Rede von
Gerald
Häfner
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Ich werde die Gelegenheit nutzen, inhaltlich auszuführen, wie ich dieses Wahlrecht beurteile und warum ich solche drastischen Worte wähle. — Die Wahl ist vorerst das einzige Verfahren, in dem die Bürgerinnen und Bürger ihren politischen Willen mit rechtlicher Verbindlichkeit äußern können; deshalb ist das, was wir hier machen, hochsensibel. Das Wahlrecht muß allen die gleiche Chance zur Beeinflussung des politischen Geschehens, zur Beeinflussung der Zusammensetzung der Parlamente und damit indirekt auch der Zusammensetzung der Regierung sowie allen politischen Kräften die gleiche Chance des Machterwerbs einräumen. Es ist mit dem Wahlrecht unvereinbar, wenn seine Ausgestaltung bestimmte Parteien gezielt diskriminiert und andere fördert. Genauso aber wollen die Altparteien — hier paßt das Wort wieder einmal — in einer großen Koalition von CDU/CSU, FDP und SPD das Wahlrecht dieses Mal hinbiegen.
Sie wissen auch, daß es falsch ist, wenn Sie alle hier behaupten, die Verschiebung der Beratung heute sei nur darauf zurückzuführen, daß in der Volkskammer in Ost-Berlin nicht genügend Parlamentarier anwesend gewesen seien. Im Gegenteil: Es gab dort einige Menschen mit Rückgrat.
Es gab dort, z. B. in der SPD, einige Menschen, mehr als hier, die diesem Gesetz ihre Zustimmung verweigert haben.
17382 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 220. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 9. August 1990
Häfner
Ich verrate Ihnen vielleicht kein Geheimnis, wenn ich betone: Auch bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung gestern hier im Rechtsausschuß wurden von allen Seiten erhebliche Bedenken geäußert, die nicht entkräftet werden konnten. Wir haben gestern im Rechtsausschuß dasselbe festgestellt: Mitglieder der SPD haben deshalb gegen diesen Gesetzentwurf gestimmt, Mitglieder der CDU und der FDP haben erhebliche Bedenken geäußert. Deshalb sollten Sie die jetzt gebotene Gelegenheit nutzen, noch einmal nachzudenken.
Übrigens, einen positiven Aspekt hat die Verschiebung auch noch, nämlich daß der weitere Versuch, Frau Präsidentin, der jedenfalls in die Nähe eines Putsches gekommen wäre,
den Wahltermin auf den 14. Oktober vorzuziehen und so den Folgen der eigenen Politik nämlich dem wachsenden Mißbehagen und der wachsenden Wut über die soziale Katastrophe in der DDR, zu entgehen, nun endgültig vom Tisch sein dürfte.
Warum nenne ich den Wahlrechtsentwurf so, wie er vorgelegt worden ist, unzulässig und undemokratisch? — Erstens: Die Fünfprozentklausel, in dem einheitlichen Wahlgebiet angewendet, wirkt sich für Parteien in der DDR so aus, daß es nur fiktiv 5 %, real aber fast 24 % sind, die die Parteien überwinden müssen. Eine solche Anwendung der Klausel ist nicht hinnehmbar, auch mit dem nun vorgesehenen Huckepackverfahren nicht. Sie bedeutet einen Verstoß gegen das Prinzip des gleichen Zählwerts und des gleichen Erfolgswerts der Stimmen, also gegen Art. 38 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes. Sie ist deshalb schlichtweg verfassungswidrig. Die Möglichkeit von Listenverbindungen, die Sie nun als Hintertür eingebaut haben, ändert daran nichts. Der Sprecher der Bundesregierung hat dies im Rechtsausschuß gestern so erläutert: Wir machen einen sehr hohen Zaun, den sehr viele nicht werden überwinden können. Wir geben aber, damit das verfassungsrechtlich hinnehmbar wird, den Parteien die Möglichkeit, eine „Räuberleiter" zu bilden, um diesen Zaun zu überwinden. Die Listenverbindung also eine Räuberleiter!
Schauen wir uns doch einmal an, wer überhaupt als Räuber im Sinne dieses Gesetzes handeln kann. Die DDR-Parteien kommen sämtlich nicht füreinander in Frage, weil ja nur solche Parteien Listenverbindungen mit Parteien oder Gruppierungen in der DDR bilden können, die nicht im gleichen Wahlgebiet antreten, also nur bundesdeutsche Parteien. Welche bundesdeutschen Parteien aber?
CDU, SPD, FDP und GRÜNE haben alle Partner, gleichnamige oder ihnen nahestehende Parteien, im Osten, d. h., sie alle kommen für die Räuberleiter nicht in Frage. Es bleibt einzig die CSU, die sich als Räuber betätigen und von diesem Recht Gebrauch machen kann.
Daß wir, die Grünen, Ihnen dennoch ein Schnippchen geschlagen haben, liegt daran, daß die grüne Partei der DDR auf eine eigene Kandidatur verzichtet und dem Bündnis der Bürgerbewegungen beitritt. Nur so können wir eine Listenverbindung mit dem Bündnis eingehen. Aber man kann wegen Art. 21 der Verfassung von einer Partei nicht verlangen, daß sie Verbindungen eingeht, die sie möglicherweise von sich aus nicht gewählt hätte, die ihr vom Wahlrecht aufgezwungen werden.
Der Versuch, das Wahlrecht nicht als ein Recht auszugestalten, das allen wirklich gleiche Chancen einräumt, sondern es so auszugestalten, daß bestimmte Parteien damit ihre liebgewonnene Macht sichern können, auch wenn sie im Falle CSU/DSU geistig und zunehmend auch politisch längst im Absterben begriffen sind,
und andere Parteien mit der Krücke eines so zurechtgebogenen Wahlrechts faktisch von der Wahl auszuschließen, kann und darf keinen Bestand haben.
Ich bitte Sie: Nutzen Sie die Zeit, die uns jetzt gegeben wurde, um die Sache noch einmal zu überdenken, und lassen Sie uns hier zu anderen Lösungen kommen! Brauchbare Vorschläge unserer Fraktion hierzu liegen längst auf dem Tisch.