Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Bundesinnenminister hat in seinen einleitenden Ausführungen gesagt, daß wir heute einen weiteren Schritt in Richtung auf die deutsche Einheit gehen. Ich meine, daß die Übernahme des Bundeswahlgesetzes für das Gebiet der neu zu bildenden Länder in der Noch-DDR ein sichtbares Zeichen der Bewährung unserer parlamentarischen und repräsentativen Demokratie ist, auf das wir, wie ich meine, stolz sein dürfen.
Das Wahlrecht ist in der Demokratie der entscheidende Akt für die politische Willensbildung des Volkes. Die Wahl muß im Ergebnis eine funktionsfähige und gestaltungsfähige Mehrheit ermöglichen. Dazu gehören starke Parteien, die entweder allein oder in einer Koalition eine ausreichende und damit handlungsfähige Regierungsmehrheit im Parlament stellen können. Das entspricht auch dem ausdrücklichen Willen des Grundgesetzes.
Deshalb hat unser Gesetz in der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an eine Fünfprozentklausel vorgesehen, zuerst, 1949, auf die Länder bezogen und dann auf Bundesebene. Der Sinn war, unsere Demokratie zu stärken und stabil zu halten.
Die Bundesrepublik Deutschland ist heute international eine der angesehensten und beständigsten Demokratien. Diese beispiellose Stabilität beruht nicht nur auf dem Fleiß und dem Einfallsreichtum der Menschen in unserem Lande und auf einer in den meisten Jahren richtigen Politik, nein, sie beruht auch auf einem durch Verfassung und Gesetz vorgegebenen
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. August 1990 17371
Dr. Bötsch
Wahlsystem, das immer handlungsfähige Regierungen ermöglicht hat. Manche meinen heute — und wir haben da ja beim letzten Redner einen Ausschnitt gehört; ich komme noch im einzelnen darauf —
— doch, es lohnt sich in einigen Punkten — , erst eine möglichst große Anzahl von Parteien mache eine gute Demokratie aus. Ich halte diese Betrachtungsweise für falsch und auch für gefährlich.
Art. 21 des Grundgesetzes weist den Parteien aus gutem Grund eine zentrale Funktion bei der politischen Willensbildung des Volkes zu. Die heutige Stabilität der Parteien steht aber in direktem Verhältnis zur Stabilität unseres Verfassungssystems mit allgemeinem und gleichem Wahlrecht. Der Interessenausgleich schon im Vorfeld ist der wichtigste Grund, warum gerade Volksparteien unverzichtbare Garanten unserer Demokratie sind. Parteien besitzen oder sollten jedenfalls die Fähigkeit zur Integration unterschiedlicher Interessen besitzen, aber eben nur dann, wenn sie keine Eintagsfliegen im politischen Spektrum bleiben. Deshalb ist es im Grundsatz richtig, die Parteienlandschaft nicht zersplittern zu lassen. Diesem Ziel dient auch die Sperrklausel des Bundeswahlgesetzes.
Dem, was Herr Kollege Penner hier in den Grundsätzen ausgeführt hat, kann ich voll und ganz zustimmen. Es steht mit Sicherheit in irgendeinem Kommentar. Die Frage ist nur, ob er ihn selbst geschrieben oder abgeschrieben hat.
Aber für den Inhalt, für die Richtigkeit macht das keinen Unterschied.
Ich stimme ihm auch darin zu, was er zur Frage der verschiedenen Interessen bei der Ausgestaltung des Wahlrechts für die Wahl zum 12. Deutschen Bundestag gesagt hat. Sie haben hier offen die unterschiedlichen Interessenlagen angesprochen. Auch ich habe das im Vorfeld der Debatte gesagt, weil ich der Auffassung bin, daß es in einer demokratischen Gesellschaft, in einer Parteiendemokratie legitim ist, an solche Fragen im Kontext der Verfassung auch von unterschiedlichen Interessenlagen aus heranzugehen. Aber eines ist auch klar — das hat der Kollege Lüder schon gesagt —: Niemand will — das gilt für die Frage des Wahlrechts, und das gilt für die Frage des Wahltermins — etwa eine außerhalb unserer Verfassung mögliche Überlegung gestalten; niemand. Insofern haben Sie hier, zwar nur ganz kurz, aber doch etwas, einen Popanz aufgebaut.
Ich stimme Ihnen auch darin zu, was Sie über die Rolle der PDS und ihrer Vorgängerorganisation SED gesagt haben. Heute jedenfalls, Herr Kollege Penner, stimmen SPD und CDU/CSU offensichtlich in diesen Fragen überein. Ich weiß nicht, ob das in den vergangenen Jahren immer so der Fall war; ich denke an irgendwelche Papiere gemeinsamer Art zur Durchsetzung des Humanismus in Europa und ähnliches, was noch im Jahre 1987 bei Ihnen eine Rolle gespielt hat.
Ich glaube auch, daß die Integrationsfähigkeit der Parteien heute angesichts der großen Aufgabe zur Gestaltung der Einheit unseres Vaterlandes in Freiheit genauso notwendig ist wie bisher.
Wenn wir aber die geschichtliche Chance ernst nehmen, so müssen wir auch dem Willen der Menschen in der DDR nach einer raschen Einigung und nach einer raschen Wahl gerecht werden. Meine sehr verehrten Damen und Herren, uns allen muß klar sein, daß ein gerechter Ausgleich zwischen den strukturell so unterschiedlichen Regionen dauerhaft nur von einem gesamtdeutschen Parlament ermöglicht werden kann. Deswegen ist das Ziel, die erste Wahl zum gesamtdeutschen Parlament so bald wie möglich durchzuführen, vor allem ein Gebot der politischen Vernunft für die Menschen in der DDR.
Zu Recht erwarten die Menschen in ganz Deutschland, daß wir jetzt, nachdem die äußeren Aspekte der deutschen Einheit durch den Erfolg des Bundeskanzlers und des Außenministers, was ja auch die Opposition in Erklärungen gewürdigt hat,
geklärt sind, so daß wir mit einem Abschluß Mitte September rechnen können, rasch Klarheit auch im Inneren erhalten. Wir haben immer einen möglichst baldigen Beitritt für richtig gehalten, schon um keine Unsicherheit entstehen zu lassen, bereits zu einem Zeitpunkt, als Sie noch von übereilt, von hastig, von Stolpern und ähnlichem gesprochen haben. Insofern begrüßen wir die jüngsten Ankündigungen und Erklärungen aus Ost-Berlin ausdrücklich und unterstützen den Willen zum raschen Beitritt.
Meine Damen und Herren, ein vereinigtes Deutschland braucht aber so schnell wie möglich auch eine auf Dauer handlungsfähige und entsprechend von allen Deutschen legitimierte Regierung,
durch die sich die Bürgerinnen und Bürger in allen Ländern, nämlich von Mecklenburg bis Bayern und Baden-Württemberg, vertreten fühlen.
Durch die Erklärung von Ministerpräsident de Maizière vom vergangenen Freitag ist eine Situation entstanden, die alle Mitglieder dieses Hauses in die Pflicht nimmt, der neuen Lage angemessen Rechnung zu tragen.
Leider muß ich feststellen, Herr Conradi — Sie wollten ja nur den Bundestag abreißen —, daß die SPD nicht bereit ist, sich dieser Verantwortung zu stellen.
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Dr. Bötsch
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es ist jetzt nicht die Stunde wahltaktischer Überlegungen, Herr Kollege Koschnick,
sondern es geht um Verantwortung, es geht darum, Rahmenbedingungen zu schaffen, um dem entstehenden Gesamtdeutschland in seiner nicht einfachen Geburtsstunde und damit den Menschen die besten Startchancen zu geben.
Die Abkehr von einer 40jährigen sozialistischen Mißwirtschaft hin zur Sozialen Marktwirtschaft ist eine gewaltige Aufgabe, für die es kein Beispiel in der Geschichte gibt. Die CDU/CSU läßt keinen Zweifel daran, daß es nach ihrer Auffassung zwingend geboten wäre, jetzt so rasch wie möglich ein gesamtdeutsches Parlament zu wählen, auf dessen Legitimation sich eine gesamtdeutsche Regierung stützen kann.