Rede von
Dr.
Norbert
Blüm
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CDU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Herr Schreiner, Sie hätten mich mißverstanden, wenn Sie meinten, ich hätte unseren Sozialstaat als ein Schlaraffenland und unser System als nicht mehr entwicklungsbedürftig dargestellt. Aber ich stelle fest: Es gab in der Bundesrepublik Deutschland noch nie ein so hohes sozialstaatliches Niveau wie im Jahr 1990.
Ich liebe in solchen Fällen die Zahlen: Das Sozialbudget betrug im Jahre 1982 pro Kopf der Bevölkerung 8 546 DM, im Jahr 1990 11 270 DM. Herr Schreiner, Sie werden zugeben, 11 270 DM sind mehr als 8 546 DM. Vom Zusammenbruch, von Minusrekorden kann überhaupt nicht die Rede sein.
Ich stimme Ihnen ausdrücklich darin zu, daß unser Sozialstaat ungelöste Probleme hat. Ich sehe das Problem Pflege als eine große Aufgabe der Zukunft an. Ich stelle unser System nicht als nicht verbesserungsbedürftig dar. Aber ich denke, wir haben ein Sozialsystem geschaffen, wie es es in Deutschland vorher noch nicht gab. Wir wollen dieses Sozialsystem nicht als ein Exklusivsozialsystem für die Bundesrepublik, sondern als ein Sozialsystem für das gemeinsame Deutschland. Wir wollen den Wohlstand für alle Deutschen in Leipzig, Frankfurt, Dresden oder wo sie sonst wohnen. Wir wollen den Sozialstaat unter einem Dach für alle Deutschen und in Solidarität mit der Welt.
Dabei ist auch richtig — niemand hat es anders dargestellt —, daß wir eine schwierige Wegstrecke in der DDR zu überwinden haben. Im übrigen war auch das sogenannte westdeutsche Wirtschaftswunder kein Wunder, sondern das Ergebnis großer Anstrengungen. Es kam auch nicht über Nacht. Wir müssen die Ausdauer und Zähigkeit haben, diese Wegstrecke gemeinsam zu gehen. Dabei wird es sicherlich auch solche geben, die zu schwach sind zu gehen. Diese müssen getragen werden. Aber wenn alle in der DDR getragen werden wollen, dann kann niemand mehr laufen. Das Geheimnis der Sozialen Marktwirtschaft lautet: Hilfe demjenigen, der der Hilfe bedarf. Aber ohne Leistung läßt sich kein Sozialstaat aufbauen.
Insofern brauchen wir — es geht nicht nur um Geld — geradezu eine kopernikanische Wende in der DDR. Die Wirtschaft kreist eben nicht mehr um die Bürokratie; sie kreist um den Verbraucher, um den Kunden. Dieser bestimmt, was produziert wird. Wir brauchen eine kopernikanische Wende, die Wettbewerb an die Stelle von Planung setzt. Vierzig Jahre Gewohnheit im obrigkeitstaatlichen Denken — der Staat macht alles — schüttelt niemand — sage ich ohne jeden Vorwurf — über Nacht aus seinen Kleidern.
Deshalb warne ich uns davor, das Problem nur mit Geld lösen zu wollen. Geld wird gefordert. Wir werden helfen, wir haben geholfen. Wir haben in der Arbeitslosenversicherung mit einer Anschubfinanzierung geholfen. Für das zweite Halbjahr 1990 haben wir mit 2 Milliarden DM für die Arbeitslosenversicherung und mit 750 Millionen DM für die Rentenversicherung als Anschubfinanzierung mit 2 Milliar-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17419
Bundesminister Dr. Blüm
den DM und mit 2,5 Milliarden DM als Betriebsmittelkredite für die Arbeitslosenversicherung und Rentenversicherung geholfen. Für das nächste Jahr haben wir noch einmal die Zusage einer Anschubfinanzierung der Arbeitslosenversicherung in Höhe von 3 Milliarden DM gegeben. Wir können uns streiten, ob es langt. Aber Sie dürfen sich doch nicht hinstellen, Herr Lafontaine, und sagen, wir hätten nichts gemacht; wir hätten nur geredet. Sie müssen doch zugeben, daß wir die DDR unterstützt haben.
Ich sage auch den Rentnern und den Arbeitslosen in der DDR: Kein Rentner in der DDR braucht Angst davor zu haben, daß seine Rente nicht gezahlt wird, und kein Arbeitsloser braucht Angst davor zu haben, daß sein Arbeitslosengeld nicht gezahlt wird.
Es bleibt auch die Staatshaftung für das Sozialsystem. Solange die DDR noch vorhanden ist, besteht die Pflicht der DDR, für dieses Sozialsystem einzutreten.
Wir müssen alle unsere Hausaufgaben erfüllen. Es ist ja möglicherweise ein sozialistisches Mißverständnis, der Sozialstaat lebe nur vom Ausgeben. Er muß auch Geld einnehmen. Der gleiche Eifer wie bei der Organisation der Ausgaben muß auch bei den Einnahmen vorhanden sein. Ein Teil der Probleme der DDR in der Rentenversicherung und in der Arbeitslosenversicherung besteht auch darin, daß die Beitragseinnahmen nicht ganz so schnell hereinkommen.
— Aber Sie werden als gelernte Sozialpolitikerin doch auch zugeben, daß wir in bezug auf die Dauer zwischen der Abführung der Sozialbeiträge und dem Eintreffen bei der Sozialversicherung eine Verbesserung brauchen. Ich sage das ja keineswegs mit dem Ton eines Oberlehrers. Ich sage vielmehr, daß wir Sozialpolitiker auch solidarisch dabei helfen müssen, daß dieses Sozialsystem eben nicht nur in seinem Ausgabenteil, sondern auch in seinem Einnahmenteil funktioniert. Beides gehört nämlich zusammen.