Herr Penner, habe ich Sie, Ihre Partei, die SPD, richtig verstanden? — Auch Sie wollen doch eine sehr schnelle Vereinigung erreichen. Sie haben ja heute morgen dargestellt, die DDR befinde sich im Zusammenbruch und deshalb müsse die Einheit schnell herbeigeführt werden. Wir schaffen uns doch die Tagesordnung der Aufgaben nicht selber. Wenn es so ist, wie heute morgen dargestellt, daß Solidarität gefordert ist, dann ist die Solidarität unter einem gemeinsamen Dach doch leichter zu organisieren als in zwei Staaten.
Das Problem ist doch: Wir wollen die Einheit, und wir wollen die Einheit mit Wahlen, und zwar nach dem Willen beider Seiten.
Übrigens, das schwierigste Problem — das sehe ich wie Sie — liegt in der Arbeit für alle. Das Sozialsystem lebt immer nur von der Arbeit. Alles, was wir machen, ist nur Stellwerksarbeit. Ohne Arbeit gibt es keine soziale Sicherheit, Arbeit für alle auch aus der Sicht der individuellen Betroffenheit.
Ebenso richtig ist aber, daß Umstrukturierung mit Arbeitslosigkeit verbunden ist. Das haben wir bei uns im Bergbau erlebt, das haben wir in der Werftindustrie erlebt, das haben wir im Stahlbereich und im Textilbereich erlebt.
Der Umstellungsbedarf ist in der DDR noch größer. Da geht es nicht nur um Branchen. In der DDR muß ein ganzes System umgestellt werden. Aber wir gehen doch davon aus, daß wir diese Umstellung sozial abfedern. Soziale Marktwirtschaft ist doch kein Ellenbogenkapitalismus, wie die Sozialisten immer behauptet haben. Soziale Marktwirtschaft federt diesen Strukturwandel ab, auch durch ein System der Arbeitslosenversicherung, durch ein System von Umschulung und Qualifizierung.
Am ersten Tag der Sozialunion — die Sozialunion war noch nicht einen Tag alt — habe ich zusammen mit meiner Kollegin aus der DDR einen Umschulungskongreß in Berlin durchgeführt. Wir können im übrigen nur das Angebot geben; es muß Initiative auf allen Seiten entwickelt werden. Umschulung und Fortbildung sind das Geheimnis der Modernisierung. Es geht nicht nur um neue Maschinen, es geht auch um die Arbeitnehmer, die diese Maschinen beherrschen.
Ich verteidige hier mit allem Nachdruck unsere Kurzarbeiterregelung auch gegen manche Kritiker in der Bundesrepublik. Daß diese Kurzarbeiterregelung großzügiger ist, hat damit zu tun, daß die Verhältnisse in der DDR anders sind. Diese großzügige Kurzarbeiterregelung gibt auch eine Atempause für sichere Entscheidungen, nämlich dann, wenn der Betrieb noch nicht weiß — gerade in diesen Umbruchszeiten —, wie es weitergeht.
Wir haben jetzt immerhin 656 000 Kurzarbeiter in der DDR. Hätten wir diese großzügige Kurzarbeiterregelung nicht, gäbe es in der DDR nicht 272 000 Arbeitslose, sondern über 900 000. Sie sehen also, daß die Instrumente hilfreich sind. Machen Sie doch nicht den ganzen Morgen den Menschen Angst! Sagen Sie ihnen doch auch, daß wir Instrumente geschaffen haben, die den Dammbruch verhindern sollen. Sie können doch nicht die Dammbauer für die Überflutungen verantwortlich machen. Wir wollen Dämme bauen gegen Arbeitslosigkeit.
Ich denke, daß diese Kurzarbeiterregelung auch für Umschulung und Qualifizierung genutzt werden muß. Freilich, die Sozialpolitik kann die Wirtschaftspolitik nicht ersetzen. Freilich, die Sozialpolitik kann die unternehmerische Initiative nicht ersetzen. Ich will
17420 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
Bundesminister Dr. Blüm
ausdrücklich dazu sagen: Unternehmer aus Westdeutschland, die die DDR nur als Absatzmarkt betrachten, handeln sehr kurzsichtig. Sie bringen sich nämlich um ihre zukünftigen Kunden, nämlich Kunden, die was verdient haben, um Geld ausgeben zu können. In der DDR werden Produktionsstätten gefordert. Dort müssen die Produkte hergestellt werden. Wer nur in Absatzkategorien denkt, bringt sich um die eigene Kundschaft.
Ich sehe auch das große Bedürfnis nach Umstellung im Gesundheitssystem. Staatliche Gesundheitssysteme haben, wo immer in der Welt sie ausprobiert wurden, nirgendwo funktioniert.
Ich will um Verständnis bitten, daß eine solche Umstellung nicht kurzfristig erreicht werden kann. Vielmehr ist das ein Prozeß. Aber der Prozeß muß auf ein freiheitliches, gegliedertes und selbstverwaltetes System ausgerichtet sein.
Auch in diesem Zusammenhang haben wir — entgegen anderslautenden Meldungen — die DDR nicht im Stich gelassen: 500 Millionen DM für Infrastruktur, z. B. für neue Krankenhausbetten. Auch jetzt wird es einen Betriebsmittelkredit aus dem Staatshaushalt der DDR geben.
Herr Lafontaine, teilen Sie unseren westdeutschen Bürgern wie den Bürgern in der DDR — neben Ihrer Kritik — doch auch einmal mit, was denn wirklich besser geworden ist. Nach Angaben des Verbandes der Deutschen Rentenversicherungsträger hat die Umstellung der Rente am 1. Juli bei 2,4 Millionen der Versicherten in der DDR eine Rentenerhöhung um durchschnittlich 32,7 % gebracht.
Ich will damit keine Beruhigung aussprechen. Sagen Sie neben den Schreckensmeldungen, in denen Sie geradezu baden — Sie sind der Melkmeister der Katastrophen; von nichts anderem leben Sie — , den Bürgern auch einmal, was besser geworden ist: daß die Rente höher ist, daß es aufwärts geht, auch für die älteren Mitbürger, die in 40 Jahren Sozialismus um ihr Leben betrogen worden sind! In deren Pflicht stehen wir. Unsere Solidarität können sie zu Recht beanspruchen. Wir werden für sie arbeiten.
Ich möchte meine Rede mit dem Appell schließen: Lassen Sie uns der großen historischen Stunde gerecht werden! Wir haben hier manche kleinkarierte sozialpolitische Diskussion geführt. Ich bekenne ausdrücklich, daß auch ich mich häufig an der Kleinkariertheit beteiligt habe.
Aber laßt uns jetzt gemeinsam den Sozialstaat Deutschland bauen! Ich finde es eine große Chance, daß wir aus manchen liebgewordenen Gewohnheiten unseres Parteiengezänks heraustreten und gemeinsam am Aufbau von Freiheit und sozialer Sicherheit in Deutschland arbeiten. Das, finde ich, würde mehr lohnen als jene kleinkarierte Politik, die sich in Pessimismus und in Untergangsmeldungen sonnt.
Ich meine, daß wir es schaffen können, wenn wir es gemeinsam schaffen wollen. Und wir wollen es gemeinsam schaffen.