Rede von
Dr.
Theodor
Waigel
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(CSU)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Frau Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Hier ruft jemand aus der SPD, das sei die Stunde der Kleinen. Er scheint den Vorredner gemeint zu haben.
— Das kam aus Ihren Reihen; das ist nicht mein Wort.
Herr Ministerpräsident Lafontaine, wir freuen uns alle, daß Sie heute wieder genesen unter uns sind und hier sprechen konnten.
— Wer da aus Ihren Reihen Heuchler gerufen hat, der unterstellt mir etwas, was ich bei dieser Bemerkung wirklich nie gedacht habe; glauben Sie mir das.
Sie haben gemeint, uns in etwas napoleonischer Weise den Rat geben zu sollen, wir sollten uns anständig aufführen. Wie dieses Parlament sich aufführt, wie es sich gibt, wie es debattiert, das bestimmen wir. Da brauchen wir von Ihnen kein Lehrgeld, Herr Lafontaine.
Herr Ministerpräsident, wollen Sie allen Ernstes behaupten, es sei den Menschen unter Honecker, unter Krenz und unter Modrow besser gegangen als heute? Ich halte das für eine unglaubliche Unterstellung.
Den Menschen gegenüber, die damals mit einem verdeckten und versteckten Konkurs, mit einer verdeckten und versteckten Pleite, mit einer verdeckten Arbeitslosigkeit, deren Zahl damals schon mit 1,5 Millionen angegeben wurde, leben mußten, zu behaupten, das sei besser gewesen als heute, wo sie eine große
Chance für die Zukunft und für einen Neuanfang haben, das ist Demagogie.
Herr Ministerpräsident, Sie sind ein ganz schlechter finanzpolitischer Ratgeber.
Wer zur Solidarität für andere auffordert und ständig, um seinen Haushaltsnotstand zu verdecken, Milliarden vom Bund fordert, der ist kein guter Ratgeber in finanzpolitischen Angelegenheiten.
Was Ihre sehr parterre anzuhörende Bemerkung über die Fototermine anbelangt, kann ich nur sagen: besser mit gewählten Demokraten als mit früheren Diktatoren.
Schlichtweg falsch ist Ihre Behauptung, die Zinsen seien gestiegen. Sie müßten genau wissen: Bevor über den ersten Staatsvertrag überhaupt diskutiert und er verabschiedet wurde, sind sie gestiegen. Zwischenzeitlich aber sind sie zurückgegangen, weil nämlich alle Welt — OECD, IWF, Weltbank, Europäische Kommission und unsere europäischen Nachbarn —, weil die ganze Weltwirtschaft davon ausgeht: Jawohl, bei dieser glänzenden Konjunktur- und Wirtschaftslage können und werden die Deutschen die Dinge bewältigen. Die internationalen Organisationen bestätigen uns etwas, was fast im Wahlprogramm von CDU, CSU oder FDP stehen könnte: Wir haben seit 1982 eine Politik gemacht, als ob man gewußt hätte, daß 1990 die Einheit stattfindet. Eine bessere Voraussetzung, um eine Schicksalsstunde der Deutschen ökonomisch zu bewältigen, hat es seit 1948 nicht mehr gegeben.
Übrigens wäre es gut, Herr Lafontaine, Sie würden sich zunächst mit allen Ländern kurzschließen, bevor Sie Bewertungen über die Länder abgeben. Ich habe nicht den Eindruck, als ob sich z. B. Nordrhein-Westfalen oder auch andere Länder von Ihnen voll repräsentiert fühlen. Es hat von Länderseite auch Bemerkungen gegeben, sie seien noch nie zuvor an Verhandlungen so intensiv wie diesmal beteiligt worden. Auch beim Staatsvertrag, bei der Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion, haben vielfache Unterrichtungen stattgefunden. Auch Ihr Finanzminister war daran weitgehend beteiligt. Die Finanzminister von Nordrhein-Westfalen und Bayern saßen mit am Verhandlungstisch. Mehr an Angebot zur Information und zur Kooperation kann es gar nicht geben. Auch das Saarland hat dem Fonds Deutsche Einheit zugestimmt. Dann kann man nicht im nachhinein sagen, daß dadurch die Zinsen oder die
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990 17395
Bundesminister Dr. Waigel
Kapitalmärkte in irgendeiner Form tangiert worden wären.