Jetzt kommt wieder eine kleine Partei, allerdings die kleine Partei mit den zukünftig größten Wachstumschancen.
Da wir schon bei den Kleinen sind: Herr Bundeskanzler, ich finde, es gibt auch parlamentarische Stilfragen. Irgendwann müssen Sie in diesem Haus auch auf ihren Herausforderer antworten. Sie können nicht immer die kleinen Redner Waigel und Rühe vorschikken.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wenn ich mir die beiden noch getrennten Teile Deutschlands angucke, die nun zusammenwachsen sollen, fällt mir diesmal nicht der Fußball ein, sondern „Faust". Mephisto:
Ihr habt die Teile in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band.
Es muß wohl mit dem fehlenden geistigen Band zu tun haben, daß die Teile des Vaterlandes im Augenblick heftig, dramatisch und drastisch auseinanderdriften. Auch ist die Aufteilung zwischen beiden Teilen, wie ich finde, sehr, sehr ungerecht: Boom hier auf unserer Seite, Exportboom ohnegleichen, aber wachsende wirtschaftliche Verzweiflung und Koma in der DDR. Während in der DDR die Tragödie wächst, steigt hier bei uns die Burleske, auch im Bundestag. An der Lösung dieser Tragödie, finde ich, hat sich der Deutsche Bundestag nur sehr mäßig beteiligt. Mitten in der schärfsten Phase des Anwachsens der DDR-Probleme genehmigt sich der Bundestag zwei Monate Urlaubspause, ganz anders als die Volkskammer.
Ich finde, es ist kein gutes Zeichen für die politische Klasse eines Landes, welche die Parteien ja auch darstellen, wenn sie sich selbst so für überflüssig erklären. Ich glaube, daß es später einmal niemand mehr verstehen wird, daß uns aus unserer Sommerpause diesmal nicht die Debatte z. B. über die wachsende Arbeitslosigkeit, über die Wohnungsnot, über die verzweifelte Lage der Frauen und der Bauern in der DDR geholt hat, sondern nur diese Groteske einer Wahlrechtsdebatte im Eigeninteresse der Großparteien und die Angst des Kanzlers vor dem späten Wahltermin.
In der Wahlrechtsfrage heißt die Entscheidung der Mehrheit dieses Hauses: „Die Fünfprozentklausel hat sich ungeheuer gut bewährt." Außer den Argumenten, die wir schon genannt haben, möchte ich sagen, daß auch dieser Satz ein Satz aus der Binnensicht einer politischen Klasse ist, die sich sehr weit vom wirklichen Leben entfernt hat. Die Fünfprozentklausel hat sich für die bewährt, die im Parlament waren. Das ist wahr. Uns aber z. B., die wir künstlich 20 Jahre unseres Lebens außerhalb des Parlaments in einer außerparlamentarischen Opposition gehalten wurden, hat sie immer in unserem berechtigten Anspruch
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17401
Frau Dr. Vollmer
auf Mitgestaltung der Politik in diesem Hause beschränkt.
Ich glaube, daß vieles in dieser Republik in den 60er und 70er Jahren ganz anders gelaufen wäre, wenn es damals eine Möglichkeit gegeben hätte, die außerparlamentarischen Debatten in dieses Parlament hineinzutragen. Die parlamentarische Debatte nämlich ist per se auf Gewaltfreiheit verpflichtet und nötigt zum Konsens und überhaupt zur gegenseitigen Kenntnisnahme. Die außerparlamentarische Diskussion hat eine eigene, und zwar möglicherweise gefährliche und gewaltsame Dynamik. Ich habe große Sorge: Wenn das, was in der DDR jetzt außerhalb des Parlaments passiert, wenn die Wut, die Ohnmacht und der Identitätsverlust überhaupt nicht mehr oder nur noch geschwächt im Parlament erscheinen können, frage ich: Wo landet dann diese Wut? Aus diesem Grunde sind wir ganz entschiedene Gegner der Fünfprozentklausel.
Wir sind auch Gegner des frühen Wahltermins. Wenn die deutsche Einigung ein Wettrennen wäre, dann hätten Helmut Kohl und Lothar de Maizière jetzt schon gewonnen. Für Helmut Kohl scheint das ganz einfach: Immer war der, der die Einheit nicht so wollte, wie er sie wollte, ein Gegner der Einheit. Immer war der, der die Einheit in einem anderen Tempo wollte, als er sie wollte, ein Gegner der Einheit. Diese Demagogie hat ja auch nicht schlecht funktioniert — bisher. Machtpolitische Erfolge kann man dem Kanzler wirklich nicht absprechen. Aber mit seiner Wahlterminpeitsche hat er, so glaube ich, seine demagogische Methode jetzt eindeutig überrissen. Das merken auch die Leute, das merkt auch die Presse.
Daß einer wegen sechs Wochen Differenz in der Frage des Wahltermins zum Einheitsgegner degradiert werden kann, der die Interessen der Menschen nicht achten will, glaubt nun wirklich niemand mehr. Es glaubt auch niemand die Krokodilstränen in bezug auf die Beteiligung der Parlamentarier, wenn man sich anguckt, wie Sie es verstanden haben, die Parlamentarier immer aus der Mitgestaltung herauszuhalten.
Aber das positive Ergebnis der letzten Tage ist, daß Helmut Kohl unfreiwillig damit seinen Hauptgegner Oskar Lafontaine wieder in Stellung gebracht hat. Das, Oskar Lafontaine, ist ja immerhin ein Fortschritt. Der Kampf der Giganten findet also doch statt, sozusagen zwischen Helmut Kohl in der Strickjacke und Oskar Lafontaine im Nahkampfanzug, im Jogginganzug.
Aber wenn ich die beiden so kämpfen sehe, frage ich mich: Reicht das? Es ist ja richtig und wichtig, den am Mantel der Geschichte baumelnden Kanzler wieder und wieder an die sozialen Folgen seiner Form der
nationalen Einigung zu erinnern. Aber reicht es gegen den historisierenden, sich für Bismarck haltenden Kanzler, immer nur an die ökonomische Vernunft und an das ökonomische Eigeninteresse zu appellieren?
Wir haben drei Gründe gegen den frühen Wahltermin. Erstens. Der Wahlkampf um die Einrichtung der Länder in der DDR darf nicht unter den Stiefel dieses Gigantenkampfes kommen. Die Länder werden für die Zukunft der DDR von außerordentlicher Bedeutung sein. Hier besteht die Möglichkeit, eine eigene Interessenvertretung gegenüber der übermächtigen Bundesrepublik zu wählen. Hier besteht auch die Möglichkeit, der DDR-eigenen Geschichte eben nicht durch die schnelle Flucht in die neue BRD-Identität, die keine Geschichte kennt, auszuweichen. Der Aufbau des Föderalismus in der DDR ist ein konkreter Beitrag dafür, daß die größere Macht des größeren Deutschland durch Machtdezentralisation humanisiert wird. So viel Zeit muß sein.
Zweitens sind wir gegen den frühen Wahltermin, weil es die Fairneß und auch der Respekt vor den Verhandlungspartnern der Zwei-plus-Vier-Gespräche erfordern, daß mit ihnen in Ruhe und ohne vollendete Fakten verhandelt wird. Schon jetzt fühlen sich die sowjetische Öffentlichkeit und die politische Führung von dem nochmaligen Tempomachen des Kanzlers zu Recht düpiert.
Drittens sind wir gegen einen frühen Wahltermin, weil wir in diesem Fall — das wird Sie wundern — wirklich für einen Wahlkampf sind, der diesen Namen auch verdient. Wenn es jemals eine Zeit für einen politischen Streit über den zukünftigen Weg, den dieses neue große Deutschland gehen soll, gab, so ist diese Zeit jetzt gekommen.
Die zentrale Frage in diesem Streit wird sein: Wie gehen wir mit der neuen Rolle Deutschlands als einer Weltmacht um? Genau diese Fragen stelle ich jetzt an beide Wahlkämpfer, an Helmut Kohl und an Oskar Lafontaine. Sie, Herr Bundeskanzler, verstehen es zwar glänzend, jeden neu gewonnenen Machtspielraum zu nutzen, wenn er sich auftut, manchmal sogar auch vorher; dann treten Sie sozusagen die Tür ein. Aber es scheint so, als könnten Sie nur deswegen so vorwärtsstürmen, weil Sie schon lange nichts mehr oder nicht viel mehr im Gepäck haben. Sie sind die personifizierte neue männliche deutsche Unschuld vom Lande.
Sie sind das personifizierte große Ätsch der bundesrepublikanischen Rechten gegen die politische Linke. Mit der Schuld der Rechten haben Sie dank der Gnade der späten Geburt nicht mehr viel am Hut, und über die Fehler der Linken und ihre Irrtümer holen Sie sich leicht einmal den Auftrag, die nächsten tausend Jahre
17402 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
Frau Dr. Vollmer
für diese Republik planen zu wollen. Ausgerechnet tausend Jahre! Was ist Ihnen da wieder eingefallen!
Was Ihr Extraglück ist: Bei Ihren weltpolitischen Ausflügen erleben Sie, Herr Bundeskanzler,
daß wir Deutschen jetzt tatsächlich — das ist das Neue — Weltpolitik machen dürfen und daß offenbar die Welt nichts dagegen hat.
Mich allerdings wundert es, daß es Sie nicht irritiert, daß die Welt keine Angst mehr vor den Deutschen zu haben scheint. Weil Sie das aber für so selbstverständlich halten,
weil Sie darüber nicht nachdenken, gerade deswegen verpassen Sie genau die Chancen, die in der jetzigen Situation liegen.
Warum eigentlich hat die europäische Welt trotz aller Skepsis und trotz aller Ressentiments, die ja auch hochkommen, keine Ängste mehr vor dieser neuen Rolle der Deutschen? Nein, die Engländer, Franzosen und Russen haben unsere Geschichte nicht vergessen. Sie haben auch nicht den Antikommunismus der 50er Jahre vergessen oder normal gefunden. Sie haben auch nicht die spießige und muffige Atmosphäre der Adenauer-Ära vergessen.
Sie haben sich auch nicht an unser Wir-sind-wiederwer-Gegröle gewöhnt. Das alles hat uns nicht vor der Geschichte rehabilitiert.
Ich glaube, die europäische Welt hat keine Angst mehr vor den Deutschen, weil in den beiden Teilen Deutschlands sehr viel passiert ist, weil wir 1968 aufgebrochen sind, weil es eine Entspannungspolitik und eine neue Ostpolitik gegeben hat,
die auf Ausgleich mit dem Osten gesetzt hat, weil wir das Law-and-order-Denken herausgeblasen haben aus diesem Land und weil wir, eine andere Generation, diese deutsche Gesellschaft gründlich zivilisiert und humanisiert haben.
Und sie hat keine Angst mehr vor uns, weil die Menschen in der DDR,
angestoßen von den Bürgerbewegungen, eine demokratische Revolution durchgeführt haben.
Darum ist das Bündnis von GRÜNEN und Bürgerbewegungen mehr als ein ermutigendes Beispiel für die schließlich auch bei uns eingetretene Politikfähigkeit und Einigungsfähigkeit gegenüber Ihrem barbarischen Zeitdruck.
Es ist vielmehr das historische Bündnis derer, die die Zukunft dieses neuen Deutschlands gestalten können und auch wollen, und zwar gerade deswegen, weil wir die beiden einzelnen Teile Deutschlands schon vorher an der Basis, in der Gesellschaft tiefgreifend verändert haben. Sie, Herr Bundeskanzler, finde ich, profitieren ganz schön von den Veränderungen der Tiefenstruktur in dieser deutschen Gesellschaft, die Sie allerdings immer bekämpft haben. Sie haben da wirklich mehr Glück als Verstand gehabt, auch im Wortsinne. Das sei Ihnen gegönnt.
Aber jetzt geht es um die Zukunft, und für diese Zukunft können wir nicht mehr die Arbeit für Sie tun; da müssen Sie Ihren eigenen Entwurf zur Wahl stellen.
Vaclav Havel hat vor kurzem gesagt, er halte die Vorstellung, straflos durch die Geschichte zu kommen, für eine der typischen westeuropäischen Wahnideen. Unser Kanzler scheint ein fröhlich lächelnder Anhänger genau dieser Wahnidee zu sein.
Aber die Chance für eine zivile Zukunft der Deutschen liegt gerade in der Chance, die beiden Vergangenheiten, die Erfahrung der Diktatur von links und die Erfahrung der Diktatur von rechts, nie wieder aus ihrem historischen Gepäck zu entlassen, und da muß man manchmal langsamer vorangehen, wegen dieses Gepäcks.
Allerdings gibt es auch Anforderungen an die Opposition in einer werdenden Weltmacht. Damit komme ich nun zu Oskar Lafontaine und seiner SPD. Ihr Beharren auf dem Innenpolitischen, Oskar Lafontaine, wirkt zur Zeit noch so, als wollten Sie sich den neuen internationalen Aufgaben einer deutschen Weltmacht gar nicht stellen. Ich fordere Sie deswegen auf, in diesem Parlament sehr schnell eine außenpolitische Rede nachzureichen.
Alles, was wir jetzt als Regierung und auch als Opposition in einer Weltmacht in unserer neuen Rolle tun, wird innen wie außen als Testfall für die Zukunft ausgelegt. Unser Umgang mit der DDR ist ein Testfall für unsere neue Rolle als europäische Führungsmacht. Daran, wie wir jetzt mit der DDR umgehen, wie wir ihre ökonomischen, ökologischen und sozialen Probleme gestalten, werden die Polen, die Tschechen und die Russen ihre eigene Zukunft ablesen. Deswegen gucken sie so genau hin. Man wird sich z. B. fra-
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17403
Frau Dr. Vollmer
gen: Werden die Deutschen ökologisch eine Vorreiter- bzw. Vorreiterinnenrolle annehmen, wie sie es bereits mit der ersten Ausprägung einer ökologischen Partei getan haben?
Ich will versuchen, die Chancen und das, was man falsch machen kann, am Beispiel der Landwirtschaft zu erklären. Meine feste Überzeugung ist: Der Stalinismus hätte ohne die Zwangskollektivierung der russischen Bauern niemals siegen können. Mit dieser Zwangskollektivierung wurden sowohl die traditionelle dörfliche Demokratie zerstört wie auch die föderalistische Selbstbehauptung der Regionen und die langfristige ökologische Überlebensfähigkeit des russischen Landes.
Wir haben nun als Testfall für das, was wir an Zukunftsideen leisten können, in diesen Monaten die Wahl, ob wir, was die Landwirtschaft in der DDR angeht, die sozialistischen Zwangsgroßstrukturen, die schon den Junkerstrukturen gefolgt sind, wiederum in die industriellen Monokulturen nach EG-Norm überführen, mit denen wir dann den kleinen bäuerlichen Strukturen im Westen den Garaus machen — diese Funktion hatte die Landwirtschaft im Osten gegenüber dem Westen immer — , oder ob wir gerade in der Möglichkeit der Neugestaltung eine Chance für eine umweltverträgliche, arbeitsintensive und ökologische Landwirtschaft sehen, die gleichzeitig einen Beitrag zur Lösung der sozialen Probleme und zur Demokratisierung des Landes leisten würde.
Ließen Sie uns nur machen. Wir sind mit unseren Freunden aus der Agraropposition so weit, daß wir in kürzester Zeit ein Konzept für eine solche Demokratisierung und einen ökologischen Neuaufbau des Landes erarbeiten könnten, worauf der Bauernsohn Michail Gorbatschow mit äußerstem Interesse blicken würde.
Nehmen wir ein anderes Beispiel. Die Verzweiflung in der Volkskammer der DDR beweist, daß der ökonomische und soziale Zusammenbruch in der DDR viel tiefer ist, als die Regierung zugeben mag. Genau genommen beweist auch die Hetze von Herrn Kohl jetzt, daß er das sehr genau weiß. Darin liegt offensichtlich auch seine wachsende Nervosität begründet.
Diese verzweifelte Lage kann man natürlich als schwarze Pädagogik für ein vom Sozialismus falsch erzogenes Volk benutzen; das höre ich immer so heraus. Will man denn die Menschen in der DDR Mores lehren? Will man ihnen die kapitalistischen Sitten mit dem Knüppel der sozialen Entwürdigung beibringen? Diese schwarze Pädagogik scheint mir der heimliche Ratgeber der Regierung zu sein.
Die schnelle Währungsunion war die teuerste Lösung, die man sich denken konnte; wir haben dies immer und immer wieder gesagt. Die Liquidation von 80 % der DDR-Betriebe binnen Jahresfrist kann wohl auch nicht der Ökonomie letzter Schluß sein. Jetzt endlich kommt auch unser Wirtschaftsminister darauf,
einmal seinen schönen Kopf anzustrengen. Das alles ist nicht nur zynisch, es ist auch sozusagen komplett antikapitalistisch; denn was ist ein Kapitalismus ohne Eigeninitiative, ohne mutige Menschen, ohne Arbeiter, die mit Engagement an die Arbeit gehen?
Was erleben wir aber in der DDR? Erleben wir dort mutige, entschlossene, risikobereite Menschen? Leider nicht. Woher sollten sie eigentlich auch unter den von der Bundesregierung gegebenen Bedingungen kommen? Wer in der DDR noch vor einigen Monaten Mut und Kraft hatte — ich kenne viele solcher Menschen —, die Ärmel hochzukrempeln und anzupakken, der weiß doch heute überhaupt nicht mehr, wo er eigentlich anpacken soll. Die Menschen gehen in ihre Betriebe, ohne zu wissen, ob diese morgen noch existieren. Sie stellen Waren her, von denen sie nicht wissen, ob sie überhaupt jemand braucht. Dieser Kapitalismus, Herr Kohl und Herr Lambsdorff, riecht nach ganz etwas anderem: Dieser Kapitalismus riecht verdammt nach Sozialismus und lebensferner Kommandowirtschaft.
Dieser Sozialismus mit kapitalistischem Antlitz kann uns noch teuer zu stehen kommen.
Also wendet sich der besorgte Blick von dem ratlosen Wirtschaftsminister Haussmann zum Finanzminister der BRD, Waigel. Aber der scheint seine Sprache ganz und gar verloren zu haben — das hat man heute auch an seiner Rede gemerkt — und sagt immer nur „njet" . Also warten wir alle auf das erlösende Kanzlerwort. Der wiederum schlägt einen Kassensturz vor. Man höre und staune: einen Kassensturz, und einen Haushalt soll es auch nicht geben. Ja, ist Deutschland denn eine Pommesbude?
Geht es hier um den zukunftsplanerischen Einsatz von Milliarden, wonach man ja wohl einmal fragen darf, oder geht es hier einfach nur um die Mannschaftskasse einer Regierung?
Die einzige Lösung von Helmut Kohl heißt dann immer wieder: Laßt mich nur machen. — Auch Herr Lambsdorff hat ja heute einen tollen Rat gegeben. Er hat gesagt: Die Psychologie muß her. — Herr Lambsdorff als psychologischer Hoffnungsträger, das, finde ich, ist tatsächlich eine Rollenfehlbesetzung.
Es fehlt also ein Programm, ein Konzept. Das finde ich in Ihrem leeren Kopf nicht. Die Wahl bringt kein einziges Investitionsprogramm. Das muß man nämlich vorher machen, und dann muß man die Leute fragen, ob sie es wählen wollen. Die Wähler können Ihnen, Herr Bundeskanzler, diesen Rat gerade nicht geben. Sie können Ihnen vieles geben, aber sie können Ihnen kein Konzept für die Zukunft geben, sei es nun für die zukünftige Rolle dieses Landes angesichts der Ströme von Millionen von Flüchtlingen, die aus Osteuropa kommen, sei es für die zukünftige Rolle dieses Landes
17404 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
Frau Dr. Vollmer
in Konflikten, wie sie im Irak bestehen. Dahinter sehe ich einen drohenden gefährlichen Konflikt zwischen der ganzen westlichen Welt und dem islamischen Fundamentalismus, in dem wir uns — wider die Lehren der Geschichte — wieder neue Ordnungsaufgaben anmaßen könnten.
Die Wahl bringt auch kein einziges Konzept, wie der eigentlich notwendige historische Kompromiß mit der Sowjetunion zu gewährleisten ist, ohne auf den totalen Zusammenbruch ganz Osteuropas zu setzen.
„Hab die Teile in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band." Ich denke, meine Damen und Herren, die Kanzlermaschine ist inhaltlich schon heftig am Stottern.
Deswegen möchte ich mich lieber auf eine neue Generation von Politikerinnen und Politikern berufen, die schon Erfahrung in der Umgestaltung eines Unterbaus der Gesellschaft haben. Ich finde, unsere Lehrzeit bei dieser Gestaltung des Unterbaus hat lange genug gedauert. Ich traue es uns zu, das neue geistige Band und das neue Konzept für eine Rolle der Deutschen in Mitteleuropa, die nicht mehr triumphierend ist, darzustellen. Ich traue es uns auch zu zu regieren. Ich bin zuversichtlich, daß die GRÜNEN und die Bürgerbewegung dieser Republik Ihnen in dieser Richtung inhaltlich-konzeptionell noch Beine für den überfälligen Wechsel der Generationen und der Regierung machen werden. Aber dazu brauchen wir vorderhand noch die SPD.
—Das muß ich sagen: Oskar Lafontaine, Ihre SPD macht mir im Augenblick noch etwas Sorgen.