damit stehen 1,9 Milliarden DM zur Soforthilfe für das DDR-Stromnetz zur Verfügung.
Durch die Kraftwerkshilfe wird die Stromversorgung für die DDR, insbesondere auch in den kommenden Wintermonaten, sichergestellt. Es ist ein Vertrag zur Sicherung und zum Ausbau der Gasversorgung abgeschlossen worden. Die rasche Verbesserung der Kommunikationsmöglichkeiten, die zentral ist für die Funktionsweise marktwirtschaftlicher Mechanismen, geschieht. Die Post hat für den Netzausbau bis 1997 55 Milliarden DM eingeplant.
Das alles sind doch positive Fakten und Daten, die wir nicht unter den Tisch kehren dürfen. Gewiß, die DDR-Wirtschaft befindet sich in der Übergangsphase. Aber wenn der Schutt der Vergangenheit weggeräumt ist, besteht eine ausgesprochen positive Perspektive in mittlerer Frist. Je konsequenter, je eindeutiger und je zügiger ein klarer marktwirtschaftlicher Kurs umgesetzt wird, um so schneller werden die neuen Bundesländer Anschluß an unser Niveau finden.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Volkskammer hat ihren Beschluß an drei Voraussetzungen geknüpft:
Erstens. Ende der Zwei-plus-Vier-Gespräche. Das ist gewährleistet. Die FDP dankt dem Bundesaußenminister für seine hochprofessionelle, meisterhafte Behandlung dieser Themen.
Zweitens. Länderbildung in der DDR, so daß am 14. Oktober gewählt werden kann. Das ist gesichert.
Drittens. Abschluß der Beratungen zum Einigungsvertrag zum 3. Oktober. Zu diesem Punkt, meine Damen und Herren, sind jetzt wir gefordert.
Nehmen wir doch zur Kenntnis: 80% der Abgeordneten der Volkskammer fordern das von uns, im übrigen auch die Sozialdemokratische Fraktion, die zugestimmt hat. Ich halte es wahrlich für unverantwortlich, wollten jetzt wir den Beitritt wegen einer Verweigerung des Einigungsvertrages zum 3. Oktober in Frage stellen. Die damit verbundenen Probleme sind lösbar
— natürlich, Herr Voigt — , allerdings nur, wenn wir nicht längst einvernehmlich zwischen Bonn und Ost-Berlin Geregeltes in Frage stellen.
Meine Damen und Herren, das gilt z. B. für die Eigentumsfrage. Herr Ministerpräsident, Sie haben das erwähnt.
Es ist ungleich wichtiger, sich mit diesem Problem im Hinblick auf Gegenwart und Zukunft zu befassen, als die für die Vergangenheit getroffene Regelung noch einmal in Frage zu stellen. Wir haben doch eine Einigung erzielt. Sie wird doch zum Bestandteil des Vertrages, und zwar nur das, was im Protokoll längst festgehalten ist. Warum sollte man das denn um Himmels willen alles wieder aufrühren?
Es geht in der Tat darum — da sind wir vielleicht anderer Meinung; aber so ist es doch geregelt, und Sie haben dem bisher ja auch zugestimmt — , daß Rückgabe vor Entschädigung geht und daß dort, wo Rückgabe aus gemeinnützigen, sozialen oder technischen Gründen nicht möglich ist, Entschädigung gewährt wird. Richtig ist, daß der Produktionsfaktor Grund und Boden in einer Marktwirtschaft verfügbar sein muß, weil es sonst keine Investitionen und keine neuen Arbeitsplätze gibt.
Das ist aber die Frage Gegenwart und Zukunft; die Vergangenheitsregelung sollten wir jetzt doch so bestehen lassen, wie wir sie besprochen haben. Die FDP hat Vorschläge gemacht, wie ein Erwerber gegen Ansprüche gesichert werden kann, ohne daß Einbußen früherer Berechtigter entschädigungslos bleiben müßten.