Rede von
Dr.
Helmut
Kohl
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Volkskammer der DDR hat heute nacht mit einer Mehrheit von mehr als 80 % der abgegebenen Stimmen folgenden Beschluß gefaßt: „Die Volkskammer erklärt den Beitritt der DDR zum Geltungsbereich des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland gemäß Art. 23 des Grundgesetzes mit Wirkung vom 3. Oktober 1990.
Sie geht dabei davon aus, daß die Beratungen zum Einigungsvertrag zu diesem Termin abgeschlossen sind, die Zwei-plus-Vier-Verhandlungen einen Stand erreicht haben, der die außen- und sicherheitspolitischen Bedingungen der deutschen Einheit regelt, die Länderbildung so weit vorbereitet ist, daß die Wahl der Länderparlamente am 14. Oktober 1990 durchgeführt werden kann."
Die überwältigende Mehrheit der Abgeordneten der Volkskammer hat hiermit uns alle in die Pflicht genommen. Der heutige Tag ist ein Tag der Freude für alle Deutschen.
Am Mittwoch, dem 3. Oktober 1990, wird der Tag der Wiedervereinigung gekommen sein. Es wird ein großer Tag in der Geschichte unseres Volkes sein. Nach mehr als 40 Jahren geht in Erfüllung, wozu die Präambel des Grundgesetzes das „gesamte Deutsche Volk" auffordert, nämlich „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden". Wie könnte man den Willen der Deutschen in zeitlos gültiger Weise besser zum Ausdruck bringen? Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes bewiesen mit der Formulierung der Präambel Weitsicht, Klarheit des Geistes und Geschichtsbewußtsein.
Meine Damen und Herren, der heutige Tag ist zugleich auch ein Tag der Dankbarkeit. Unser Respekt und unsere Anerkennung gelten den Kolleginnen und Kollegen in der Volkskammer und der Regierung der DDR,
die mit ihrem klaren Votum den entscheidenden Schritt zur Einheit unseres Vaterlandes getan haben. Als frei gewählte Abgeordnete haben sie damit in eindrucksvoller Weise den Auftrag erfüllt, den ihnen unsere Landsleute in der DDR in der Volkskammerwahl am 18. März dieses Jahres erteilt hatten.
Es hat in den vergangenen 40 Jahren in nahezu allen Fraktionen des Deutschen Bundestages Männer und Frauen gegeben, die sich vom ersten Tag des Zusammentretens des Bundestages an leidenschaftlich und mit ganzer Kraft für das Ziel der Freiheit und Einheit aller Deutschen eingesetzt haben. Stellvertretend für viele möchte ich den früheren SPD-Vorsitzenden Kurt Schumacher zitieren. In der Debatte über die
erste Regierungserklärung von Konrad Adenauer im September 1949 sagte er:
Wir wünschen, daß bei aller Verschiedenheit der Auffassungen sozialer, politischer und kultureller Natur die Angelegenheit der deutschen Einheit überall in Deutschland die Angelegenheit der gleichen Herzenswärme und der gleichen politischen Entschiedenheit wird.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, der Beschluß der Volkskammer schafft endlich Klarheit darüber, wann die Einheit Deutschlands vollendet wird. Darauf kann sich jetzt jedermann innerhalb wie außerhalb Deutschlands einstellen. Das gilt insbesondere auch für jene, die etwa in der DDR investieren wollen.
Der heutige Tag ist aber auch ein Tag der Erinnerung an das Leid, das die Teilung unseres Vaterlandes über so viele Menschen gebracht hat. Wir erinnern uns an die Männer und Frauen, die 1945 aus den Konzentrationslagern Buchenwald und Sachsenhausen befreit und wenig später dort erneut eingesperrt wurden. Viele andere wurden in Straflager verschleppt, nicht zuletzt und gerade auch Mitglieder der demokratischen Parteien, und wir wissen bis heute nicht genau, von wie vielen es dann nie wieder ein Lebenszeichen gab. Es waren Zehntausende.
Nicht vergessen dürfen wir die Opfer der Willkürjustiz, die im Dienste der SED-Diktatur stand. Für uns bleibt unfaßbar, daß von deutschen Gerichten auf dem Gebiet der DDR über 75 000 Menschen aus politischen Gründen verurteilt worden sind. Viele sind in der Haft gestorben, andere wurden wegen sogenannter Staatsverbrechen hingerichtet.
Was den Menschen in der DDR am 17. Juni 1953 widerfuhr, hat die Präsidentin der Volkskammer, Frau Bergmann-Pohl, in der gemeinsamen Gedenkstunde von Abgeordneten unserer Parlamente am 17. Juni beschrieben. Sie sagte:
Sie erlebten eine Staatsmacht, die nicht mehr die Interessen der Bürger, sondern nur noch sich selbst vertrat.
Die schreckliche Bilanz der politischen Verfolgung seit 1945 geht über seelenlose Zahlen hinaus; was sagen sie schon über das Schicksal des einzelnen?
Wir wollen auch an all jene denken, die bei dem Versuch, von Deutschland nach Deutschland zu gehen, ihr Leben verloren. Über 190 Deutsche wurden an der unmenschlichen Grenze ermordet, die unser Vaterland 40 Jahre lang zerschnitt. Sie wollten ganz einfach in Freiheit ein menschenwürdiges Leben führen. Und noch vor gut anderthalb Jahren, im Januar 1989, erklärte Honecker, die Mauer werde noch in hundert Jahren stehen. Zehn Monate später wurde sie überwunden.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, angesichts der vielen Bilder und Nachrichten, die täglich auf jeden von uns einstürmen, sollten wir uns vergegenwärtigen, wie tiefgreifend die Veränderungen in den vergangenen zwölf Monaten gewesen sind. Morgen jährt sich — um nur ein Beispiel zu nennen — zum
17440 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 221. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 23. August 1990
Bundeskanzler Dr. Kohl
erstenmal der Tag, an dem Tadeusz Mazowiecki zum polnischen Ministerpräsidenten gewählt wurde.
Ich möchte hier in besonderer Dankbarkeit auch an Miklos Németh erinnern, den damaligen Ministerpräsidenten Ungarns. Er gab uns vor fast genau zwölf Monaten die Zusage, Ungarn werde seine Grenzen für die Flüchtlinge aus der DDR öffnen.
Damit wurde der erste Stein aus der Berliner Mauer geschlagen.
Ihnen allen sind die weiteren Stationen des Weges bekannt, an dessen Ende wir mit dem 3. Oktober 1990 angelangt sein werden. Das Tempo der Entwicklung wurde von unseren Landsleuten in der DDR bestimmt; von ihrem Ruf nach Freiheit und nach Einheit.
Zu dem Ruf „Wir sind das Volk! " hinzu trat schon bald auch der Ruf „Wir sind e i n Volk!". Auf eine mich persönlich besonders bewegende Weise wurde das bei meiner Rede vor der Ruine der Frauenkirche in Dresden sowie wenige Tage darauf bei der Öffnung des Brandenburger Tores Ende des vergangenen Jahres sichtbar.
Zuallererst, meine Damen und Herren, haben wir daher heute unseren Landsleuten in der DDR dafür zu danken, daß wir in wenigen Wochen die Freiheit und Einheit Deutschlands vollendet haben werden.
Sie haben mit ihrem Mut, mit ihrer Besonnenheit und vor allem mit ihrer Freiheitsliebe ein Beispiel gegeben, wie sich eine gewaltsame Diktatur friedlich überwinden läßt. Dies wird für alle Zeit zu einem der großartigen Kapitel der deutschen Geschichte gehören.
Die Deutschen in Ost und West haben während der vergangenen zwölf Monate bewiesen, daß sie gegen die Versuchung nationaler Überheblichkeit gefeit sind. Das ist ein Ausdruck demokratischer Reife und nachbarschaftlicher Gesinnung. In über 40 Jahren einer stabilen rechtsstaatlichen Demokratie haben wir uns in Europa und weltweit Vertrauen erworben. Dies galt und gilt unter allen Regierungen, die in diesen 40 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland regiert haben. Es ist dies ein Vertrauen, ohne das wir die staatliche Einheit Deutschlands jetzt gewiß so rasch nicht wieder herstellen könnten. Wir wollen auch für dieses Vertrauen dankbar sein.
Dank schulden wir unseren westlichen Freunden und Partnern, vor allem jenen drei Verbündeten, die besondere Verantwortung in bezug auf Berlin und Deutschland als Ganzes tragen und die in diesen Jahrzehnten unsere Freiheit gesichert haben.
Ich nenne insbesondere unsere amerikanischen Freunde, allen voran Präsident George Bush,
der sich gerade in den letzten Monaten als ein treuer Freund der Deutschen erwiesen hat.
Ich nenne ebenso Staatspräsident Francois Mitterrand,
der am 14. Februar dieses Jahres erklärte: „Wer könnte nicht verstehen, daß dieses so lange geteilte Volk nach Einheit strebt? ... Die Deutschen sollen wissen, daß ich, wie die Mehrheit der Franzosen, den brüderlichen Wunsch ausspreche, daß das Schicksal für sie einen glücklichen Lauf nehmen möge. "
Ich möchte dem heute hinzufügen, daß die brüderliche Verbundenheit zwischen dem deutschen und dem französischen Volk das Herzstück der Außenpolitik eines vereinten Deutschlands auf dem Weg zu einem vereinten Europa bleiben wird.
Wir sind Teil der westlichen Wertegemeinschaft, und das wird so bleiben. Geschlossenheit und Standfestigkeit des Bündnisses haben sich gerade in entscheidenden Augenblicken bewährt. Wir haben vor wenigen Wochen auf dem NATO-Gipfel in London weitreichende Beschlüsse gefaßt. Sie sind ein erneuter Beweis für die konstruktive Rolle des Bündnisses bei der Bewahrung und Gestaltung des Friedens in Freiheit auf unserem Kontinent.
Eine wesentliche Voraussetzung dessen, was sich jetzt vollzieht, wurde auch mit unserer Politik für die europäische Einigung geschaffen. Die Politik der europäischen Integration hat mit ihrer Ausstrahlungskraft dazu beigetragen, der Freiheit, den Menschenrechten und der Selbstbestimmung in Mittel-, Ost- und Südosteuropa zum Durchburch zu verhelfen. Sie wird dazu beitragen, daß dieser Wandel von Dauer bleibt.
Dank schulden wir auch den mutigen Bürgerrechtsbewegungen in Polen und Ungarn.
Auch sie haben mit ihrem vorbildlichen Einsatz für eine friedliche Revolution die Entwicklung in der DDR möglich gemacht. Es ist für mich nicht nur ein Ausdruck unserer Dankbarkeit, sondern auch ein Gebot politischer Klugheit, daß wir in einem vereinten Deutschland auch künftig alles tun werden, um die Reformprozesse in Mittel-, Ost- und Südosteuropa zu unterstützen.
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Bundeskanzler Dr. Kohl
Der Erfolg einer freiheitlichen Staats- und Gesellschaftsordnung in Polen, in Ungarn, in der CSFR und auch in der Sowjetunion liegt in unserem Interesse. Es geht um ein Werk des Friedens, das allen in Europa zugute kommen wird.
Dank, meine Damen und Herren, schulden wir nicht zuletzt Präsident Michail Gorbatschow.
Durch seine Reformpolitik und das neue Denken in der sowjetischen Außenpolitik — wir erleben das gerade in diesen Tagen angesichts der Krise in der Golfregion — ist der tiefgreifende Wandel in Deutschland und in Europa mit ermöglicht worden. Ohne die Achtung des Rechts der Völker und Staaten auf den eigenen Weg wären die Reformbewegungen der Staaten des Warschauer Pakts nicht erfolgreich gewesen.
Zum Recht des deutschen Volkes auf den eigenen Weg gehört sowohl die Entscheidung, in einem gemeinsamen Staat zusammenzuleben, als auch die Freiheit, zu wählen, welchem Bündnis dieser gemeinsame Staat angehört. Bis vor kurzem gab es ja noch Zweifel, ob die Sowjetunion bereit sein werde, zu akzeptieren, daß das vereinte Deutschland dem Nordatlantischen Bündnis angehört. Nach unseren Gesprächen mit Präsident Gorbatschow im Kaukasus ist auch diese letzte Hürde für einen erfolgreichen Abschluß der Zwei-plus-Vier-Gespräche aus dem Weg geräumt.
Meine Damen und Herren, ein Wort des Dankes möchte ich heute auch an die vielen Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger in der Bundesrepublik richten, die beharrlich an dem Ziel der Einheit auch in Zeiten festhielten, in denen so mancher schon resigniert hatte.
Seit 1945 kamen aus allen demokratischen Parteien wichtige Beiträge dazu, daß der Wille zur Einheit nie erloschen ist. Wir alle müssen uns bewußt machen, was es heißt, daß wir in so wenigen Monaten das große Ziel der Einheit und Freiheit aller Deutschen verwirklichen können. Natürlich und verständlicherweise geht es in diesen Tagen und Wochen um Währung, um Wirtschaft und Finanzen. Natürlich geht es um schwerwiegende soziale Fragen, um ganz praktische Alltagssorgen vieler Menschen. Natürlich geht es um so wichtige Fragen wie Wahlverfahren und Wahltermin. Vor allem aber geht es um den großen historischen Augenblick, in dem wir Deutschen in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit unseres Vaterlandes vollenden.
Wie das geschieht, ist in der neueren Geschichte Europas ohne Beispiel. Es geschieht ohne Krieg, ohne blutige Revolution und Gewalt und in vollem Einvernehmen mit unseren Freunden und Partnern und Nachbarn in West und Ost.
Wann je hat ein Volk das Glück gehabt, Jahrzehnte der schmerzlichen Trennung auf so friedliche Weise zu überwinden? Ein Traum geht in Erfüllung, an dessen Verwirklichung zu glauben viele — auch bei uns — schon aufgegeben hatten.
Die Vereinigung Deutschlands ist das Ergebnis einer langangelegten, klugen Politik. Der Grundstein zu dem, was sich heute in Deutschland vollzieht, wurde schon in den fünfziger Jahren gelegt. Auf eindrucksvolle Weise erfüllt sich heute, was Konrad Adenauer in seinen „Erinnerungen" so beschrieben hat:
Es gab Stimmen, die den von mir gezeichneten Weg nicht als den Weg zur deutschen Einheit bezeichneten. Aber es kam darauf an zu erkennen, daß es zunächst für uns keinen anderen Weg gab. Die Sowjets würden früher oder später einsehen, daß sie sich mit dem Westen verständigen müßten, daß sie ihn nicht niederzwingen könnten. In einer solch friedlichen Verständigung lag meine Hoffnung und sah ich unsere Chance. Sie würde allerdings nur dann für uns gegeben sein, wenn wir uns im Zeitpunkt einer solchen allgemeinen Einigung zwischen West und Ost bereits als zuverlässiger Partner des Westens erwiesen hätten. Nur dann würde der Westen bei einer Verständigung unsere Interessen zu seinen eigenen machen.
Wir haben an dieser Politik, meine Damen und Herren, stets festgehalten. In meiner Regierungserklärung vom 4. Mai 1983 habe ich zu Beginn der damaligen Legislaturperiode hier erklärt:
Die deutsche Nation besteht fort. Wir sind für das Selbstbestimmungsrecht aller Völker und für das Ende der Teilung Europas. Wir werden alles tun, um in Frieden und Freiheit die deutsche Einheit zu erstreben und zu vollenden.
Das vereinte Deutschland wird als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt dienen. Deutschland, unser Vaterland, wird souverän sein. Bis 1994 werden alle sowjetischen Soldaten unser Land verlassen haben, 50 Jahre nachdem sie erstmals deutschen Boden betraten.
Wer hätte diese Entwicklung vor einem Jahr für möglich gehalten?
Meine Damen und Herren, die Verantwortung, die jetzt auf uns lastet, wiegt schwer. Bei allem Grund zur Freude wissen wir, daß uns die Überwindung der alten Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung auf dem Gebiet der heutigen DDR vor außergewöhnliche Herausforderungen stellt. Jeder weiß: Die wirtschaftliche Situation in der DDR ist derzeit durch den Übergang von einer kommunistisch-sozialistischen Planwirtschaft zur Sozialen Marktwirtschaft gekennzeichnet. Daß dieser Übergang alles andere als einfach ist, liegt auf der Hand. 40 Jahre Herrschaft des realen Sozialismus zu Lasten der Menschen in der DDR können nicht in knapp acht Wochen nach Einführung der Wäh-
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rungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ausgeglichen werden.
Wer etwas anderes erwartet hat, dem fehlt die Anschauung dessen, was 40 Jahre real existierender Sozialismus in der DDR angerichtet haben.
Ich habe in diesem Jahr immer wieder auf die zu erwartenden Schwierigkeiten hingewiesen,
nicht zuletzt bei der Unterzeichnung des Staatsvertrages über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und bei der Ratifizierungsdebatte hier im Bundestag.
Jetzt geht es um den Wiederaufbau der DDR in allen Bereichen. Dies ist sicher keine Frage von Tagen und Monaten. Das ist eine Frage der nächsten Jahre. Aber alle Zeichen stehen darauf, daß wir es gemeinsam schaffen werden.
Dabei hängt der Erfolg entscheidend davon ab, daß wir an diesem Wendepunkt deutscher Geschichte alle gemeinsam äußerste Anstrengungen unternehmen, um diese Herausforderungen zu bestehen. Der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion hat hierfür die notwendigen Grundlagen geschaffen. Allein für die ersten 18 Monate ist eine finanzielle Unterstützung für den DDR-Haushalt in Höhe von 57 Milliarden DM vorgesehen. Hinzu kommen Kredite zur Sanierung der DDR-Wirtschaft und eine kräftige Anschubfinanzierung der Sozialversicherung.
All dies war und ist praktische Solidarität in einer ungewöhnlich schwierigen Situation unseres Volkes.
Mit dieser Solidarität war naturgemäß auch die Erwartung verbunden, daß Finanzmittel dort rechtzeitig ankommen, wo sie dringend gebraucht werden. Die Erfahrung der letzten Wochen hat gezeigt, daß dies leider nicht in allen Bereichen sichergestellt werden konnte. Wir wissen, daß nicht zuletzt viele Bauern zu Recht dagegen protestiert haben, daß das Geld, das für sie bereitgestellt wurde, im Getriebe einer Bürokratie hängengeblieben ist.
Die Bauern in der DDR brauchen selbstverständlich unsere tatkräftige und schnelle Hilfe. Seit dem 1. August ist die Landwirtschaft der DDR faktisch Teil des europäischen Agrarmarktes, und die Bauern der DDR sind damit in die Gesamtsolidarität der EG einbezogen.
Nach anfänglichen Schwierigkeiten sind die staatlichen Interventionen jetzt angelaufen. Wir werden in Zukunft mit Nachdruck — und angesichts der Möglichkeit der baldigen Vereinigung ist das um so leichter zu machen — auf eine schnelle Auszahlung der Gelder drängen. Auch die beschlossenen Liquiditätshilfen müssen schneller und effizienter als bisher ausgezahlt werden. Wir werden zusätzlich — wir befinden uns jetzt in den Verhandlungen — den Export von Agrargütern aus der DDR massiv fördern. Damit wird der Markt in der DDR, aber auch der Markt bei uns spürbar entlastet.
In Städten und Gemeinden konnten vielfach notwendige Investitionen noch nicht in Angriff genommen werden, obwohl mit dem ersten Staatsvertrag Milliardenbeträge für Infrastrukturmaßnahmen ausdrücklich vorgesehen und bereitgestellt waren. Hier sind inzwischen in Zusammenarbeit zwischen Bonn und Berlin notwendige Konsequenzen gezogen worden. Es muß jetzt sehr schnell alles getan werden, damit die zur Verfügung gestellten Finanzmittel Bürger und Unternehmer ebenso erreichen wie die Landwirtschaft und die Städte und Gemeinden. Nur so kann die wirtschaftliche Entwicklung der DDR erfolgreich in Gang gebracht werden.
Festzuhalten bleibt, daß uns der Staatsvertrag über die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion in die Lage versetzt, den erwarteten Anpassungsproblemen der DDR wirksam zu begegnen. So haben wir zum Beispiel von Anfang an, um die Arbeitslosigkeit zu begrenzen, die Möglichkeit zur Kurzarbeit im Vergleich zur Bundesrepublik stark erweitert, dies vor allem, um Kurzarbeit mit den notwendigen Maßnahmen zur Umschulung und Qualifizierung zu verbinden. Von dieser Möglichkeit wird zunehmend mit aktiver Unterstützung der Bundesanstalt für Arbeit Gebrauch gemacht.
Welche Probleme hier zu bewältigen sind, zeigt die kürzlich vorgelegte Untersuchung des Ifo-Instituts. Dieses Gutachten beziffert die von der bisherigen sozialistischen Planwirtschaft hinterlassene verdeckte Arbeitslosigkeit auf über eine Million. Die Zahlen sprechen für sich selbst.
Gleichzeitig ist die Umgestaltung der DDR-Wirtschaft deutlich in Gang gekommen. So sind allein im ersten Halbjahr 1990 in der DDR über 2 800 Gemeinschaftsunternehmen mit Partnern außerhalb der DDR zustande gekommen. In der DDR selbst wurden in den ersten sechs Monaten dieses Jahres gut 100 000 neue Betriebe gegründet, vor allem in Handel und Handwerk. Allein im Juli ist noch einmal die Rekordzahl von über 35 000 hinzugekommen.
Auch bei der Treuhandanstalt kommen jetzt offensichtlich die notwendigen Arbeiten besser in Gang.
Die Liquidität der Unternehmen für August und September konnte inzwischen in enger Zusammenarbeit zwischen Treuhandanstalt, Banken, Regierung der DDR und der Bundesregierung gesichert werden. Nach verständlichen Anlaufproblemen der Treuhandanstalt gehe ich davon aus, daß jetzt auch bei der Privatisierung und Sanierung der DDR-Betriebe zügig Fortschritte erzielt werden.
Ich füge hinzu: Natürlich können die schwierigen Anpassungsprobleme von 8 000 Unternehmen nicht kurzfristig gelöst werden. In diesem Zusammenhang ist insbesondere auch die Reorganisation der Außen-
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stellen der Treuhandanstalt überfällig, damit eine konstruktive Zusammenarbeit mit Städten und Gemeinden und privaten Investoren vor Ort zügig vorankommt.
Wichtig ist nicht zuletzt, daß auch die Tatsachen nicht übersehen werden, die gerade in der jetzigen Situation stabilisierend wirken. So ist leider nur am Rande in der Öffentlichkeit vermerkt worden, daß die Lebenshaltungskosten in der DDR im Juli, also im ersten Monat der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, um über 5 % niedriger lagen als ein Jahr zuvor. Nimmt man hinzu, daß Löhne, Gehälter und Renten im gleichen Zeitraum in der Regel deutlich gestiegen sind, so ist ganz einfach festzustellen, daß das Realeinkommen und die Kaufkraft der Bürger in der DDR in kurzer Zeit zugenommen haben.
Meine Damen und Herren, all dies ist kein Grund, bei dem Erreichten stehenzubleiben. Aber es zeigt, daß es in diesem schwierigen wirtschaftlichen Umstellungsprozeß nicht zuletzt im Vergleich zu den gravierenden Wirtschafts- und Sozialproblemen anderer Reformländer in Mittel-, Ost- und Südosteuropa erhebliche Aktivposten und auch begrüßenswerte Fortschritte gibt.
Ich nenne einen weiteren wichtigen Punkt. Angesichts der unvermeidbar schwierigen Probleme beim Übergang vom real existierenden Sozialismus zur Sozialen Marktwirtschft ist gelegentlich die Behauptung zu hören, daß diese Schwierigkeiten ohne die Schaffung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion hätten vermieden werden können. Meine Damen und Herren, wer dies behauptet, leugnet die Entwicklung der letzten Monate und verdrängt die Erfahrungen dieses Jahres.
Ich erinnere noch einmal daran, daß zwischen November 1989 und Februar 1990 knapp 300 000 Übersiedler aus der DDR in die Bundesrepublik gekommen sind.
Um dieser dramatischen Entwicklung zu begegnen, waren nach übereinstimmender Auffassung in diesem Hause schnelle positive Signale für die Verbesserung der Lebensbedingungen der DDR notwendig. Dies war der entscheidende Grund für die Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion.
Die Bundesregierung und die Koalitionsparteien halten an dieser Politik fest: Verwirklichung der Deutschen Einheit in Abstimmung mit unseren Partnern in der DDR sowie mit unseren Nachbarn und Verbündeten in West und Ost, Bewältigung der wirtschaftlichen Übergangsprobleme, so wie dies bereits im Staatsvertrag vom 18. Mai 1990 vorgesehen war, Erwartung an alle Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, daß alles getan wird, um gemeinsam Schritt für Schritt die Schwierigkeiten des Übergangs vom Sozialismus zur Sozialen Marktwirtschaft zu bewältigen.
Meine Damen und Herren, der Weg zur Deutschen Einheit erfordert gemeinsame Anstrengungen und persönliches Engagement. Ich will dankbar würdigen, daß viele aus allen Kreisen unserer Bevölkerung
bereits Vorbildliches geleistet haben: Arbeitnehmer wie Unternehmer, Verbände, Gewerkschaften, Betriebsräte, Leute aus dem Mittelstand und nicht zuletzt — das will ich hier besonders erwähnen — die demokratischen Parteien in unserem Land.
Manche von uns haben allerdings vergessen: Auch der Beginn der Sozialen Marktwirtschaft 1948 war alles andere als einfach. Wir hatten nicht nur starke Preissteigerungen, massive Proteste, einen eintägigen Generalstreik und vieles andere mehr. Diese Schwierigkeiten und diese Durststrecke wurden überwunden. Es entstand ein blühendes Land, unsere Bundesrepublik Deutschland.
Wir stehen heute in der DDR vor schwierigen Aufgaben. Aber wir haben alle Voraussetzungen dafür, sie zu meistern. Manche scheinen vergessen zu haben, daß eben der Beginn der Sozialen Marktwirtschaft 1948 alles andere als ein Selbstläufer war. Aber dieses Beispiel zu Beginn der Bundesrepublik kann uns Ansporn sein, nicht nur für eine vage Hoffnung, sondern für die Überzeugung, daß sich die Verhältnisse auch in der DDR rasch bessern werden.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, wir sollten und — ich denke — wir dürfen an einem solchen Tag einen Augenblick innehalten und uns die historische Dimension dessen ins Bewußtsein rufen, was in diesen Monaten geschehen ist und weiter geschieht. Schauen wir nicht nur, so wichtig dies ist, auf die sich oft überstürzenden Ereignisse und Nachrichten des Tages. Wir sehen die wirtschaftlichen Schwierigkeiten; wir sehen die Probleme und die Notwendigkeiten in der DDR. Aber wir sind uns auch bewußt, daß wir Zeugen eines wahrhaft weltbewegenden Ereignisses und eines großen Augenblicks in der Geschichte unseres Volkes sind.
Lassen Sie uns gemeinsam unserer Verantwortung für alle Deutschen gerecht werden.