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ID1122005100

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    Plenarprotokoll 11i220 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 220. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 17379 A Absetzung des Punktes 2 von der Tagesordnung 17379B Stellungnahmen zur geschäftsordnungsrechtlichen Situation Bohl CDU/CSU 17379 C Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD 17380 B Baum FDP 17381 A Häfner GRÜNE 17381 C Zusatztagesordnungspunkt 1: Aussprache zur Vorbereitung der deutschen Einheit Dr. Graf Lambsdorff FDP 17382 D Brück SPD 17384 C Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 17384 D Lafontaine, Ministerpräsident des Saarlandes 17388A Stratmann-Mertens GRÜNE 17392 A Dr. Graf Lambsdorff FDP 17393 A Dr. Waigel, Bundesminister BMF 17394 A Dr. Ehrenberg SPD 17395 A Huonker SPD 17396 A Frau Matthäus-Maier SPD 17399 C Frau Dr. Vollmer GRÜNE 17400 C Rühe CDU/CSU 17404 B Klose SPD 17406 D Breuer CDU/CSU 17408 A Rühe CDU/CSU 17410 A Seiters, Bundesminister BK 17410 D Stratmann-Mertens GRÜNE 17411 C Dr. Haussmann, Bundesminister BMWi 17413 A Stobbe SPD 17414 C Dr. Blüm, Bundesminister BMA 17417 A Schreiner SPD 17418 B Dr. Penner SPD 17419 B Frau Matthäus-Maier SPD 17420 C Dr. Ehmke (Bonn) SPD 17421 A Gattermann FDP 17423 A Dr. Schäuble, Bundesminister BMI 17423 D Frau Dr. Däubler-Gmelin SPD 17425 A Dr. Sperling SPD 17425 B Frau Unruh fraktionslos 17426 D Wüppesahl fraktionslos 17428A Mischnick FDP 17430 B Namentliche Abstimmungen 17431 B, C Ergebnisse 17431C, 17433 B Nächste Sitzung 17434 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten 17435* A Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Czaja, Dewitz, Sauer (Salzgitter), Lowack, Windelen, Jäger, Lummer, Schulze (Berlin), Nelle, Rossmanith, Dr. Kappes und Böhm (Melsungen) Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur vereinbarten Aussprache zur Vorbereitung der deutschen Einheit (Drucksache 11/7657) 17435* B Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17379 220. Sitzung Bonn, den 9. August 1990 Beginn: 10.07 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Abelein CDU/CSU 09. 08. 90 Dr. Biedenkopf CDU/CSU 09. 08. 90 Buschfort SPD 09.08.90 Dr. Daniels (Regensburg) GRÜNE 09. 08. 90 Dr. Dollinger CDU/CSU 09. 08. 90 Duve SPD 09.08.90 Frau Folz-Steinacker FDP 09. 08. 90 Frau Garbe GRÜNE 09. 08. 90 Frau Geiger CDU/CSU 09. 08. 90 Grünbeck FDP 09.08.90 Dr. Göhner CDU/CSU 09. 08. 90 Dr. Häfele CDU/CSU 09. 08. 90 Frau Dr. Hellwig CDU/CSU 09. 08. 90 Frau Hoffmann (Soltau) CDU/CSU 09. 08. 90 Hoss GRÜNE 09.08.90 Kalisch CDU/CSU 09.08.90 Dr. Knabe GRÜNE 09. 08. 90 Kreuzeder GRÜNE 09.08.90 Lennartz SPD 09.08.90 Lenzer CDU/CSU 09.08.90 Frau Luuk SPD 09. 08. 90 Dr. Mahlo CDU/CSU 09. 08. 90 Meneses Vogl GRÜNE 09. 08. 90 Niegel CDU/CSU 09.08.90 Dr. Pfennig CDU/CSU 09. 08. 90 Pfuhl SPD 09.08.90 Rauen CDU/CSU 09.08.90 Dr. Riedl (München) CDU/CSU 09. 08. 90 Frau Rock GRÜNE 09. 08. 90 Frau Schilling GRÜNE 09. 08. 90 Schmidt (München) SPD 09. 08. 90 Frau Schmidt (Nürnberg) SPD 09. 08. 90 Dr. Schneider (Nürnberg) CDU/CSU 09. 08. 90 Dr. Schöfberger SPD 09. 08. 90 Schreiber CDU/CSU 09.08.90 Schulhoff CDU/CSU 09.08.90 Frau Dr. Segall FDP 09. 08. 90 Dr. Soell SPD 09. 08. 90 Frau Trenz GRÜNE 09. 08. 90 Waltemathe SPD 09.08.90 Dr. de With SPD 09. 08. 90 Zink CDU/CSU 09.08.90 Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Czaja, Dewitz, Sauer (Salzgitter), Lowack, Windelen, Jäger, Lummer, Schulze (Berlin), Nelle, Rosmanith, Dr. Kappes und Böhm (Melsungen) (alle CDU/CSU) zum Entschließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP zur vereinbarten Aussprache zur Vorbereitung der deutschen Einheit (Drucksache 11/7657) (Zusatztagesordnungspunkt 1) Unser Abstimmungsverhalten zu Drucksache 11/7657 verbinden wir mit der nachdrücklichen Aufforderung Anlagen zum Stenographischen Bericht an die Bundesregierung, in einer Zusatzvereinbarung die Wahlberechtigung aller deutschen Staatsangehörigen, wo immer sie leben, zu ermöglichen, und stützen uns dabei auf folgende Gründe: 1. Der jetzige § 12 des Bundeswahlgesetzes entspricht nicht in allen Teilen den verfassungsrechtlichen Erfordernissen einer ersten gesamtdeutschen Wahl. Diese ist von einmaliger, überragender Bedeutung, da sie als einen „wichtigen Schritt zur Herstellung der Deutschen Einheit die Wahl des Deutschen Bundestages durch das ganze Deutsche Volk" regeln soll (so zweiter Präambelsatz des Vertrages). Nach allgemeiner Rechtsauffassung ist das Deutsche Volk im Sinne des Grundgesetzes, von dem nach Art. 20 GG „alle Staatsgewalt ausgeht" , die Summe aller deutschen Staatsangehörigen. Dies hat eben erst (in Sachen Kommunalwahlrecht für Ausländer) vor dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts Prof. Papier namens der Bundesregierung vorgetragen. Allen, die deutsche Staatsangehörige sind, muß, soweit sie es wünschen, die Beteiligung an der Wahl möglich sein. Dies verlangt das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 GG. 2. Die Wahlberechtigung ist in der Bundesrepublik Deutschland und in den westlichen Demokratien nicht an den Wohnsitz im Wahlgebiet gebunden. Nach § 12 des Bundeswahlgesetzes sind u. a. alle deutschen Staatsangehörigen in den 21 Mitgliedstaaten des Europarates, einschließlich aller deutschen Staatsangehörigen im EG-Gebiet und deutschen Staatsangehörigen in anderen Staaten, sofern sie nicht mehr als 10 Jahre dort ihren ordentlichen Wohnsitz haben, in der Regel wahlberechtigt. Vom Prinzip der „Seßhaftigkeit" wurde bei der Wahlberechtigung seit langem zugunsten des Demokratieprinzips abgegangen. Größere Gruppen deutscher Staatsangehöriger vom Wahlvorgang auszuschließen wäre nicht systemgerecht. Nicht wahlberechtigt sind jetzt deutsche Staatsangehörige, die über 10 Jahre im Ausland leben, insbesondere aber auch - bei gesamtdeutschen Wahlen besonders gravierend - alle deutschen Staatsangehörigen, „die vor Inkrafttreten der (Ost-) Verträge die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen" (BVerfG E 40,171). Das gilt nach deutschem Staatsangehörigkeitsrecht auch für deren Nachkommen. Allen deutschen Staatsangehörigen, auch jenen, die bei Beginn der Vertreibungsmaßnahmen die deutsche Staatsangehörigkeit besaßen und die sich darauf berufen, sowie ihre Nachkommen, - auch wenn ihnen später die polnische Staatsangehörigkeit oktroyiert wurde - „steht diese Staatsangehörigkeit weiter zu" (BVerfG E 40,171). Denn es kann u. a. auch den Ostverträgen nicht die Wirkung beigemessen werden, „daß die Gebiete östlich von Oder und Neiße mit dem Inkrafttreten der Ostverträge aus der rechtlichen Zugehörigkeit zu Deutschland entlassen und der Souveränität, also sowohl der territorialen wie der personalen Hoheitsgewalt der Sowjetunion und Polens endgültig unterstellt worden seien" (BVerfG E 40,171). 17436* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 Das Bundesverfassungsgericht begründet dies auch mit völkerrechtlichen Hinweisen, u. a. mit den von polnischer Seite entgegengenommenen Erklärungen des Bundesaußenministers Scheel im November 1970, mit der über den Notenwechsel mit den Verbündeten vor Vertragsunterschrift unterrichteten Warschauer Regierung, mit dem für die Vertragsmächte erkennbaren Willen der Bundesrepublik, „nicht über den territorialen Status Deutschlands zu verfügen", mit dem Wortlaut von Art. IV des Warschauer Gewaltverzichtsvertrages (BVerfGE 40,171-174). „Nach alledem haben die Vertragspartner die Bundesrepublik Deutschland nicht für befugt halten können, Verfügungen zu treffen, die eine friedensvertragliche Regelung vorwegnehmen". Politische Absichtserklärungen, die weitergehen, können die Vertragsentscheidungen eines gesamtdeutschen Souveräns nicht präjudizieren und die Rechtslage der besonders bedrängten Deutschen nicht verändern. Unser Grundgesetz und seine Auslegung durch das Bundesverfassungsgericht haben bis zu einer rechtmäßigen Entscheidung des gesamtdeutschen Souveräns mit rechtlicher Verbindlichkeit für das Handeln der deutschen Verfassungsorgane festgeschrieben, daß „Deutschland" rechtlich als Staat und Völkerrechtssubjekt vorerst in den Grenzen von 1937 fortbesteht. 3. Das Wahlrecht gehört zu den wichtigsten Rechten eines Staatsangehörigen. Die Ausgrenzung gerade der bedrängten deutschen Staatsangehörigen durch Ausschluß von der Ausübung des Wahlrechts bei den ersten gesamtdeutschen Wahlen würde einen besonders gravierenden Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 GG, Art. 3 Abs. 1 GG, gegen das Demokratieprinzip des Art. 20 Abs. 2 GG, gegen die von Verfassungs wegen auch für diese Deutschen bestehende Schutzpflicht bedeuten und nicht systemgerecht sein. „Der Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl (Art. 38 Abs. 1 GG) untersagt den unberechtigten Ausschluß von Staatsbürgern von der Teilnahme an der Wahl (BVerfG E 36,141). Er verbietet dem Gesetzgeber, bestimmte Bevölkerungsgruppen aus politischen ... Gründen von der Ausübung des Wahlrechts auszuschließen" (BVerfG E 28,229; 36,141). Anders als bei früheren Wahlen müssen diese deutschen Staatsangehörigen bei Wahlen „zur Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands" und zu deren Vorbereitung wahlberechtigt sein, da das gesamte Deutsche Volk aufgefordert bleibt, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden. Man darf die Deutschen in diesen vorerst noch nicht „aus Deutschland entlassenen Teilen" jenseits von Oder und Neiße nicht anders behandeln als die im Gebiet der DDR lebenden Deutschen oder gar als Deutsche z. B. in der Türkei oder in Argentinien. Ob eine spätere Verfassungsänderung den Deutschlandbegriff „aushebeln" könnte, wird anhand von Art. 25 GG und Art. 79 Abs. 3 GG zu prüfen sein; sie kann aber keinesfalls Grund- und Menschenrechte deutscher Staatsangehöriger beseitigen oder ungeschützt sein lassen. Jedenfalls sind jetzt die Deutschen aus allen Teilen Deutschlands am Wahlvorgang zu beteiligen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Antje Vollmer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Jetzt kommt wieder eine kleine Partei, allerdings die kleine Partei mit den zukünftig größten Wachstumschancen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Da wir schon bei den Kleinen sind: Herr Bundeskanzler, ich finde, es gibt auch parlamentarische Stilfragen. Irgendwann müssen Sie in diesem Haus auch auf ihren Herausforderer antworten. Sie können nicht immer die kleinen Redner Waigel und Rühe vorschikken.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Er hat erst auf Sie gewartet, Frau Vollmer!)

    Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir die beiden noch getrennten Teile Deutschlands angucke, die nun zusammenwachsen sollen, fällt mir diesmal nicht der Fußball ein, sondern „Faust". Mephisto:
    Ihr habt die Teile in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band.
    Es muß wohl mit dem fehlenden geistigen Band zu tun haben, daß die Teile des Vaterlandes im Augenblick heftig, dramatisch und drastisch auseinanderdriften. Auch ist die Aufteilung zwischen beiden Teilen, wie ich finde, sehr, sehr ungerecht: Boom hier auf unserer Seite, Exportboom ohnegleichen, aber wachsende wirtschaftliche Verzweiflung und Koma in der DDR. Während in der DDR die Tragödie wächst, steigt hier bei uns die Burleske, auch im Bundestag. An der Lösung dieser Tragödie, finde ich, hat sich der Deutsche Bundestag nur sehr mäßig beteiligt. Mitten in der schärfsten Phase des Anwachsens der DDR-Probleme genehmigt sich der Bundestag zwei Monate Urlaubspause, ganz anders als die Volkskammer.
    Ich finde, es ist kein gutes Zeichen für die politische Klasse eines Landes, welche die Parteien ja auch darstellen, wenn sie sich selbst so für überflüssig erklären. Ich glaube, daß es später einmal niemand mehr verstehen wird, daß uns aus unserer Sommerpause diesmal nicht die Debatte z. B. über die wachsende Arbeitslosigkeit, über die Wohnungsnot, über die verzweifelte Lage der Frauen und der Bauern in der DDR geholt hat, sondern nur diese Groteske einer Wahlrechtsdebatte im Eigeninteresse der Großparteien und die Angst des Kanzlers vor dem späten Wahltermin.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    In der Wahlrechtsfrage heißt die Entscheidung der Mehrheit dieses Hauses: „Die Fünfprozentklausel hat sich ungeheuer gut bewährt." Außer den Argumenten, die wir schon genannt haben, möchte ich sagen, daß auch dieser Satz ein Satz aus der Binnensicht einer politischen Klasse ist, die sich sehr weit vom wirklichen Leben entfernt hat. Die Fünfprozentklausel hat sich für die bewährt, die im Parlament waren. Das ist wahr. Uns aber z. B., die wir künstlich 20 Jahre unseres Lebens außerhalb des Parlaments in einer außerparlamentarischen Opposition gehalten wurden, hat sie immer in unserem berechtigten Anspruch
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17401
    Frau Dr. Vollmer
    auf Mitgestaltung der Politik in diesem Hause beschränkt.

    (Hornung [CDU/CSU]: Gestaltung nennen Sie das?)

    Ich glaube, daß vieles in dieser Republik in den 60er und 70er Jahren ganz anders gelaufen wäre, wenn es damals eine Möglichkeit gegeben hätte, die außerparlamentarischen Debatten in dieses Parlament hineinzutragen. Die parlamentarische Debatte nämlich ist per se auf Gewaltfreiheit verpflichtet und nötigt zum Konsens und überhaupt zur gegenseitigen Kenntnisnahme. Die außerparlamentarische Diskussion hat eine eigene, und zwar möglicherweise gefährliche und gewaltsame Dynamik. Ich habe große Sorge: Wenn das, was in der DDR jetzt außerhalb des Parlaments passiert, wenn die Wut, die Ohnmacht und der Identitätsverlust überhaupt nicht mehr oder nur noch geschwächt im Parlament erscheinen können, frage ich: Wo landet dann diese Wut? Aus diesem Grunde sind wir ganz entschiedene Gegner der Fünfprozentklausel.
    Wir sind auch Gegner des frühen Wahltermins. Wenn die deutsche Einigung ein Wettrennen wäre, dann hätten Helmut Kohl und Lothar de Maizière jetzt schon gewonnen. Für Helmut Kohl scheint das ganz einfach: Immer war der, der die Einheit nicht so wollte, wie er sie wollte, ein Gegner der Einheit. Immer war der, der die Einheit in einem anderen Tempo wollte, als er sie wollte, ein Gegner der Einheit. Diese Demagogie hat ja auch nicht schlecht funktioniert — bisher. Machtpolitische Erfolge kann man dem Kanzler wirklich nicht absprechen. Aber mit seiner Wahlterminpeitsche hat er, so glaube ich, seine demagogische Methode jetzt eindeutig überrissen. Das merken auch die Leute, das merkt auch die Presse.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

    Daß einer wegen sechs Wochen Differenz in der Frage des Wahltermins zum Einheitsgegner degradiert werden kann, der die Interessen der Menschen nicht achten will, glaubt nun wirklich niemand mehr. Es glaubt auch niemand die Krokodilstränen in bezug auf die Beteiligung der Parlamentarier, wenn man sich anguckt, wie Sie es verstanden haben, die Parlamentarier immer aus der Mitgestaltung herauszuhalten.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

    Aber das positive Ergebnis der letzten Tage ist, daß Helmut Kohl unfreiwillig damit seinen Hauptgegner Oskar Lafontaine wieder in Stellung gebracht hat. Das, Oskar Lafontaine, ist ja immerhin ein Fortschritt. Der Kampf der Giganten findet also doch statt, sozusagen zwischen Helmut Kohl in der Strickjacke und Oskar Lafontaine im Nahkampfanzug, im Jogginganzug.

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Mein Gott, so ein Niveau!)

    Aber wenn ich die beiden so kämpfen sehe, frage ich mich: Reicht das? Es ist ja richtig und wichtig, den am Mantel der Geschichte baumelnden Kanzler wieder und wieder an die sozialen Folgen seiner Form der
    nationalen Einigung zu erinnern. Aber reicht es gegen den historisierenden, sich für Bismarck haltenden Kanzler, immer nur an die ökonomische Vernunft und an das ökonomische Eigeninteresse zu appellieren?
    Wir haben drei Gründe gegen den frühen Wahltermin. Erstens. Der Wahlkampf um die Einrichtung der Länder in der DDR darf nicht unter den Stiefel dieses Gigantenkampfes kommen. Die Länder werden für die Zukunft der DDR von außerordentlicher Bedeutung sein. Hier besteht die Möglichkeit, eine eigene Interessenvertretung gegenüber der übermächtigen Bundesrepublik zu wählen. Hier besteht auch die Möglichkeit, der DDR-eigenen Geschichte eben nicht durch die schnelle Flucht in die neue BRD-Identität, die keine Geschichte kennt, auszuweichen. Der Aufbau des Föderalismus in der DDR ist ein konkreter Beitrag dafür, daß die größere Macht des größeren Deutschland durch Machtdezentralisation humanisiert wird. So viel Zeit muß sein.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Zweitens sind wir gegen den frühen Wahltermin, weil es die Fairneß und auch der Respekt vor den Verhandlungspartnern der Zwei-plus-Vier-Gespräche erfordern, daß mit ihnen in Ruhe und ohne vollendete Fakten verhandelt wird. Schon jetzt fühlen sich die sowjetische Öffentlichkeit und die politische Führung von dem nochmaligen Tempomachen des Kanzlers zu Recht düpiert.

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)

    Drittens sind wir gegen einen frühen Wahltermin, weil wir in diesem Fall — das wird Sie wundern — wirklich für einen Wahlkampf sind, der diesen Namen auch verdient. Wenn es jemals eine Zeit für einen politischen Streit über den zukünftigen Weg, den dieses neue große Deutschland gehen soll, gab, so ist diese Zeit jetzt gekommen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD)

    Die zentrale Frage in diesem Streit wird sein: Wie gehen wir mit der neuen Rolle Deutschlands als einer Weltmacht um? Genau diese Fragen stelle ich jetzt an beide Wahlkämpfer, an Helmut Kohl und an Oskar Lafontaine. Sie, Herr Bundeskanzler, verstehen es zwar glänzend, jeden neu gewonnenen Machtspielraum zu nutzen, wenn er sich auftut, manchmal sogar auch vorher; dann treten Sie sozusagen die Tür ein. Aber es scheint so, als könnten Sie nur deswegen so vorwärtsstürmen, weil Sie schon lange nichts mehr oder nicht viel mehr im Gepäck haben. Sie sind die personifizierte neue männliche deutsche Unschuld vom Lande.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)

    Sie sind das personifizierte große Ätsch der bundesrepublikanischen Rechten gegen die politische Linke. Mit der Schuld der Rechten haben Sie dank der Gnade der späten Geburt nicht mehr viel am Hut, und über die Fehler der Linken und ihre Irrtümer holen Sie sich leicht einmal den Auftrag, die nächsten tausend Jahre
    17402 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
    Frau Dr. Vollmer
    für diese Republik planen zu wollen. Ausgerechnet tausend Jahre! Was ist Ihnen da wieder eingefallen!

    (Häfner [GRÜNE]: Das ist wohl wahr! — Zuruf von der CDU/CSU: Dummes Zeug!)

    Was Ihr Extraglück ist: Bei Ihren weltpolitischen Ausflügen erleben Sie, Herr Bundeskanzler,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das sind keine Ausflüge!)

    daß wir Deutschen jetzt tatsächlich — das ist das Neue — Weltpolitik machen dürfen und daß offenbar die Welt nichts dagegen hat.
    Mich allerdings wundert es, daß es Sie nicht irritiert, daß die Welt keine Angst mehr vor den Deutschen zu haben scheint. Weil Sie das aber für so selbstverständlich halten,

    (Zuruf von der CDU/CSU: Aber vor Ihnen müssen Sie Angst haben!)

    weil Sie darüber nicht nachdenken, gerade deswegen verpassen Sie genau die Chancen, die in der jetzigen Situation liegen.
    Warum eigentlich hat die europäische Welt trotz aller Skepsis und trotz aller Ressentiments, die ja auch hochkommen, keine Ängste mehr vor dieser neuen Rolle der Deutschen? Nein, die Engländer, Franzosen und Russen haben unsere Geschichte nicht vergessen. Sie haben auch nicht den Antikommunismus der 50er Jahre vergessen oder normal gefunden. Sie haben auch nicht die spießige und muffige Atmosphäre der Adenauer-Ära vergessen.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Du heiliger Bimbam!)

    Sie haben sich auch nicht an unser Wir-sind-wiederwer-Gegröle gewöhnt. Das alles hat uns nicht vor der Geschichte rehabilitiert.
    Ich glaube, die europäische Welt hat keine Angst mehr vor den Deutschen, weil in den beiden Teilen Deutschlands sehr viel passiert ist, weil wir 1968 aufgebrochen sind, weil es eine Entspannungspolitik und eine neue Ostpolitik gegeben hat,

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das wird der Grund sein!)

    die auf Ausgleich mit dem Osten gesetzt hat, weil wir das Law-and-order-Denken herausgeblasen haben aus diesem Land und weil wir, eine andere Generation, diese deutsche Gesellschaft gründlich zivilisiert und humanisiert haben.

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Arroganter und überheblicher geht das Gerede nicht mehr!)

    Und sie hat keine Angst mehr vor uns, weil die Menschen in der DDR,

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Sie leiden an Größenwahnsinn!)

    angestoßen von den Bürgerbewegungen, eine demokratische Revolution durchgeführt haben.
    Darum ist das Bündnis von GRÜNEN und Bürgerbewegungen mehr als ein ermutigendes Beispiel für die schließlich auch bei uns eingetretene Politikfähigkeit und Einigungsfähigkeit gegenüber Ihrem barbarischen Zeitdruck.

    (Hornung [CDU/CSU]: Vor Ihnen müssen die Menschen Angst haben!)

    Es ist vielmehr das historische Bündnis derer, die die Zukunft dieses neuen Deutschlands gestalten können und auch wollen, und zwar gerade deswegen, weil wir die beiden einzelnen Teile Deutschlands schon vorher an der Basis, in der Gesellschaft tiefgreifend verändert haben. Sie, Herr Bundeskanzler, finde ich, profitieren ganz schön von den Veränderungen der Tiefenstruktur in dieser deutschen Gesellschaft, die Sie allerdings immer bekämpft haben. Sie haben da wirklich mehr Glück als Verstand gehabt, auch im Wortsinne. Das sei Ihnen gegönnt.

    (Beifall bei den GRÜNEN und bei Abgeordneten der SPD — Günther [CDU/CSU]: Machen Sie sich nicht lächerlich; das ist keine Karnevalsveranstaltung!)

    Aber jetzt geht es um die Zukunft, und für diese Zukunft können wir nicht mehr die Arbeit für Sie tun; da müssen Sie Ihren eigenen Entwurf zur Wahl stellen.
    Vaclav Havel hat vor kurzem gesagt, er halte die Vorstellung, straflos durch die Geschichte zu kommen, für eine der typischen westeuropäischen Wahnideen. Unser Kanzler scheint ein fröhlich lächelnder Anhänger genau dieser Wahnidee zu sein.

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Und Sie sind eine Märchentante!)

    Aber die Chance für eine zivile Zukunft der Deutschen liegt gerade in der Chance, die beiden Vergangenheiten, die Erfahrung der Diktatur von links und die Erfahrung der Diktatur von rechts, nie wieder aus ihrem historischen Gepäck zu entlassen, und da muß man manchmal langsamer vorangehen, wegen dieses Gepäcks.

    (Dr. Stark [Nürtingen] [CDU/CSU]: Was Historie angeht, können Sie beim Bundeskanzler in die Schule gehen!)

    Allerdings gibt es auch Anforderungen an die Opposition in einer werdenden Weltmacht. Damit komme ich nun zu Oskar Lafontaine und seiner SPD. Ihr Beharren auf dem Innenpolitischen, Oskar Lafontaine, wirkt zur Zeit noch so, als wollten Sie sich den neuen internationalen Aufgaben einer deutschen Weltmacht gar nicht stellen. Ich fordere Sie deswegen auf, in diesem Parlament sehr schnell eine außenpolitische Rede nachzureichen.

    (Lachen bei der CDU/CSU — Kraus [CDU/ CSU]: Brutale Drohungen!)

    Alles, was wir jetzt als Regierung und auch als Opposition in einer Weltmacht in unserer neuen Rolle tun, wird innen wie außen als Testfall für die Zukunft ausgelegt. Unser Umgang mit der DDR ist ein Testfall für unsere neue Rolle als europäische Führungsmacht. Daran, wie wir jetzt mit der DDR umgehen, wie wir ihre ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme gestalten, werden die Polen, die Tschechen und die Russen ihre eigene Zukunft ablesen. Deswegen gucken sie so genau hin. Man wird sich z. B. fra-
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17403
    Frau Dr. Vollmer
    gen: Werden die Deutschen ökologisch eine Vorreiter- bzw. Vorreiterinnenrolle annehmen, wie sie es bereits mit der ersten Ausprägung einer ökologischen Partei getan haben?
    Ich will versuchen, die Chancen und das, was man falsch machen kann, am Beispiel der Landwirtschaft zu erklären. Meine feste Überzeugung ist: Der Stalinismus hätte ohne die Zwangskollektivierung der russischen Bauern niemals siegen können. Mit dieser Zwangskollektivierung wurden sowohl die traditionelle dörfliche Demokratie zerstört wie auch die föderalistische Selbstbehauptung der Regionen und die langfristige ökologische Überlebensfähigkeit des russischen Landes.
    Wir haben nun als Testfall für das, was wir an Zukunftsideen leisten können, in diesen Monaten die Wahl, ob wir, was die Landwirtschaft in der DDR angeht, die sozialistischen Zwangsgroßstrukturen, die schon den Junkerstrukturen gefolgt sind, wiederum in die industriellen Monokulturen nach EG-Norm überführen, mit denen wir dann den kleinen bäuerlichen Strukturen im Westen den Garaus machen — diese Funktion hatte die Landwirtschaft im Osten gegenüber dem Westen immer — , oder ob wir gerade in der Möglichkeit der Neugestaltung eine Chance für eine umweltverträgliche, arbeitsintensive und ökologische Landwirtschaft sehen, die gleichzeitig einen Beitrag zur Lösung der sozialen Probleme und zur Demokratisierung des Landes leisten würde.
    Ließen Sie uns nur machen. Wir sind mit unseren Freunden aus der Agraropposition so weit, daß wir in kürzester Zeit ein Konzept für eine solche Demokratisierung und einen ökologischen Neuaufbau des Landes erarbeiten könnten, worauf der Bauernsohn Michail Gorbatschow mit äußerstem Interesse blicken würde.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Nehmen wir ein anderes Beispiel. Die Verzweiflung in der Volkskammer der DDR beweist, daß der ökonomische und soziale Zusammenbruch in der DDR viel tiefer ist, als die Regierung zugeben mag. Genau genommen beweist auch die Hetze von Herrn Kohl jetzt, daß er das sehr genau weiß. Darin liegt offensichtlich auch seine wachsende Nervosität begründet.
    Diese verzweifelte Lage kann man natürlich als schwarze Pädagogik für ein vom Sozialismus falsch erzogenes Volk benutzen; das höre ich immer so heraus. Will man denn die Menschen in der DDR Mores lehren? Will man ihnen die kapitalistischen Sitten mit dem Knüppel der sozialen Entwürdigung beibringen? Diese schwarze Pädagogik scheint mir der heimliche Ratgeber der Regierung zu sein.

    (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Wir sind hier doch nicht im Narrentheater!)

    Die schnelle Währungsunion war die teuerste Lösung, die man sich denken konnte; wir haben dies immer und immer wieder gesagt. Die Liquidation von 80 % der DDR-Betriebe binnen Jahresfrist kann wohl auch nicht der Ökonomie letzter Schluß sein. Jetzt endlich kommt auch unser Wirtschaftsminister darauf,
    einmal seinen schönen Kopf anzustrengen. Das alles ist nicht nur zynisch, es ist auch sozusagen komplett antikapitalistisch; denn was ist ein Kapitalismus ohne Eigeninitiative, ohne mutige Menschen, ohne Arbeiter, die mit Engagement an die Arbeit gehen?
    Was erleben wir aber in der DDR? Erleben wir dort mutige, entschlossene, risikobereite Menschen? Leider nicht. Woher sollten sie eigentlich auch unter den von der Bundesregierung gegebenen Bedingungen kommen? Wer in der DDR noch vor einigen Monaten Mut und Kraft hatte — ich kenne viele solcher Menschen —, die Ärmel hochzukrempeln und anzupakken, der weiß doch heute überhaupt nicht mehr, wo er eigentlich anpacken soll. Die Menschen gehen in ihre Betriebe, ohne zu wissen, ob diese morgen noch existieren. Sie stellen Waren her, von denen sie nicht wissen, ob sie überhaupt jemand braucht. Dieser Kapitalismus, Herr Kohl und Herr Lambsdorff, riecht nach ganz etwas anderem: Dieser Kapitalismus riecht verdammt nach Sozialismus und lebensferner Kommandowirtschaft.

    (Zustimmung bei den GRÜNEN)

    Dieser Sozialismus mit kapitalistischem Antlitz kann uns noch teuer zu stehen kommen.
    Also wendet sich der besorgte Blick von dem ratlosen Wirtschaftsminister Haussmann zum Finanzminister der BRD, Waigel. Aber der scheint seine Sprache ganz und gar verloren zu haben — das hat man heute auch an seiner Rede gemerkt — und sagt immer nur „njet" . Also warten wir alle auf das erlösende Kanzlerwort. Der wiederum schlägt einen Kassensturz vor. Man höre und staune: einen Kassensturz, und einen Haushalt soll es auch nicht geben. Ja, ist Deutschland denn eine Pommesbude?

    (Heiterkeit und Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Geht es hier um den zukunftsplanerischen Einsatz von Milliarden, wonach man ja wohl einmal fragen darf, oder geht es hier einfach nur um die Mannschaftskasse einer Regierung?

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD — Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind ein Spruchbeutel!)

    Die einzige Lösung von Helmut Kohl heißt dann immer wieder: Laßt mich nur machen. — Auch Herr Lambsdorff hat ja heute einen tollen Rat gegeben. Er hat gesagt: Die Psychologie muß her. — Herr Lambsdorff als psychologischer Hoffnungsträger, das, finde ich, ist tatsächlich eine Rollenfehlbesetzung.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

    Es fehlt also ein Programm, ein Konzept. Das finde ich in Ihrem leeren Kopf nicht. Die Wahl bringt kein einziges Investitionsprogramm. Das muß man nämlich vorher machen, und dann muß man die Leute fragen, ob sie es wählen wollen. Die Wähler können Ihnen, Herr Bundeskanzler, diesen Rat gerade nicht geben. Sie können Ihnen vieles geben, aber sie können Ihnen kein Konzept für die Zukunft geben, sei es nun für die zukünftige Rolle dieses Landes angesichts der Ströme von Millionen von Flüchtlingen, die aus Osteuropa kommen, sei es für die zukünftige Rolle dieses Landes
    17404 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
    Frau Dr. Vollmer
    in Konflikten, wie sie im Irak bestehen. Dahinter sehe ich einen drohenden gefährlichen Konflikt zwischen der ganzen westlichen Welt und dem islamischen Fundamentalismus, in dem wir uns — wider die Lehren der Geschichte — wieder neue Ordnungsaufgaben anmaßen könnten.
    Die Wahl bringt auch kein einziges Konzept, wie der eigentlich notwendige historische Kompromiß mit der Sowjetunion zu gewährleisten ist, ohne auf den totalen Zusammenbruch ganz Osteuropas zu setzen.

    (Dr. Langner [CDU/CSU]: Haben Sie im Juli geschlafen?)

    „Hab die Teile in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band." Ich denke, meine Damen und Herren, die Kanzlermaschine ist inhaltlich schon heftig am Stottern.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sie sind am Labern!)

    Deswegen möchte ich mich lieber auf eine neue Generation von Politikerinnen und Politikern berufen, die schon Erfahrung in der Umgestaltung eines Unterbaus der Gesellschaft haben. Ich finde, unsere Lehrzeit bei dieser Gestaltung des Unterbaus hat lange genug gedauert. Ich traue es uns zu, das neue geistige Band und das neue Konzept für eine Rolle der Deutschen in Mitteleuropa, die nicht mehr triumphierend ist, darzustellen. Ich traue es uns auch zu zu regieren. Ich bin zuversichtlich, daß die GRÜNEN und die Bürgerbewegung dieser Republik Ihnen in dieser Richtung inhaltlich-konzeptionell noch Beine für den überfälligen Wechsel der Generationen und der Regierung machen werden. Aber dazu brauchen wir vorderhand noch die SPD.

    (Lachen und Zurufe von der SPD)

    —Das muß ich sagen: Oskar Lafontaine, Ihre SPD macht mir im Augenblick noch etwas Sorgen.

    (Beifall bei den GRÜNEN)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Rühe.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Volker Rühe


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Dies ist die erste Sitzung des Deutschen Bundestages nach dem historischen Verhandlungserfolg von Moskau und Kaukasus. Für mich ist es deswegen selbstverständlich, ein Wort des Dankes an den Bundeskanzler, den Außenminister, die ganze Regierung für diesen großartigen Erfolg für alle Deutschen an den Anfang zu stellen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir als Bundestag müssen uns im übrigen auch selbstkritisch fragen, ob wir nicht manchmal den Wald vor lauter Bäumen nicht mehr sehen. Ich kann mir kaum ein anderes Parlament auf der ganzen Welt vorstellen, in dem eine Regierung ein solches Verhandlungsergebnis vorlegt, das ein Jahrhundertergebnis ist, und in dem man darüber kein Wort verliert, sondern sich sogleich anderen, scheinbar wichtigeren Fragen zuwendet.

    (Zuruf von der SPD: Warum hat der Kanzler hier nicht gesprochen?)

    Nein, das ist das eigentliche Ereignis der letzten Wochen. Hiermit ist der Weg für ein freies und souveränes Deutschland freigemacht worden. Dafür sind wir dankbar.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir sind auch den Verbündeten dankbar, ohne die das nicht möglich gewesen wäre. Dankbar sind wir auch — ich finde, man muß sich immer in die Lage des anderen hineinversetzen — Michail Gorbatschow, der großen persönlichen Mut brauchte, um den Weg für dieses Verhandlungsergebnis freizumachen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Manche haben so getan, als ob die Wiederherstellung der staatlichen Einheit ein purer Egoismus der Deutschen wäre. Schauen Sie sich doch einmal die jetzige Weltlage an! Daß die Sowjetunion und die Vereinigten Staaten kooperieren, um den Frieden und das Recht im Mittleren Osten wiederherzustellen, wäre undenkbar gewesen, wenn nicht auch wir einen Beitrag geleistet hätten, damit sie zusammenarbeiten können.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Theo Waigel hat schon viel zur Rede von Herrn Lafontaine gesagt. Eines ist mir aufgefallen, Herr Lafontaine. Ich habe im Deutschen Bundestag seit Jahren keine Rede mehr gehört, in der so häufig das Wort „Täuschung" verwendet worden wäre.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Seien Sie vorsichtig! Sie müssen sich einmal fragen, wie das auf die Menschen in der DDR und in der Bundesrepublik wirkt. Ich muß Ihnen sagen — das zeigen die Ereignisse der letzten Wochen und Monate — : Es gibt in diesem Hause niemanden, zu dem die Menschen in ganz Deutschland mehr Vertrauen hätten als zu Helmut Kohl, unserem Bundeskanzler.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der SPD: Das wird sich rasch ändern!)

    Herr Lafontaine, Sie werden mit vielen Attributen in Zusammenhang gebracht: Einfallsreichtum, junge Generation, Wendigkeit usw. Aber im Zusammenhang mit Ihnen ist niemals von Berechenbarkeit, Geradlinigkeit und Vertrauen die Rede. Und diese Eigenschaften werden in dieser Situation gebraucht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Im übrigen — ich muß sagen, daß mir das nicht gefallen hat; ich will das in aller Ruhe sagen — haben Sie, so wie Sie den Bundeskanzler und uns angegriffen haben, immer den Eindruck erweckt, als ob Sie selbst von einer besonders hohen moralischen Position aus sprächen. Ich muß Sie daran erinnern, wie Sie schon mit dem Bundeskanzler Helmut Schmidt umgegangen sind,

    (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Sehr wahr!)

    was dessen Sekundärtugenden angeht. Ich muß Sie auch daran erinnern, daß Sie, bevor wir durch die Währungsunion den Weg dafür freigemacht haben, daß man in der DDR seine Zukunft finden kann, und wir damit die Übersiedlerwelle gestoppt haben, unsere Sorge und unsere Fürsorge für Übersiedler und
    Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17405
    Rühe
    Aussiedler als Deutschtümelei bezeichnet haben. Das sagt alles über Ihre moralische Position.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich will nicht so viel zitieren wie Sie, Herr Lafontaine.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Er hört noch nicht einmal zu!)

    — Vielleicht hört er mal einen Augenblick zu. — Ich kann ruhig noch etwas warten.
    Ich möchte Helmut Schmidt zitieren. Er hat am 15. September 1989 in der „Zeit" folgendes geschrieben:
    Wer heute solche Menschen
    — die Übersiedler —
    abwehren will, der irrt sich sowohl über unsere Rechtsordnung als auch über seine eigene Moral. Er hat unrecht, wenn er andere der Deutschtümelei zeiht, die jene Solidarität zwischen Angehörigen desselben Volkes fortführen wollen, welche uns seit Kriegsende selbstverständlich gewesen ist.
    Soweit Helmut Schmidt. — Herr Lafontaine, ich fürchte, Sie irren sich schon wieder über Ihre eigene Moral, da Sie alles darauf abstellen, daß Sie sich parteitaktische Vorteile davon versprechen, daß die Situation für die Menschen in der DDR schlechter wird, damit es Ihnen besser geht.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Um auf Schwierigkeiten im Prozeß der deutschen Einigung hinzuweisen, braucht man keinen Kanzlerkandidaten. Nur auf Schwierigkeiten hinzuweisen und Ängste zu schüren ist kein Zeichen von Führungskraft. Wer ein Führungsamt in der Demokratie anstrebt, muß auch Chancen erkennen. Er muß den Menschen durch eine klare politische Alternative einen Weg zeigen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Jetzt lassen Sie mich noch ein ruhiges Wort zu der Chance, die wir haben, einen früheren Beitritt als den am 2. Dezember, aber in Verbindung mit Wahlen, zu erreichen, sagen. Ich frage einmal: Wo wären wir denn, wenn der Bundeskanzler und der Außenminister nicht das Verhandlungsergebnis in Moskau erzielt hätten? Wir könnten doch gar nicht darüber reden, daß wir einen früheren Beitritt herbeiführen können. Wir waren uns doch immer einig, daß das der richtige Weg ist.
    Sie haben in der Vergangenheit im Zusammenhang mit dem Beitritt sogar eine Volksabstimmung gefordert.

    (Beifall des Abg. Häfner [GRÜNE))

    Ich will Ihnen, Herr Lafontaine, ein Zitat von Ihnen selbst doch nicht ersparen. Es stammt aus einem Interview des Westdeutschen Rundfunks vom 6. März dieses Jahres. Auf die Frage nach der Wiedervereinigung Deutschlands haben Sie gesagt:
    Es geht darum, inwieweit die Bevölkerung beteiligt wird bei dieser Frage. Man muß erkennen,
    daß es darum geht, die Bevölkerung zu beteiligen, und in diesem Fall nicht nur die Bevölkerung der DDR, sondern auch die Bevölkerung der Bundesrepublik. Für mich ist das Entscheidende, daß sich dieser Prozeß eben nach einer demokratischen Vorgabe vollzieht und daß nicht jemand, der zufällig im Amt ist und in diesem Fall etwa der Bundeskanzler, der ja für diese Politik, die er jetzt einschlägt, kein Mandat hat.
    Soweit Oskar Lafontaine.
    Also, ich bestreite, daß der Bundeskanzler zufällig im Amt ist. Aber ansonsten haben Sie recht: Wir wollen ein neues Mandat von allen Bürgern in ganz Deutschland.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Bundesregierung ist dabei, den grundgesetzlichen Auftrag zur Vollendung der Einheit Deutschlands zu erfüllen. Es bedarf nun einer letzten entscheidenden Amtshandlung durch diesen Bundestag, um nach erfolgtem Beitritt der DDR unverzüglich eine handlungsfähige gesamtdeutsche Regierung zu bilden. Ich meine, daß es diesem historischen Augenblick durchaus angemessen wäre, durch eine Zweidrittelmehrheit dafür zu sorgen, daß alle deutschen Demokraten diese erste gesamtdeutsche Regierung bilden können.
    Ich appelliere an Ihren Patriotismus, daß wir diese Chance zu einem frühestmöglichen Beitritt in Verbindung mit Wahlen nutzen. Diese Chance gibt es, und wir sollten sie gemeinsam nutzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Herr Lafontaine, als der Bundeskanzler in Moskau war, haben Sie zeitgleich hier auf einer Pressekonferenz erklärt: Die Bundesrepublik macht unbedachte Außenpolitik. — Ja, er nickt; er bestätigt es. Das hat er auch gesagt.
    Sie haben den Mangel an Einklang und Abstimmung mit den Nachbarn kritisiert. Als Beleg haben Sie den unglückseligen englischen Minister Ridley zitiert, als Beleg dafür, daß die Politik von Kohl und Genscher international nicht abgestimmt ist. Auf welchem Niveau sind Sie eigentlich außenpolitisch gelandet, Herr Lafontaine?!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Mit der deutschen Einheit wird eine Vision Wirklichkeit. Der Bundeskanzler hat es geschafft, die deutsche Einigung als europäisches Werk anzugehen und sie europäisch einzubetten. Er hat es geschafft, die Zustimmung der Sowjets zu bekommen und gleichzeitig das Vertrauen der Amerikaner zu behalten.
    Er hat es auch geschafft, den Terminkalender, den wir innerdeutsch brauchen, um die Einheit herbeizuführen, mit dem auswärtigen Terminkalender zu koordinieren.
    Herr Lafontaine, an eines muß ich hier doch noch einmal erinnern, damit klar wird, daß das nicht alles von alleine gekommen ist. Sie und andere waren doch bereit, auf frühe sowjetische Verhandlungspositionen einzugehen und abzuschließen. So wollten Sie etwa auf die sowjetische Forderung eingehen, daß wir einen besonderen Status in der NATO nur politisch und
    17406 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
    Ruhe
    nicht militärisch haben müßten, wenn wir in der NATO bleiben sollten.
    Ich will gar nicht von Herrn Meckel von der SPD drüben reden, der die Sowjets dafür kritisiert hat, daß sie auf dieser Basis abgeschlossen haben und daß man die Abrüstung nicht noch weiter vorangetrieben hat.
    Nein, ich muß Ihnen sagen, wir wollen, daß dieser Bundeskanzler und diese Bundesregierung ihre erfolgreiche Politik für die Vereinigung Deutschlands und Europas fortsetzen können. Wir bitten um die Schaffung der Voraussetzungen dafür.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es ist schon genug darüber gesagt worden, daß die Schwierigkeiten beim Übergang zur Einheit unvermeidlich sind. Ich finde, wir sollten auch nicht darüber streiten, ob es schwer ist, die deutsche Einheit herbeizuführen. Natürlich ist das schwer, sehr schwer sogar. Ich halte das übrigens für schwerer — ich hoffe, ich bin da gerecht — als den Neuanfang in der Bundesrepublik. Die Generation damals konnte nämlich bei Null anfangen. Es ist leichter, ein Haus ganz neu zu bauen, als zwei Häuser zusammenzufügen. — Also, natürlich ist dies schwer.
    Aber wir müssen doch darüber streiten, mit welcher Politik und von wem diese Schwierigkeiten am besten beseitigt werden können.
    Herr Lafontaine, da kann ich Sie nur warnen; denn wenn Sie darauf hoffen, daß sich Ihre Wahlchancen dadurch verbessern, daß es den Menschen in der DDR schlechter geht, dann kann ich Ihnen nur sagen: Eine weit überwiegende Mehrheit unserer Landsleute in Ost und West sagt: Die Union, diese Regierung hat die entscheidende Wirtschaftskompetenz. Also, auch wenn es schwierig wird, gerade wenn es schwierig wird, wird man die Partei wählen, die am besten mit den Schwierigkeiten fertig wird. Das ist doch der Punkt, über den wir gemeinsam reden müssen.
    Ich finde im übrigen, wir sollten in der Debatte das Positive nicht zu kurz kommen lassen. Auch da gilt das Bild von dem Wald und den Bäumen. Sie alle haben doch unsere Landsleute in diesem Sommer erlebt. Vor einem Jahr waren sie noch eingesperrt, heute können sie sich zu Millionen frei bewegen. Auch darüber muß doch im Bundestag gesprochen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    In der „Zeit" ist vor wenigen Tagen ein Artikel von Joachim Nawrocki erschienen. Er zitiert einen SPD-Bürgermeister: „Die bedeutenden Veränderungen zum Guten werden von den meisten kaum noch wahrgenommen." Ich finde, auch das gehört in diese Debatte hinein. Es wird dort weiter erklärt: „Der bescheidene Lebensstandard" der DDR, den es gegeben hat, „wurde finanziert durch einen wahnwitzigen Raubbau an Straßen, Schienen, Gebäuden, Fabriken und — vor allem — an der Umwelt und der Gesundheit der Bevölkerung." Arbeitslosigkeit, Kurzarbeit, Zukunftsängste, öffentliche Armut seien Probleme für die Bürger. „Aber sie kommen keineswegs unerwartet, und sie werden vor allem Übergangserscheinungen bleiben. Ohne die Wende jedoch wäre die DDR-Wirtschaft unheilbar kollabiert und an ihrem eigenen
    Dreck erstickt. Mit jedem Tag wäre der Schaden größer geworden. " — Das sage ich zu Ihnen, da Sie immer erklärt haben, wir hätten zu schnell gemacht. Nein, es zeigt sich jetzt: Man muß noch schneller machen. Wenn wir Ihnen gefolgt wären, dann wären wir im deutschen Einigungsprozeß im Abseits gelandet.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich finde, wir sollten mit dieser Debatte unseren Bürgern signalisieren, daß wir alles tun, um auf diesem nicht einfachen Weg die Schwierigkeiten zu lösen. Aber wir sollten ihnen auch signalisieren — das müssen wir übrigens ebenfalls den Deutschen in der Bundesrepublik sagen —, daß wir allen Grund haben, uns auf Deutschland zu freuen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Lieber Oskar Lafontaine, dies als letzte Bemerkung zu Ihrer Rede: Ich habe eben völlig das Gefühl vermißt, daß dort jemand ist, der sich darauf freut, daß Deutschland jetzt wiedervereinigt wird, daß die Menschen zusammenfinden können. Deswegen fürchte ich, daß Sie mit dieser Rede das Urteil der „Zeit" und auch des „Stern" sowie anderer bestätigt haben, die erklärt haben: Was immer man über Sie sagen kann, aber Sie sind der falsche Mann zur falschen Zeit.
    Jetzt geht es darum, die Menschen zusammenzuführen, Deutschland zusammenzuführen. Das kann man nur, wenn man ein Herz für Deutschland hat, Oskar Lafontaine.

    (Anhaltender lebhafter Beifall bei der CDU/ CSU und der FDP)