Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Man hat in dieser Diskussion, Frau Kollegin MatthäusMaier, gelegentlich das Gefühl, daß Sie überhaupt nicht zur Kenntnis nehmen, was unsere Kolleginnen und Kollegen in der Volkskammer debattieren und beschließen. Man hat noch mehr das Gefühl, daß Sie überhaupt nicht mehr wissen, was Sie in diesem Jahr alles erklärt haben, was Sie alles schon kritisiert haben und was Sie alles falsch vorhergesagt haben. Und ich habe das Gefühl, daß Sie bis heute nicht begriffen haben, daß nicht der Bundeskanzler, nicht der Deutsche Bundestag, nicht irgend jemand in der Bundesrepublik Deutschland das Tempo des Veränderungs-
und Einigungsprozesses in Deutschland bestimmt ha-
17424 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
Bundesminister Dr. Schäuble
ben, sondern die Menschen in der DDR, die von 40 Jahren Sozialismus die Nase voll hatten.
Sie haben soeben wieder — jetzt geben Sie es selber zu — wahrheitswidrig gesagt: „das vom Bundeskanzler angeschlagene Tempo des Vereinigungsprozesses". Sie haben nach dem 9. November davor gewarnt, man dürfe jetzt nichts überstürzen,
und man müsse jetzt langsam machen und ja nicht von Einigkeit reden,
und Sie haben nie begriffen, auch nicht vor dem 18. März, und begreifen es heute nicht, daß sich Entwicklungen immer beschleunigen, wenn Menschen 40 Jahre lang die Freiheit vorenthalten worden ist und wenn sie diese Freiheit für sich endlich wiedergewonnen haben.
Es hat hier niemand beschleunigt, und es ist nichts zu schnell gekommen, sondern es ist vieles gerade noch rechtzeitig gekommen.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, Sie waren derjenige, der zu Beginn dieses Jahres auf die Übersiedlerwelle mit dem Bau neuer Mauern aus Paragraphen antworten wollte. Sie wollten die Landsleute aus dem anderen Teil Deutschlands ausgrenzen.
Wir haben Ihnen damals gesagt: Wenn Mauern in Deutschland beseitigt sind — Gott sei Dank nach 40 Jahren — , gibt es nur einen Weg, diese Wanderungsbewegung in vernünftige, für beide Seiten erträgliche Bahnen zu bringen, nämlich den, daß man die Ursachen dieser Wanderungsbewegung beseitigt. Das kann man nicht durch Mauern aus Beton, und das kann man schon gar nicht durch Mauern aus Paragraphen machen, sondern dann muß man die Wirtschafts- und Währungs- und Sozialunion mit der DDR schließen, muß die D-Mark und die Soziale Marktwirtschaft einführen. Dann werden die Übersiedlerzahlen zurückgehen, weil die Menschen eine Perspektive der Hoffnung und der Zuversicht finden. Wir haben dies am 21. März, drei Tage nach der Wahl zur Volkskammer, als Bundesregierung beschlossen und verkündet.
Herr Kollege Vogel, Sie haben gesagt, das wird noch bis zum 1. Juli eine große Welle von zusätzlichen Übersiedlern auslösen. Theo Waigel hat Ihnen gesagt, wie die Zahlen zurückgegangen sind. Am letzten Tag des Aufnahmeverfahrens, am Samstag, den 30. Juni, sind noch 44 Übersiedler registriert worden. Dies zeigt, daß unsere Politik der schnellen Antwort auf die Bedürfnisse der Menschen in der DDR und der schnellen Hilfe der richtige Weg war, um die Probleme zu lösen. Der Weg von Lafontaine ist der falsche.
Wir müssen auf diesem Weg weitergehen.
Frau Matthäus-Maier, die Volkskammer hat gestern natürlich einen möglichst frühen Termin des Beitritts beschlossen. Das ist ja gut so. Aber sie hat zunächst gesagt: Wir möchten zuvor den Einigungsvertrag abgeschlossen und auch ratifiziert haben. Das sollten Sie nicht vergessen. Ich will dazu ein paar Worte sagen; deswegen habe ich mich gemeldet. Die Volkskammer hat drittens gesagt: Wir bitten, daß der Zusammenhang zwischen Wahl und Beitrittstermin nicht aufgelöst wird, der ja bisher gar nicht bestritten war. Es ist doch aus Ihren Reihen noch vor wenigen Monaten darüber spekuliert worden, ob man nicht gegebenenfalls die Legislaturperiode dieses Bundestages um ein paar Monate verlängern könne, wenn man es bis zum 2. Dezember nicht schaffe.
— Darüber ist auch von Sozialdemokraten geredet worden; natürlich.
Herr Vogel, ich habe immer gesagt: Wir werden es bis zum 2. Dezember schaffen. Sie haben noch am 16. Mai erklärt: Die Wahl ist bis zum 2. Dezember nicht zu schaffen.
— Auch ich bin ja der Meinung, daß es Unsinn ist; da sind wir uns ja einig.
Herr Kollege Vogel, wollen Sie bestreiten, daß wir alle gemeinsam immer einen engen Zusammenhang zwischen Wahl und Beitrittstermin gesehen haben?
Wenn Sie dies bestreiten, dann ist es ja in Ordnung. Nur, dann sage ich Ihnen, die in der DDR, und zwar alle in der Volkskammer, sehen diesen Zusammenhang weiterhin. Ich kann auch verstehen warum. Sie möchten schon gern den gesamtdeutschen Gesetzgeber und die gesamtdeutsche Regierung von Anfang an mitwählen.
Deswegen bitte ich, daß wir diesen Zusammenhang nicht auflösen. Aber ich sehe ja, daß Sie sich verweigern. Dann wird es ein wenig länger dauern. Die Verantwortung dafür werden Sie zu tragen haben.
Es wird Ihnen nicht gelingen, sich der Lösung eines schnelleren Beitritts und einer schnelleren Wahl zu verweigern und gleichzeitig die Verantwortung für Ihre Verweigerungspolitk beim Bundeskanzler und bei der Regierungskoalition abzuladen. Beides zusam-
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men geht nicht. Für Ihre Verweigerungshaltung werden Sie selber die Verantwortung zu tragen haben.