Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Wir beraten heute in erster Lesung
einen Wahlrechtsvertrag zwischen den Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik. Dieser soll die gesetzlichen Voraussetzungen dafür schaffen, daß in ganz Deutschland gewählt werden kann, in Leipzig wie in Köln, in München und in Dresden, in Rostock wie in Lübeck und in Sonneberg wie in Hof. Darum geht es heute in dieser Debatte. Wir wollen die rechtlichen Voraussetzungen für die Wahl eines ersten gesamtdeutschen Parlaments und damit für die Bildung einer ersten gesamtdeutschen Regierung seit vielen Jahrzehnten schaffen.
Für mich ganz persönlich sage ich: Dabei mitmachen zu dürfen, wird für mich vielleicht das herausra-
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Dr. Penner
gende politische Erlebnis bleiben. Ich bin dankbar dafür und werde das nicht vergessen.
Für die Sozialdemokraten stelle ich fest: Wir sind voller Genugtuung, daß das kommen wird, wofür auf unserer Seite Willy Brandt, Helmut Schmidt, Herbert Wehner, Egon Bahr und Erhard Eppler — jeder auf seine Art —,
aber auch Kurt Schumacher und viele andere mehr leidenschaftlich gerungen haben,
nämlich ein deutscher Staat, der demokratisch ist, ein deutscher Staat, der sich einfügt, der sich in die internationale Völkergemeinschaft integriert, der auf andere Länder und auf deren Interessen Rücksicht nimmt und der seinen Beitrag zum Frieden in der Welt leisten will und leistet. Bei aller notwendigen Auseinandersetzung über die besseren Wege zur Meisterung der immer drückender werdenden Probleme in der DDR, aber auch bei allem Streit über Wahltermine und über Einzelheiten des Wahlrechts dürfen wir dies einfach nicht untergehen lassen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die diesen Staat tragenden Parteien sollten darauf achten, daß diese erste gesamtdeutsche Wahl in demokratisch besonders vorbildlicher Weise durchgeführt wird.
Das sind Sie besonders den Bürgerinnen und Bürgern der DDR schuldig. Diese haben jahrzehntelang erleben müssen, daß man ihr Wahlrecht mit Füßen getreten hat,
daß man es zur Farce degradierte und die Ergebnisse auf das schamloseste verfälscht hat.
Mit der ersten gesamtdeutschen Wahl verbinden die Bürgerinnen und Bürger der DDR große Erwartungen. Gerade deshalb sollten wir uns besondere Mühe geben.
Das Wahlrecht ist in unserer Demokratie ein hohes Gut, das nicht einmal dem Verdacht der Unkorrektheit ausgesetzt werden darf.
Wir beharren darauf, daß in Wahlen Parteien unter fairen Bedingungen miteinander ringen. Dazu gehört auch, Herr Bundeskanzler, daß bei der Festlegung des Wahltermins das Grundgesetz beachtet wird
und eine ausreichende Zeitspanne für eine kritische Auseinandersetzung zwischen den Parteien über unterschiedliche politische Optionen gewährleistet ist.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren! Der Bundesinnenminister, der vor mir gesprochen hat, hat mit seinem Partner in der DDR eine Vorlage zum Wahlrecht erarbeitet, in der von vorgezogenen Wahlterminen nicht die Rede war.
Ganz im Gegenteil!
Dr. Schäuble hat durch Paraphe bekräftigt, daß für Wahlen zum Bundestag wie bisher Art. 39 unserer Verfassung maßgebend sein sollte, was einen Wahltermin vor Ende November ausschließt.
Der Bundeskanzler, Herr Minister, hat sich Ende vergangener Wochen zehn Stunden — ich betone: zehn Stunden — nach Ihrer Unterschrift darauf besonnen, daß ein früherer Termin als der durch Ihre Unterschrift besiegelte
seinen höchstpersönlichen Interessen doch mehr entgegenkäme, weil sich das ganze Ausmaß des Desasters in der DDR entgegen seinen beschwichtigenden Prognosen bis dahin vielleicht noch verbergen lassen könne.
Herr Bundeskanzler, ich wende mich direkt an Sie. Bei Ihrem Wahltermin am 14. Oktober geht es um Kohl, nicht etwa um den Staat, nicht um die staatliche Einheit,
nicht um die Bundesrepublik, nicht um die DDR und schon gar nicht um die Menschen in der DDR.
Wir Sozialdemokraten halten an den von der Verfassung vorgesehenen terminlichen Möglichkeiten fest.
Wenn die Menschen in der DDR schon jetzt eine gesamtdeutsche Regierung wollen,
wofür immer mehr Anzeichen sprechen — , kann die Volkskammer den Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland mit der Folge erklären, daß Bonn dann auch das Gebiet der DDR regiert. So einfach ist das!
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, was das Wahlgesetz im einzelnen angeht, so halten wir das Ergebnis für akzeptabel. Wir haben zu einem sehr frühen Zeitpunkt einheitliches Wahlgebiet und einheitliches Wahlrecht gefordert, und das ist erreicht worden, wie wir meinen; das ist durchgesetzt worden.
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Leider gibt es auch bei den ersten deutschen Wahlen Besonderheit für Berlin. Es wäre begrüßenswert, wenn es in den Ausschußberatungen gelänge — jedenfalls vor der zweiten und dritten Lesung —, Regelungen zu finden, die diese Stadt mit dieser Geschichte gerade bei dieser ersten gesamtdeutschen Wahl noch stärker als Teil des neuen einheitlichen Ganzen herausstellte.
Die Ausdehnung der Fünfprozentklausel auf das gesamte Bundesgebiet und nicht ihre Beschränkung auf einzelne Bundesländer hat für uns einen hohen Rang.
Wir hätten uns im Hinblick auf die besondere Situation der DDR im Übergang eine gruppenfreundlichere Regelung gewünscht.
Es ist richtig, daß das vorgesehene Huckepackverfahren nach dem Willen der konservativen Mehrheit auf die Bedürfnisse einer CSU-DSU-Kombination zugeschnitten war.
Ebenso soll die für Berlin speziell geltende Möglichkeit der Listenverbindung wohl helfen, auch noch den letzten Wähler vom äußersten rechten Rand bei der konservativen Stange zu halten.
Natürlich hatten de Maizière und Kohl mit dem Beitritt der DDR nach den Wahlen auch handfeste Wahlinteressen im Sinne, und zwar ohne Rücksicht auf die immer wieder behauptete und eigentlich politisch selbstverständliche, gebotene Einheitlichkeit der Wahl nach Gebiet und Recht. Um Aufsplitterung des linken Wählerspektrums ging es den beiden, weil die Fünfprozentklausel in diesem Fall für die Gebiete der DDR und der Bundesrepublik hätte getrennt errechnet werden müssen.
Richtig ist auch, daß SPD wie FDP als Bündnispartner für Listenverbindungen von vorneherein ausgeschlossen sind. Es ist die Folge des vorgesehenen Konkurrenzverbots und der Tatsache, daß sich beide Parteien flächendeckend zur Wahl stellen. Unbestreitbare Tatsache bleibt aber auch, daß von der neuen, nur bei dieser Wahl geltenden Regelung nicht nur CSU und DSU, sondern auch Bündnis 90 und GRÜNE Gebrauch gemacht haben. Auch das muß hier festgehalten werden.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, es ist wahr, daß es die Konkurrenzklausel den politischen Gruppierungen nicht leicht macht, in den Bundestag gewählt zu werden. Nach dem jetzt geltenden Wahlrecht der Bundesrepublik, ohne Möglichkeit der Listenverbindung mit Partnern, wären die Chancen überdies gleich Null gewesen. Aber auch eine deren Interessen entgegenkommendere rechtliche Regelung würde die tatsächlichen Chancen nicht beträchtlich ändern. Es ist beispielsweise nicht verborgen geblieben, daß das Bündnis 90 in der DDR nicht etwa die SPD oder eine andere große Partei als Partner suchte, sondern andere bevorzugte.
Die Partei des Herrn Eppelmann geht übrigens einen anderen Weg: Sie wird kraft eigenen Entschlusses in der nächsten Zeit in der CDU aufgehen.
Ich halte fest: Nicht nur der Zuschnitt des Rechts allein, sondern die politische Festlegung der Gruppierungen, ihr Profil, entscheidet mit über ihre eigenen politischen Chancen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die SPD hat immer Rolle und Bedeutung der politischen Gruppierungen in der DDR und dabei auch ihrer Wortführer im Auge gehabt. Sie ist in der DDR selbst politische Gruppierung gewesen, ehe sie sich wieder gründete.
Und trotzdem ist die SPD immer auch für jene offen geblieben, die nicht den Weg in die Ost-SPD gefunden haben — bis in die jüngste Zeit hinein übrigens. Das Angebot, einzelnen aus den Gruppierungen jenseits der SPD ohne Preisgabe ihrer politischen Identität Listenplätze zu sichern,
war ernst gemeint, ist — bisher jedenfalls — jedoch nicht aufgenommen worden. Gemessen an den bisherigen Erfahrungen einschlägiger Art in und mit der SPD mußten deren Chancen nicht unbedingt schlecht sein; denn schließlich sind Gustav Heinemann, Johannes Rau, Erhard Eppler und Diether Posser, allesamt in den 50er Jahren aus der GVP kommend, einflußreiche sozialdemokratische Politiker geworden.
Die haben sich nicht verbiegen müssen und haben gerade deswegen die Politik in der SPD besonders mit beeinflussen können. Daß einige politische Gruppierungen jetzt mit den GRÜNEN gehen, ist eher Sache ihrer freien Entscheidung — mag sein auch Ergebnis politischer Selbstbeschränkung — , nicht so sehr aber Folge wahlrechtlicher Vorschriften.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, trotzdem wird von maßgebender Seite angemerkt, daß die Chancengleichheit verletzt sein könne. Unbestreitbar, sage ich, gibt es in der DDR unterschiedliche Wahlstartchancen. So hat die SED/PDS mit immer noch Tausenden hauptamtlicher Mitarbeiter unvergleichlich bessere Möglichkeiten als die SPD-Ost, die erst Ende vergangenen Jahres neu gegründet worden ist.
Die alte SED-Filiale CDU-Ost hat ebenfalls eingefahrene Organisationsstrukturen, die ihr ganz klare Startvorteile gegenüber der SPD sichern. Nichts anderes gilt für die Liberalen in der DDR, die als ehemaliger Teil des SED-Systems die damit verbundenen organisatorischen und technischen Vorteile in die Gegenwart hinübergerettet haben.
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Wenn man über die fehlende Chancengleichheit redet, wenn man darüber lamentiert, dann geht es also nicht nur um die sogenannten politischen Gruppierungen; denn sie sind nicht jünger als die SPD-Ost.
Diese Ungerechtigkeiten würden zu einem guten Teil beseitigt sein, wenn endlich das alte SED/PDSVermögen nebst dem ihrer politischen Ableger aufgeteilt würde. Speziell für die SPD muß ich in diesem Fall anmahnen, daß ihre berechtigten Entschädigungsansprüche endlich durchgesetzt werden müssen.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, im übrigen liegt den rechtlichen Bedenken ein fundamentaler Irrtum zugrunde. Die Veränderungen in der DDR sind — auf der Basis günstiger außenpolitischer Rahmenbedingungen — durch das Volk selbst, durch die Hunderttausende, die wochenlang auf die Straße gegangen sind und einem verrotteten Regime den Garaus gemacht haben möglich geworden. Wenn es denn eine Organisation gibt, die zu dem Wandel in der DDR maßgeblich ihren Beitrag geleistet hat, dann ist es die evangelische Kirche gewesen. Aber die steht schließlich nicht zur Wahl.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Einzelpersönlichkeiten sind wichtig. Was deren politische Gestaltungsmöglichkeiten als Aktivbürger angeht, so hat die SPD praktische Möglichkeiten eröffnet. Das neue Recht gibt zusätzliche Chancen für parlamentarische Mitwirkung. Andererseits darf die Achtung vor diesen Menschen nicht so weit gehen, aristokratischen oder oligarchischen Tendenzen das Wort zu reden.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, ich betone: Es ist nicht anstößig, eher geboten, daß das Wahlrecht auch die Arbeitsfähigkeit des Parlaments mit erreichen helfen soll. Dazu gehört, daß das Parlament nicht in unzählige Einzelteile zerlegt wird.
Gewiß, Chancen anderer, gerade neuer Bewerber dürfen dabei nicht auf der Strecke bleiben. Aber nach meiner Einschätzung ist das auch nicht der Fall.
Im übrigen muß darauf hingewiesen werden, daß die Scheu der Mitglieder oder Anhänger politischer Gruppierungen in der DDR, sich als Parteien oder in Parteien zu betätigen, ohnehin nur in Grenzen zu respektieren wäre.
Eine Organisation, die sich mit dem Ziel an Wahlen beteiligt, parlamentarisch vertreten zu sein, kann beim Finanzgebaren wie auch insbesondere bei der Kandidatenaufstellung nicht willkürlich verfahren. Einschlägige, für Parteien geltende Grundsätze müssen auch von diesen Gruppierungen in diesem Fall beachtet werden. So gesehen, ist auch für politische Gruppierungen der Weg über förmliche Festlegung Voraussetzung für eine parlamentarische Beteiligung und mündet letztlich doch im Organisationsmuster nach Art der ihnen so fremden Parteien.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, albern, ungerecht und heuchlerisch ist ein Vorwurf von GRÜNEN wegen Teilnahme an einer angeblichen Wahlmanipulation. Ich sage: Auch mit noch so gebrochener Stimme vorgetragene Klagen
vermögen nichts daran zu ändern, daß auch die GRÜNEN ihre Interessen und die Interessen ihnen nahestehender Organisationen im Auge haben, wenn es denn ums Wahlrecht geht.
Daraus haben Sie auch, zuletzt im Ausschuß Deutsche Einheit, keinen Hehl gemacht.
Die CDU hatte ihre Interessen, und das nicht nur in Berlin. Die CSU hat ihre Interessen gehabt und sie vielleicht besser als andere durchgesetzt. Die FDP hatte wie die SPD aus unterschiedlichen Gründen besonderes Interesse an einer bundesweiten Fünfprozentklausel.
Konrad Weiß vom Bündnis 90 wäre ein lupenreines Verhältniswahlrecht ohne Sperrklausel am liebsten gewesen, aus seiner Interessenlage erklärbar. Eine länderbezogene Fünfprozentklausel hätte ihm übrigens als zweitbeste Lösung genügt.
Auch die PDS/SED hatte Vorstellungen angemeldet, die ihren Interessen entsprach, eine länderbezogene Fünfprozentklausel.
Die SPD hat über ihre eigenen Interessen hinaus entgegen engstirnigem Parteiegoismus
für eine gruppenfreundlichere Regelung geworben. Ohne Erfolg!
Ich frage: Kann für Interessen einzutreten ehrenrührig sein, zumal wenn man obendrein die Interessen anderer
aus staatspolitischen Gründen mitvertritt? Fehlt nur noch, daß von der SPD Überlebenshilfe für die SED/PDS gefordert wird!
Wir sind dafür, daß auch sie ihre Chance bekommt. Wir sind aber strikt dagegen, daß das über speziell für sie zugeschnittene Vergünstigungen geschieht.
Die SED/PDS hat den geringsten Grund, über fehlende Startchancen zu lamentieren.
Davon war an anderer Stelle schon die Rede.
Es ist schon ein starkes Stück, daß diejenigen, die das
ganze Unglück in der DDR mit angerichtet haben,
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Dr. Penner
nunmehr Anspruch darauf erheben, über rechtliche Privilegien ins Parlament zu kommen.
Noch eines wird immer wieder übersehen: Die SPD hat im Bund nicht die Mehrheit und in der DDR schon gar nicht. Wir wollen das ändern, aber noch ist es nicht so weit.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die SPD wird die Gesetzesvorlage trotz der Kürze der Zeit intensiv beraten. Wir wissen, daß das eine notwendige Arbeit ist, und wir nehmen sie ernst. Aber wir wissen auch, daß das Wahlrecht die kardinalen Probleme der Menschen in der DDR nicht löst.
Die Furcht vor der Zukunft, besonders aber die Sorge um den Arbeitsplatz und die Wohnung, die Angst, in das soziale Nichts zu fallen, da sind Sie gefordert, Herr Bundeskanzler, und nicht bei Terminen.
Tun Sie da Ihre Pflicht!
Schönen Dank.