Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Anwesende! Es geht hier um das Strafnachlaßgesetz der GRÜNEN aus Anlaß der Feierlichkeiten zum 40jährigen Bestehen des Bonner Grundgesetzes. Als wir unseren Gesetzentwurf verfaßten, wollten wir einen wirklich guten Beitrag zum Fest aus Anlaß des 40jährigen Geburtstags der Bundesrepublik leisten. Wir wollten ein Geburtstagsgeschenk überreichen, welches zur Abwechslung einmal einer Gruppe von Menschen zugute kommt, die auf der Schattenseite des Lebens stehen, nämlich den fast 50 000 Strafgefangenen und den mehreren Hunderttausend Angehörigen dieser Strafgefangenen draußen. Nicht zu ahnen war damals im Frühjahr dieses Jahres, daß inzwischen noch viel mehr Grund zum Feiern besteht, seit die DDR die Grenzen geöffnet hat und die Menschen dort demokratische Reformen begonnen haben. Drüben gibt es inzwischen einen breiten Strafnachlaß, sogar eine richtige Amnestie, deren genaues Ausmaß allerdings noch nicht bekannt ist. Wenn sie aber der Amnestie von 1987 ähnelt, bei der man fast alle der ca. 25 000 Strafgefangenen entließ, dann übertrifft sie unseren Vorschlag bei weitem.
Nun werden einige Kolleginnen und Kollegen gerade von seiten der CDU einwenden: Ja, sicher, aber in der DDR herrscht auch ein Unrechtssystem, und die Gefangenen dort sind politische Gefangene, die man zu Recht entlassen muß, weil sie zu Unrecht eingesperrt worden sind. — Was die politischen Gefangenen angeht, ist das richtig. Aber auch in der DDR sitzt der überwiegende Teil der Gefangenen wegen sogenannter ganz normaler Kriminalität ein. Etwa 5 bis 10% sitzen wegen politisch motivierter Straftaten ein. Das Ausmaß der Amnestie 1987 und auch der große Umfang der neuen Amnestie in der DDR waren damals und heute eine großzügige kriminalpolitische Geste auch gegenüber den ganz gewöhnlichen straffällig gewordenen Mitbürgern in der DDR. Ich verweise hier dazu auf eine Untersuchung von Prof. Roggemann in der angesehenen Neuen Juristischen Wochenschrift 1988.
Wir sind mit unserem Entwurf wesentlich bescheidener. Unser Entwurf sieht nur dann die Entlassung vor, wenn der Gefangene die Hälfte seiner Strafe verbüßt hat. Kern des Entwurfs ist unsere Absicht, endlich dem Grundgedanken des § 57 Abs. 2 StGB, also der sogenannten Halbstrafenregelung, Geltung zu verschaffen; er fristet nämlich in der Praxis ein Schattendasein. Wenn es damals dem Bundesrat nicht gelang, die Halbstrafe zur Regel statt zur Ausnahme zu machen, so sollten wir das heute im Wege eines kollektiven Gnadenaktes zum Ende eines bewegten Jahres wagen.
Niemand muß befürchten, das kriminalpolitische Chaos breche aus, was gerade von seiten der CSU immer heraufbeschworen wird, denn — wohlgemerkt — es sollen alle Straftaten nach wie vor vollständig aufgeklärt und die laufenden Verfahren bis zu einem rechtskräftigen Urteil zu Ende geführt werden. Aus gutem Grund bleiben auch die berechtigten zivilrechtlichen Schadenersatzansprüche des Geschädigten vom Strafnachlaß selbstverständlich unberührt. Weil es zur Verhütung von Kriminalität in erster Linie auf Aufdeckung und weniger auf die Strafe als Sanktion ankommt, besteht hier auch keine Gefahr für die Sicherheit der Bevölkerung.
Zwei Jahre nach der DDR-Amnestie hat Professor Buchholz dort festgestellt, daß nur ein Siebtel wieder rückfällig geworden war. Das unterschreitet die Rückfallquoten nach herkömmlichen Entlassungen und bekräftigt das Gesagte.
Meine Damen und Herren, ich bin der Meinung, daß es hierzulande auch einmal an der Zeit wäre, Gnade vor Recht ergehen zu lassen, und zwar über den Einzelfall hinaus. Wir glauben auch, daß so ein Strafnachlaßgesetz in diesem Jubiläumsjahr auch für die Politiker und Politikerinnen nützlich wäre. Es wäre geeignet, der diffusen Kriminalpolitik, die bei uns herrscht, eine Besinnungspause zu verordnen, in der man auch das gesamte Strafrecht auf den Prüfstand stellen könnte und einmal darüber nachdenken könnte, was hier zugunsten der straffällig Gewordenen und auch der Opfer von Kriminalität wirklich durchgreifend passieren könnte.
Abschließend möchte ich noch anmerken: Es ist hier in der letzten Zeit Praxis geworden, daß wir über Gesetzesinitiativen, die den Bereich Strafvollzug betreffen, immer freitags zum Schluß debattieren.
Jetzt steht das Strafnachlaßgesetz, über das ja in diesem Jubiläumsjahr debattiert werden sollte, erst am
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 186. Sitzung. Bonn, Freitag, den 15. Dezember 1989 14431
Frau Nickels
Ende des Jahres auf der Tagesordnung, und dies ist erst die erste Lesung. Ich frage mich, was das zu bedeuten hat. Heißt das, daß hier im Parlament auch die Belange der Strafgefangenen das letzte sind, das letzte in einer Sitzungswoche, das letzte unter den Tagesordnungspunkten, das letzte in einem Jahr?
Oder wollen Sie das einmal umkehren und vielleicht ein Ausrufungszeichen im Sinne von Gnade vor Recht und Humanität im Strafvollzug setzen?
Danke schön.