Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Mit dem Vertrag zur Vorbereitung und Durchführung der ersten gesamtdeutschen Wahl des Deutschen Bundestages zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der DDR wird ein weiterer wichtiger Schritt zur Einheit Deutschlands in Freiheit getan. Dieser Schritt fügt sich ein in den konsequenten Weg, den beide Teile Deutschlands in diesem Jahr gegangen sind:
Die Wahlen am 18. März haben ein klares Votum für die Ordnung des Grundgesetzes auch für das Gebiet der DDR und für einen Beitritt nach Art. 23 unseres Grundgesetzes erbracht. Mit der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und mit dem Abbau aller Grenzkontrollen zwischen beiden Deutschen Staaten ist die deutsche Einheit schon ein ganzes Stück weit Realität im täglichen Leben der Menschen geworden. Mit dem Ergebnis der Gespräche von Bundeskanzler Helmut Kohl in der Sowjetunion ist klargestellt, daß die Bundesrepublik Deutschland auch nach der Vereinigung bleibt, was sie war: ein Teil der freien Wertegemeinschaft und ein verläßlicher Partner im freien Europa.
Nun ist es an der Zeit, die Voraussetzungen zu schaffen, die letzten Bausteine einzusetzen, mit denen sich die staatliche Einheit Deutschlands vollenden wird. Die erste Wahl eines gesamtdeutschen Parlaments ist dabei besonders wichtig. Der Vertrag, den wir auf Bitten des Parlaments der DDR mit der Regierung der DDR verhandelt haben, soll nach übereinstimmender Auffassung beider Ausschüsse Deutsche
17360 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 219. Sitzung. Bonn, Mittwoch, den 8. August 1990
Bundesminister Dr. Schäuble
Einheit von Bundestag und Volkskammer in der vergangenen Woche die Voraussetzungen schaffen, um die Wahl des gesamtdeutschen Bundestages durch ein einheitliches Gesetz mit einheitlichen Organen bereits vor der Herstellung der staatlichen Einheit so vorzubereiten, daß das Ziel — ich erinnere an dieses gemeinsame Ziel, das in der Beratung beider Ausschüsse in der vergangenen Woche bekräftigt worden ist — , die Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands und die Wahl eines gesamtdeutschen Parlaments zeitlich möglichst eng beisammen zu haben, erreicht werden kann.
Das war der übereinstimmende Wille aller Fraktionen in der gemeinsamen Sitzung beider Ausschüsse beider deutscher Parlamente in der vergangenen Woche. Diesem Ziel wird hiermit Rechnung getragen. Mit diesem Vertrag ermöglichen wir die Vorbereitung der Wahl des gesamtdeutschen Parlaments und schaffen die Voraussetzungen dafür, Wahltermin und Termin des Wirksamwerdens des Beitritts der DDR zeitlich eng zusammenzuhalten.
Der Vertrag ist unabhängig von der Frage des Wahltermins abgeschlossen worden, so daß es insofern einer Regelung dazu nicht bedarf. Allerdings haben beide Parlamente in der Sitzung der beiden Ausschüsse in der vergangenen Woche nachdrücklich den Wunsch geäußert, daß vor der Ratifizierung des Zustimmungsgesetzes verbindlich geklärt werden solle, auch durch den Ministerpräsidenten der DDR, daß sich der Beitritt der DDR spätestens unmittelbar vor der Wahl eines gesamtdeutschen Parlaments vollziehen solle.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, was immer im übrigen zu der Erklärung von Ministerpräsident de Maizière vom Freitag vergangener Woche in diesen Tagen hier zu diskutieren ist und zu diskutieren sein wird, die Erklärung von Ministerpräsident de Maizière erfüllt die Anforderung, die auch Sie, Herr Kollege Vogel, in der Sitzung beider Ausschüsse gestellt haben. Er sagt ja, daß der Beitritt unmittelbar vor der Wahl in einer Sondersitzung der Volkskammer erklärt und damit auch vollzogen werden solle, so daß auch diese von den Fraktionen des Hohen Hauses genannte Anforderung mit der Vorlage dieses Vertrages erfüllt ist.
Der Wahlvertrag und die im Wahlvertrag vorgeschlagenen Änderungen im Bundeswahlgesetz tragen im übrigen dem Umstand Rechnung, daß sich die erste Wahl eines gesamtdeutschen Bundestages von den vorangegangenen elf Bundestagswahlen unterscheidet. Bei uns in der Bundesrepublik Deutschland hat sich in den 40 Jahren ein vergleichsweise stabiles Parteiensystem entwickelt. Bei uns gibt es das Bewußtsein, daß Parteien 5 % der Wählerstimmen erlangen müssen, um die Legitimation zu haben, am parlamentari schen Willensbildungsprozeß teilzunehmen. Nur wer diesen Wettbewerb bestanden hat, soll Anspruch auf Teilnahme im Parlament haben. Dies ist gefestigte
Überzeugung in diesem Teil unseres deutschen Vaterlandes.
— Aber doch weitgehend gefestigt. Das ist in einem solch hohen Maße verfestigt, daß man den Begriff schon gebrauchen kann, Herr Kollege.
Aber auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland mußte diese Überzeugung wachsen, wie auch das Parteiensystem allmählich gewachsen ist. 1949, als unser politisches System noch in den Kinderschuhen steckte, trug man den Gegebenheiten eines sich bildenden Parteienspektrums durch die Zählweise nach Ländern für eine Fünfprozentklausel durchaus Rechnung. Nicht unähnlich ist die Situation heute in der DDR. Zwar haben sich dort bei den Wahlen vom 18. März die Menschen mit überwiegender Mehrheit an dem Modell orientiert, das die Bundesrepublik Deutschland 40 Jahre lang vorgelebt hat, doch es bleibt der Umstand, daß sich mehr als ein Viertel der Wähler in der DDR am 18. März für andere Gruppierungen entschieden hat. Außerdem ist das politische System in den künftigen Ländern der DDR auch noch nicht so festgefügt. Dies können wir bei der rechtlichen Gestaltung der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl nicht völlig ignorieren.
Umgekehrt galt auch, den Beitritt der DDR und die erste gesamtdeutsche Bundestagswahl nicht zum Anlaß zu nehmen, das bewährte politische System der Bundesrepublik Deutschland grundlegend zu verändern.
Deswegen und auch weil wir über Wahlrechtsfragen nicht gern streitig, sondern im Konsens entscheiden wollen, mußten wir einen Konsens finden. Dazu war es notwendig, zwischen den verschiedenen Lösungsansätzen einen Kompromiß zu finden, denn Konsens bedeutet immer, daß man zum Kompromiß bereit sein muß. Ich bin froh, daß wir Ihnen mit dem vorliegenden Wahlvertrag einen solchen, weit über die Regierungsmehrheit, die Mehrheit der Koalition hinausgehenden Kompromiß oder Konsens für ein Wahlrecht für die erste Wahl eines gesamtdeutschen Parlaments vorschlagen können.
Dieser gefundene Kompromiß beläßt es bei der für das gesamte Wahlgebiet geltenden Prozentklausel, läßt aber ihre Überwindung auch durch Listenverbindungen verschiedener Parteien zu, soweit diese Parteien in keinem Land miteinander konkurrieren.
In den letzten Tagen ist die Verfassungsmäßigkeit dieser Regelung teilweise mit der Begründung bezweifelt worden, der Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit werde verletzt.
Dazu ist zu bemerken, daß das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betont, daß der Grundsatz der Gleichheit der Wahl eine besonders formalisierte Ausprägung des allgemeinen Gleichheitssatzes darstellt, der besagt, daß jeder sein Wahlrecht in formal möglichst gleicher Weise soll ausüben können und daß Differenzierungen, die zu einer Abweichung davon führen, besonderer rechtfertigender Gründe bedürfen, wie sie eben etwa in der für das Verhältniswahlrecht typischen Gefahr einer Par-
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teienzersplitterung zu sehen sind, die die Regierungsbildung erschweren oder unmöglich machen können. Deswegen ist ja eine wie immer geartete Prozentklausel eine Einschränkung des Grundrechts der Wahlgleichheit. Das Verfassungsgericht hat allerdings Sperrklauseln bis zu einer Höhe von 5 % als zulässig angesehen und in einem Fall ausdrücklich ausgeführt: „Ob der Gesetzgeber den Hundertsatz auf das gesamte Wahlgebiet oder nur auf den Listenwahlkreis bezieht, liegt in seinem Ermessen" .
Es hat im Bundeswahlgesetz neben der Fünfprozentklausel für zulässig angesehen, die Zuteilung von Sitzen auch solchen Parteien zu gewähren, die zwar nicht 5 % der im Wahlgebiet abgegebenen Stimmen erzielt haben, aber drei Sitze — Direktmandate — in Wahlkreisen errungen haben, und zwar wegen des besonderen Charakters der personalisierten Verhältniswahl. Im übrigen haben wir auch eine Ausnahme von der Sperrklausel für nationale Minderheiten mit Rücksicht auf die dort vorliegenden besonderen Verhältnisse.
Vor diesem Hintergrund ist zu der Regelung über die Zulassung von Listenverbindungen verschiedener Parteien, die in keinem Land miteinander konkurrieren, bei der Wahl zum 12. Deutschen Bundestag zu bemerken, daß es sich dabei ja um eine Abmilderung der Fünfprozentklausel handelt, die in sich verfassungsrechtlichen Bedenken zunächst einmal nicht begegnen kann. Die Zulassung von Listenverbindungen verschiedener Parteien ist in der Literatur generell nicht unumstritten. Das Verfassungsgericht hat sich lediglich einmal mit der Frage beschäftigt, ob ein Verbot von Listenverbindungen zulässig ist. Es hat dies mit der Begründung bejaht, daß eine Umgehung der Sperrklausel verhindert werden solle und daß damit ein legitimes Ziel verfolgt werde. Aber indem wir Listenverbindungen nur für nicht miteinander konkurrierende Parteien zulassen, tragen wir genau diesem Gesichtspunkt der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Rechnung und eröffnen so keine generelle Umgehungsmöglichkeit der Fünfprozentklausel.
Ich denke, daß wir darüber hinaus — wir werden darüber noch einmal zu reden haben — deswegen eine Ausnahme für das Land Berlin schaffen müssen — das ist im Vertrag so vorgesehen — , weil der 12. Deutsche Bundestag schon im Land Berlin gewählt wird, und im Land Berlin, in Berlin-Ost und in Berlin-West, kommen die Gruppierungen, die heute noch in der DDR und in der Bundesrepublik, je für sich, kandidiert haben, zusammen, so daß die Situation, die generell zur Zulässigkeit von Listenverbindungen führt, in Berlin eben genau umgekehrt ist mit der Folge, daß wir dort das Verbot der Konkurrenz nicht in die Listenverbindungs-Regelung aufnehmen dürfen.
Frau Präsidentin, der Wahlvertrag beschränkt sich im übrigen, wie ich finde, aus guten Gründen auf die Ausgestaltung der ersten Wahl zu einem gesamtdeutschen Bundestag. Das Interesse der Vertragsparteien besteht gerade darin, die Unterschiede, die im Hinzutreten des Territoriums der DDR und der Menschen im Vergleich zur bisherigen Bundesrepublik Deutschland bestehen, nicht zu verewigen. Es entspricht ja im übrigen gutem demokratischen Stil, die Entscheidung darüber, wie der Deutsche Bundestag zukünftig gewählt werden soll, diesem in seiner vergrößerten Zusammensetzung sich selbst zu überlassen und nicht durch ein Regierungsabkommen — auch wenn es der Ratifizierung bedarf — zu präjudizieren.
Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, in einer Zeit, in der die historischen Ereignisse beinahe von Woche zu Woche in einer solchen Geschwindigkeit aufeinanderfolgen, müssen wir manchmal innehalten, um noch zu begreifen, was sich vollzieht.
— Ich finde schon, daß es ein bemerkenswertes und erfreuliches Ereignis ist, das uns in der Sommerpause des Deutschen Bundestages zusammenruft, um die erste Wahl eines gesamtdeutschen Bundestages vorzubereiten.
Weil dies so ist, möchte ich noch die Bemerkung machen, daß wir Deutsche im Vergleich zu vielen unserer Nachbarn in Europa den Weg zu den parlamentarischen Demokratien des Westens relativ spät gefunden haben. Wir haben anders als viele unserer Nachbarn nicht die Möglichkeit gehabt, die parlamentarische Demokratie über die Jahrhunderte hinweg zu entwikkeln.
Nun, da wir die Chance haben, einem vereinten Deutschland eine freiheitliche und demokratische Staatsform zu geben, sollten wir diese Chance so schnell wie möglich und so gut wie möglich nutzen, im Interesse der Menschen in Deutschland, im Interesse unserer Nachbarn und Partner sowie im Interesse des gesamten europäischen Kontinents. Der Wahlvertrag, den wir Ihnen heute vorlegen, schafft einen Teil der Voraussetzungen dafür.