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ID1117907300

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/179 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 179. Sitzung Bonn, Donnerstag, den 30. November 1989 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 13733 A Erklärung zum Mordanschlag auf den Sprecher der Deutschen Bank, Dr. Alfred Herr-hausen 13744 A Tagesordnungspunkt I: Fortsetzung der zweiten Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1990 (Haushaltsgesetz 1990) (Drucksachen 11/5000, 11/5321, 11/5389) Einzelplan 16 Geschäftsbereich des Bundesministers für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Waltemathe SPD 13733 C Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU 13736 D Frau Wollny GRÜNE 13739 D Dr. Weng (Gerlingen) FDP 13741 A Schäfer (Offenburg) SPD 13742 D Dr. Töpfer, Bundesminister BMU . . . 13744 C Einzelplan 31 Geschäftsbereich des Bundesministers für Bildung und Wissenschaft Frau Dr. Wegner SPD 13748 C Frau Männle CDU/CSU 13750 C Frau Hillerich GRÜNE 13753 B Kastning SPD 13754 D Graf von Waldburg-Zeil CDU/CSU . . 13757 B Wetzel GRÜNE 13758 D Möllemann, Bundesminister BMBW . . 13760B, 13766 D Frau Odendahl SPD 13764 C Einzelplan 11 Geschäftsbereich des Bundesministers für Arbeit und Sozialordnung Sieler (Amberg) SPD 13768B Strube CDU/CSU 13770 B Hoss GRÜNE 13772D Zywietz FDP 13774 D Dreßler SPD 13779 C Dr. Blüm, Bundesminister BMA 13782 C Cronenberg (Arnsberg) FDP 13788 A Scharrenbroich CDU/CSU (Erklärung nach § 32 GO) 13788 C Andres SPD (Erklärung nach § 32 GO) . 13789 C Einzelplan 15 Geschäftsbereich des Bundesministers für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit Frau Conrad SPD 13790 B Kalb CDU/CSU 13793 A Frau Schoppe GRÜNE 13795 A Zywietz FDP 13796 D Link (Diepholz) CDU/CSU 13798 D Frau Schmidt (Nürnberg) SPD 13801 C Frau Dr. Lehr, Bundesminister BMJFFG 13804 C Frau Matthäus-Maier SPD 13807 B II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 179. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 30. November 1989 Einzelplan 06 Geschäftsbereich des Bundesministers des Innern in Verbindung mit Einzelplan 36 Zivile Verteidigung in Verbindung mit Einzelplan 33 Versorgung Dr. Schäuble, Bundesminister BMI . . . 13808C, 13824 C Kühbacher SPD 13809 B Deres CDU/CSU 13812 D Such GRÜNE 13815A Frau Seiler-Albring FDP 13817 A Dr. Nöbel SPD 13819D Gerster (Mainz) CDU/CSU 13822 B Wüppesahl fraktionslos 13826 D Duve SPD 13828 C Kühbacher SPD (Erklärung nach § 31 GO) 13829A Frau Dr. Vollmer GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 13829 C Gerster (Mainz) CDU/CSU (Erklärung nach § 31 GO) 13829 D Lüder FDP (Erklärung nach § 31 GO) . 13830 B Kleinert (Marburg) GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 13830 C Namentliche Abstimmungen 13831 A Ergebnisse 13851B, 13852D Einzelplan 14 Geschäftsbereich des Bundesministers der Verteidigung in Verbindung mit Einzelplan 35 Verteidigungslasten im Zusammenhang mit dem Aufenthalt ausländischer Streitkräfte (Drucksache 11/5576) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt IV: Beratung der Beschlußempfehlung des Petitionsausschusses: Sammelübersicht 123 zu Petitionen (Drucksache 11/5150) in Verbindung mit Tagesordnungspunkt V: Beratung der Beschlußempfehlung und des Berichts des Verteidigungsausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Frau Fuchs (Verl), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Rücktritt der Bundesrepublik Deutschland von dem Entwicklungsvorhaben „Europäisches Jagdflugzeug/Jagdflugzeug 90" zu dem Antrag der Fraktion DIE GRÜNEN: Ausscheiden der Bundesrepublik Deutschland aus dem Entwicklungsvorhaben Jagdflugzeug 90 (Drucksachen 11/3018, 11/3592, 11/4269) Horn SPD 13832 B Müller (Wadern) CDU/CSU 13834 A Kleinert (Marburg) GRÜNE 13837 B Frau Seiler-Albring FDP 13839 D Dr. Stoltenberg, Bundesminister BMVg . 13842 D Kühbacher SPD 13846 A Dr. Friedmann CDU/CSU 13849 A Namentliche Abstimmung 13850 B Ergebnis 13854 D Einzelplan 01 Bundespräsident und Bundespräsidial- amt 13854 A Einzelplan 03 Bundesrat 13854 B Einzelplan 02 Deutscher Bundestag 13854 B Einzelplan 07 Geschäftsbereich des Bundesministers der Justiz in Verbindung mit Einzelplan 19 Bundesverfassungsgericht Dr. de With SPD 13856 B von Schmude CDU/CSU 13858 A Häfner GRÜNE 13859 A Irmer FDP 13860 B Engelhard, Bundesminister BMJ 13862 D Haushaltsgesetz 1990 (Drucksachen 11/5579, 11/5580) 13864 D Beratung der Beschlußempfehlung des Haushaltsausschusses zu der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Der Finanzplan des Bundes 1989 bis 1993 (Drucksachen 11/5001, 11/5322, 11/5390, 11/5731) . . 13865A Nächste Sitzung 13865 C Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13867* A 179. Sitzung Bonn, den 30. November 1989 Beginn: 9.01 Uhr
  • folderAnlagen
    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 01.12.89* Amling SPD 30.11.89 Austermann CDU/CSU 01.12.89 Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 01.12.89 Frau Blunck SPD 30.11.89 Börnsen (Ritterhude) SPD 30.11.89 Büchner (Speyer) SPD 01.12.89 * Frau Dempwolf CDU/CSU 01.12.89 Dr. Dollinger CDU/CSU 01.12.89 Frau Fuchs (Verl) SPD 30.11.89 Dr. Haack SPD 01.12.89 Frau Dr. Hamm-Brücher FDP 01.12.89 Frhr. Heereman von Zuydtwyck CDU/CSU 01.12.89 Höffkes CDU/CSU 01.12.89 Hörster CDU/CSU 30.11.89 Ibrügger SPD 01.12.89 Jaunich SPD 01.12.89 Kißlinger SPD 01.12.9 Klein (Dieburg) SPD 01.12.89 Klein (München) CDU/CSU 30.11.89 Kolbow SPD 01.12.89 Dr. Kreile CDU/CSU 01.12.89 Kreuzeder GRÜNE 01.12.89 Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Linsmeier CDU/CSU 01.12.89 Lowack CDU/CSU 01.12.89 Frau Luuk SPD 01.12.89 Meneses Vogl GRÜNE 01.12.89 Müller (Düsseldorf) SPD 30.11.89 Niegel CDU/CSU 01.12.89 * Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 01.12. 89 Paterna SPD 01.12.89 Pfeifer CDU/CSU 01.12.89 Repnik CDU/CSU 30.11.89 Frau Rock GRÜNE 01.12.89 Frau Schilling GRÜNE 01.12.89 Schreiber CDU/CSU 30.11.89 Schröer (Mülheim) SPD 01.12.89 Schulze (Berlin) CDU/CSU 01.12.89 Seiters CDU/CSU 30.11.89 Sielaff SPD 30.11.89 Dr. Stavenhagen CDU/CSU 30.11.89 Tietjen SPD 01.12.89 Dr. Todenhöfer CDU/CSU 01.12.89 Frau Trenz GRÜNE 01.12.89 Verheugen SPD 30.11.9 Vogt (Düren) CDU/CSU 30.11.89 Dr. von Wartenberg CDU/CSU 01.12.89 Frau Wilms-Kegel GRÜNE 01.12.89 Dr. Zimmermann CDU/CSU 30.11.89 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Rudolf Dreßler


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich nehme zu Koalitionsaussagen im Augenblick keine Stellung.

    (Heiterkeit)

    Meine Damen und Herren, wir sind Zeitzeugen eines politischen Umbruchs in der DDR und den osteuropäischen Ländern, der nicht nur dort ungeahnte Veränderungen bewirken wird, sondern auch unsere sozialen Systeme beeinflußt. Ein weiterer Zuzug von Aus- und Übersiedlern wirkt sich direkt auf alle Bereiche der sozialen Sicherheit aus: Kranken- und Rentenversicherung, Arbeitslosenunterstützung und Sozialhilfe, Kindergeld, Wohngeld usw.
    Der Arbeitsmarkt, immer noch durch zwei Millionen Arbeitslose gekennzeichnet, ist ebenso betroffen wie der Wohnungsmarkt, wo Unterversorgung auf Grund sträflicher Vernachlässigung dieser Bundesregierung über Jahre mit gestiegener Nachfrage zusammentrifft.
    Die finanzpolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Frau Matthäus-Maier, hat in dieser Woche in ihrem Debattenbeitrag darauf hingewiesen, daß das Ziel der deutschen Einheit nicht den Blick dafür verstellen darf, welche Sorgen und Nöte die Menschen in der Bundesrepublik bewegen.
    Genau an diesem Punkt muß die Auseinandersetzung geführt werden. Das, was in diesen Wochen in den Schatten gestellt wurde, wird alsbald wieder zum Vorschein kommen, deutlicher, dynamischer als vorher. Nach verständlichen, ja, notwendigen Emotionen wird etwas eintreten, was ich Ernüchterung nennen will, was neue und alte Fragen aufwerfen wird.
    Der politische Umbruch in der DDR und den osteuropäischen Ländern hat dem Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung eine wochenlange Atempause verschafft. Er durfte wegtauchen. Seine Hinterlassenschaft wird von sich überschlagenden Ereignissen überdeckt.
    Für jeden von uns ist klar, daß der Haushalt von Herrn Blüm bereits Makulatur ist, bevor er heute von CDU/CSU und FDP mit geschlossenen Augen bestätigt wird.

    (Beifall der Abg. Frau Unruh [fraktionslos])

    Die großen Probleme der Bundesrepublik werden unberücksichtigt gelassen; sie bleiben ungelöst; sie werden verdrängt; Herr Blüm nimmt sie nicht zur Kenntnis. Die neuen Fragestellungen läßt der zuständige Bundesminister gar nicht erst an sich heran. Kein Thema ist zu banal für Presseverlautbarungen, kein Schatten für Spielereien eines Schattenkabinetts zu absurd, nordrhein-westfälischen Wahlkampfspiele-



    Dreßler
    reffen wird der Vorzug vor konzeptioneller Politik des Arbeitsministeriums gegeben.
    Der offene Fragenkatalog wird immer länger, die Lösungsvorschläge werden immer schwieriger.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wer hat Ihnen das aufgeschrieben? — Feilcke [CDU/CSU]: Das Schlimme ist, daß Sie das ablesen müssen!)

    Nach unserem Recht sind Bürger der DDR keine Ausländer. Wenn sie auf dem Gebiet der Bundesrepublik oder in Westberlin sind, werden sie automatisch wie Bundesbürger behandelt.

    (Dr. Rüttgers [CDU/CSU]: Das ist gut so!)

    Was das für unsere Krankenversicherung und die Arbeitslosenunterstützung bedeutet, wird nicht problematisiert.

    (Kolb [CDU/CSU]: Wie ist das mit den vielen, die sofort arbeiten?)

    Welche Wirkungen sich für das Kindergeld oder die Sozialhilfe ergeben, steht nicht zur Diskussion.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wollen Sie die Grenzen schließen?)

    Die Auswirkungen für die Rentenversicherung stehen nicht im Plan der Öffentlichkeitsarbeit des zuständigen Bundesministers.
    Wir müssen aber Klarheit schaffen, ob wir in einer völlig veränderten sozialen und politischen Situation in den osteuropäischen Ländern noch so tun können, als regele sich die soziale Dimension dieses Vorgangs von selbst.

    (Feilcke [CDU/CSU]: Herr Dreßler schönhubert!)

    Ob die Regelungen des Lastenausgleichs, des Häftlingshilfegesetzes, des Bundesvertriebenengesetzes und anderer speziell auf die Nachkriegssituation zugeschnittener Gesetze heute noch eine zeitgemäße Antwort sind, steht nicht im Spielplan der Bundesregierung.

    (Kolb [CDU/CSU]: Wer hat denn das Fremdrentengesetz gemacht?)

    Abwarten, ein weiterer Versuch, die Probleme auszusitzen, wird unweigerlich zur Folge haben, daß die Sozialpolitik erneut als Reparaturbetrieb für nicht vorhandene Lösungskompetenz der Wirtschafts- und Finanzpolitik herhalten muß.

    (Beifall bei der SPD — Kolb [CDU/CSU] : Machen Sie einmal einen Lösungsvorschlag!)

    Wir befürchten, daß diese bewußte Untätigkeit zu weiteren Fehlsteuerungen auf entscheidenden Gebieten führen kann.
    Der rasante Anstieg der Sozialhilfeaufwendungen bei den Gemeinden wird nicht gebremst; wir sind heute schon bei 28 Millionen DM. Wenn der Paritätische Wohlfahrtsverband in diesen Tagen von sechs Millionen Menschen spricht, die unterhalb der
    Armutsgrenze leben, dann müßten die zuständigen Minister zu Höchstleistungen getrieben werden.

    (Frau Unruh [fraktionslos]: Allerdings! — Kolb [CDU/CSU]: Die Zahlen haben sie leider nicht bewiesen!)

    Herr Blüm aber verschleudert seine Energie bei dem Versuch, Fußballtrainer oder Dressurreiter in den nordrhein-westfälischen Landtag zu bringen.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Billig! — Weiterer Zuruf von der CDU/ CSU: Primitiv!)

    Seit 1982 sank der Anteil der Arbeitnehmer am gesamten Nettovolkseinkommen um 9,1 auf 57,2 %. Das ist der niedrigste Anteil der Arbeitnehmer am gesamten Nettoeinkommen seit 1950. Solche Politikergebnisse müßten einen Arbeitsminister Partei für die Benachteiligten ergreifen lassen. Herr Blüm läßt aber solche Negativrekorde nicht auf seinem Themenkatalog erscheinen.

    (Kolb [CDU/CSU]: Sie haben aber auch Freizeit statt Lohnerhöhung gewollt!)

    Korrekturen falscher Politik, Nachdenklichkeit über eigene Politikergebnisse, das Eingeständnis des Irrtums, etwas falsch gemacht zu haben, gehören nicht zu den Eigenschaften, die Ihnen heute angemessen erschienen.
    Wenn wir es uns zum Ziel machen, ein Zusammenleben aller Deutschen, unter welchen Rechtskonstruktionen auch immer, unter einem Dach zu erreichen, dann müssen wir alles unternehmen, damit nicht ein Zimmer kärglich möbiliert, wenn nicht gar leer ist, und in dem anderen ein fürchterliches Gedränge herrscht.
    Wir müssen uns fragen, wie lange wir von den Beitragszahlern unserer sozialen Systeme Zustimmung erwarten können, wenn immer mehr Personen Leistungen in Anspruch nehmen, die hierzu in diesem Teil Deutschlands keinen Beitrag geleistet haben.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Was ist Ihre Antwort, Herr Dreßler? — Roth [Gießen] [CDU/ CSU]: Was heißt denn das?)

    — Hören Sie bitte zu: Wer diese Ansprüche in Zukunft unverändert gewähren will, der muß sie auch finanzieren

    (Frau Unruh [fraktionslos]: Sehr richtig!)

    und der muß den Bund in die Pflicht nehmen und nicht die Beitragszahler, Herr Feilcke.

    (Beifall bei der SPD — Frau Unruh [fraktionslos]: Jawohl! Endlich! — Hoss [GRÜNE]: Das reicht nicht!)

    Das Haushaltsgesetz trifft keine ausreichende Vorsorge zur Bewältigung der alten und neuen Arbeitsmarktprobleme. Im Laufe dieses Jahres sind bisher rund 660 000 Aus- und Übersiedler zu uns gekommen, deren berufliche Integration zu einem großen Teil noch bevorsteht. Der Bundesarbeitsminister hat über die Aus- und Übersiedler am 28. September hier gesagt — ich zitiere — :

    (Zuruf von der CDU/CSU: Fast die Hälfte arbeitet schon!)




    Dreßler
    „Sie sind geradezu eine Mentalitätshilfe. Sie bringen die Mentalität, seine Lebensgeschicke selber in die Hand zu nehmen, mit. Das könnte auch ein Schub gegen die Gesinnung einer Hängemattengesellschaft werden. "

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU — Frau Unruh [fraktionslos]: Ein Zynismus!)

    Das kann man nicht als Wahlkampfgetöse abtun — er sagte das kurz vor der Kommunalwahl in NRW — und damit vergessen. Wir lassen nicht zu, daß eine Gruppe gegen die andere ausgespielt wird, z. B. die Übersiedler gegen die Langzeitarbeitslosen. Es muß um die Gleichbehandlung gehen. Die Bürgerinnen und Bürger sind in diesem Punkt zu Recht sehr empfindlich.
    Ich kritisiere erneut: Die Bundesregierung beklagt einen Fachkräftemangel und baut gleichzeitig Qualifizierungsmaßnahmen ab.

    (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Unmöglich ist das! — Zurufe von der CDU/CSU)

    Die Eintritte in Maßnahmen der Fortbildung, der Umschulung und Einarbeitung sind in den ersten zehn Monaten dieses Jahres gegenüber dem gleichen Zeitraum des Vorjahres um rund 71 000 oder 16 zurückgegangen. Wenn wir diese amtlichen Zahlen der Bundesanstalt nennen, dann tun Sie so, als sei unsere Kritik eine bösartige Erfindung. Ich mache erneut darauf aufmerksam, daß der Umfang der Qualifizierungsmaßnahmen massiv gesteigert werden muß.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Zuruf von der SPD: Sehr gut!)

    Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat auch darauf hingewiesen. Er sagt: Insgesamt ist von einem starken Weiterbildungsbedarf auszugehen, um eine dauerhafte Eingliederung der Aus- und Übersiedler in den Arbeitsmarkt zu ermöglichen. — Ich füge hinzu: Gleiche Anstrengungen sind erforderlich, um die Integration der Arbeitslosen voranzubringen. Deshalb fordern wir eine Verdoppelung der Qualifizierungsmaßnahmen für Arbeitslose.

    (Beifall bei der SPD sowie des Abg. Hoss [GRÜNE])

    Das Lohnkostenzuschußprogramm der Bundesregierung kann nicht einmal den Abbau der Arbeitsplätze in Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kompensieren. 25 000 ABM-Plätze sind schon weg. Nach der eigenen Schätzung der Regierung sollen 17 000 Förderungsfälle erreicht werden. Mit dem Konzept der SPD zur Eingliederung Langzeitarbeitsloser würde in einem ersten Schritt die berufliche Integration von 100 000 Langzeitarbeitslosen erreicht.
    Bevor uns die Regierung nun heute wieder mit Hurrazahlen angeblicher zusätzlicher Arbeitsplätze langweilt, weise ich noch einmal darauf hin, daß das Arbeitsvolumen, also die Summe aller geleisteten Arbeitsstunden, nach Angaben des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung heute niedriger ist als zu Beginn der 80er Jahre. Verschonen Sie uns bitte mit
    erfundenen Erfolgsmeldungen. Ihre Arbeitsergebnisse sind negativ, seit 1983!

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD — Feilcke [CDU/CSU]: Beißen Sie doch einmal ins Mikrophon!)

    Wer sich im Rahmen der Beratungen des Einzelplans 11 mit der Sozialpolitik dieses Bundesarbeitsministers kritisch beschäftigt, der wird kaum an jenem Gesetz vorbeigehen können, das zu einem Synonym für soziale Ungerechtigkeit geworden ist. Ich meine das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz. Wie kein anderes Vorhaben auf der langen Liste der sozialpolitischen Grobheiten dieser Koalition pervertiert das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz den Grundgedanken sozialstaatlicher Fürsorge für Benachteiligte und in ihren Lebensverhältnissen Beeinträchtigte in das Gegenteil. Die Zielsetzung einer qualitativ hochwertigen medizinischen Versorgung im Krankheitsfalle zu sozial vertretbaren Kosten für die Beitragszahler wird mit diesem Gesetz umgebogen zu dem Versuch, die soziale Krankenversicherung zu einem Instrument der Senkung der sogenannten Lohnnebenkosten zu mißbrauchen.
    Die von den Koalitionsfraktionen und der Bundesregierung im Zusammenhang mit dem sogenannten Gesundheits-Reformgesetz durchgesetzte Teilabsicherung für die Pflegebedürftigen und die dazu angeführte Begründung offenbaren geradezu klassisch die Pervertierung einer solidarischen Sozialpolitik in ihr Gegenteil. Da werden durch drastische Erhöhung der Selbstbeteiligungen der Kranken und durch Leistungskürzungen Einsparungen erzwungen, und die Notwendigkeit dieser Einsparungen wird wie folgt begründet: Man braucht dieses Geld zur besseren Absicherung der Pflegebedürftigen.

    (Frau Unruh [fraktionslos]: Genau!)

    Einer Gruppe von Benachteiligten wird Geld aus der Tasche gezogen, um damit einer anderen Gruppe von Benachteiligten zu helfen. Dies ist Sozialpolitik nach dem Motto: Die Benachteiligten finanzieren sich ihre Hilfen selbst. Mit Solidarität, meine Damen und Herren, hat das nichts zu tun. Dies ist das krasse Gegenteil.

    (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frau Unruh [fraktionslos] — Zuruf von der CDU/ CSU: Die Überforderungsklausel haben Sie nie zur Kenntnis genommen!)

    Nachdem das sogenannte Gesundheits-Reformgesetz nun seit fast einem Jahr in Kraft ist, besteht Anlaß zur Prüfung der Fragen, ob denn nun die versprochenen Kosteneinsparungen in der Krankenversicherung erreicht worden sind

    (Zuruf von der CDU/CSU: Die sind schon da!)

    und ob sich das zugrundeliegende finanzielle Konzept erfüllt hat. Der Bundesarbeitsminister verdient es, daran erinnert zu werden, was er den Bügerinnen und Bürgern im Zusammenhang mit diesem Gesetz versprochen hat, nämlich Beitragssatzsenkungen.

    (Kolb [CDU/CSU]: Ja, die kommt auch! — Scharrenbroich [CDU/CSU]: An diese Rede werden Sie noch oft erinnert, Herr Dreßler!)




    Dreßler
    Es ist notwendig, ihn daran zu erinnern, weil er so tut, als sei mit der derzeit erreichten Beitragssatzstabilisierung das Ziel seines Gesetzes erreicht.

    (Scharrenbroich [CDU/CSU]: Das stört Sie wohl? — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist es ja wohl auch!)

    — Nein, meine Damen und Herren, das ist nicht erreicht. Das Ziel wurde verfehlt. Beitragssatzsenkungen hat es bisher nicht gegeben,

    (Kolb [CDU/CSU]: Sie kommen in breitem Maße!)

    allenfalls Beitragssatzstabilität.
    Was die Zukunft angeht, so ist die Prognose aller Krankenkassenverbände eindeutig. Mehr als Beitragssatzstabilität — vielleicht auch geringfügige Beitragssatzsenkungen — ist nicht erreichbar.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Ist das denn nichts? — Kolb [CDU/CSU]: Bei Ihnen ging es immer nur nach oben!)

    Und so sehen denn auch die Beitragssatzkalkulationen der einzelnen Krankenkassen für das kommende Jahr 1990 aus. Von den 268 Ortskrankenkassen können rund 50 die Beitragssätze geringfügig senken, und das war es dann auch schon.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Bei Ihnen wäre das System schon längst kaputt!)

    Die durchschnittliche Beitragssatzbelastung der Versicherten wird sich kaum verändern. Wenn man ganz großzügig rechnet, wird der durchschnittliche Beitragssatz 1990 von derzeit rund 12,8 % auf rund 12,6 % sinken.

    (Feilcke [CDU/CSU]: Bei Ihnen wäre er erheblich gestiegen! — Zuruf von der CDU/ CSU: Ist das nichts?)

    — Wissen Sie, was das ausmacht, Sie Zwischenfrager. Für einen Durchschnittsverdiener mit 3 500 DM brutto sinkt der monatliche Krankenversicherungsbeitrag von 451,50 DM auf 441 DM.

    (Feilcke [CDU/CSU]: Bei Ihnen wäre er auf 700 DM gestiegen!)

    Der Beitragszahler, meine Damen und Herren, spart also bei dieser gloriosen Reform 10,50 DM im Monat. Wenn dieser Arbeitnehmer von diesen gesparten 10,50 DM die Hälfte an seinen Arbeitgeber abgeliefert hat, bleiben ihm selbst ganze 5,25 DM, d. h. 63 DM im Jahr.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    Diesem Arbeitnehmer, der jährlich 63 DM Krankenversicherungsbeitrag spart, muten Sie im Krankheitsfall bis zu 840 DM im Jahr an zusätzlichen Selbstbeteiligungen zu. So sieht Ihre Rechnung aus. 63 Mark spart der Arbeitnehmer und 840 DM zusätzlich muß er bei Krankheit ausgeben. Das ist Ihre soziale Gerechtigkeit. Da können Sie noch so viele Erfolgsmeldungen in noch so vielen Pressekonferenzen vortragen, die Bürgerinnen und Bürger haben begriffen, was dieses Gesetz für sie bedeutet: Abkassieren im Krankheitsfall. Die SPD-Fraktion, meine Damen und Herren, lehnt — nicht nur aus diesem Grunde — den Einzelplan 11 ab.

    (Beifall bei der SPD)



Rede von Dr. Annemarie Renger
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)
Meine Damen und Herren, das Wort hat der Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, Dr. Blüm.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Norbert Blüm


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Abgeordnete Dreßler hat sich würdig in die Reihe von Oskar Lafontaine eingereiht. Soziale Kälte gegen unsere Mitbürger, gegenüber unseren Landsleuten, die zu uns kommen,

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD)

    das ist ein Verrat an den besten sozialdemokratischen Traditionen. Er hat mit dieser Rede nichts anderes mobilisiert als die primitiven Instinkte von Besitzbürgern, die mit den Ellbogen die Fleischtöpfe der Wohlstandsgesellschaft Bundesrepublik verteidigen. Dies ist Chauvinismus, klassischer Chauvinismus, diesmal sozialpolitischer Natur.

    (Abg. Schreiner [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

    — Nein, ich stelle meinen Beitrag im Zusammenhang dar. — Ich fordere die Opposition auf, zu den besten Traditionen der Solidarität zurückzukommen, zu den besten Traditionen; denn zur nationalen Identität, wie ich sie verstehe, gehört auch, daß die Deutschen zusammenhalten. Unsere Landsleute, die zu uns gekommen sind, sind nicht aus Lust und Laune zu uns gekommen, sondern weil sie den Sozialismus satt hatten, weil sie unter dem Sozialismus gelitten haben; deshalb sind sie zu uns gekommen.

    (Heyenn [SPD]: Aber alle sollten zusammenhalten!)

    — Alle sollten zusammenhalten.
    Und was diese billigen Gags anbelangt von wegen Fußballtrainer und Dressurreiter: ich stehe hier vor Ihnen nach einer Legislaturperiode mit zwei großen Reformen: Krankenversicherungsreform und Rentenreform. Keine einzige davon haben Sie in 13 Jahren Ihrer Regierung zustande gebracht, keine einzige!

    (Beifall bei der CDU/CSU — Zurufe von der SPD)

    Beide Reformen sind keineswegs erst die Notwendigkeit dieser Legislaturperiode. Sie waren lange Zeit erkennbar.

    (Fuchtel [CDU/CSU]: Sehr genau!)

    Was den Vorwurf des Abkassierungsmodells anbelangt: Das Abkassieren haben wir eingestellt, denn die Beiträge der Arbeitnehmer sind Jahr für Jahr gestiegen. Das war das klassische sozialdemokratische Abkassierungsmodell. Selbst Beitragsstabilität ist ein Fortschritt, aber wir werden auch zu Beitragssenkungen kommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD)




    Bundesminister Dr. Blüm
    Was die Lohnquote anbelangt, lieber Kollege Dreßler, dürfte es Ihnen doch nicht entgangen sein, daß, wenn man einen Teil des Produktivitätsfortschrittes in Arbeitszeitverkürzungen steckt, die Lohnquote dann sinkt.

    (Dreßler [SPD]: Die Lohnquote, die diese Regierung bekämpft hat!)

    Dann können Sie sich doch nicht anschließend beschweren.

    (Dreßler [SPD]: Ich beschwere mich nicht!)

    Aber vielleicht ist es für die Arbeitnehmer viel interessanter, wie sich ihre realen Einkommen verändert haben. Wenn wir hier schon eine Debatte mit Statistiken führen, habe ich dies nachzutragen. Realer Verdienstrückgang 1981: minus 1,7 %; realer Verdienstrückgang 1982: minus 2,3 % unter einer SPD-geführten Regierung; realer Verdienstzuwachs 1986: plus 4,2 %; 1987: plus 1,8 %; 1988: plus 2,2 % unter der jetzigen Regierungskoalition.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Alles Verdienste der CDU!)

    Und jetzt frage ich Sie: Lohnquote hin, Lohnquote her — wovon hat der Arbeitnehmer mehr? Wenn sein realer Verdienst steigt, und das ist unter der Verantwortung dieser Regierung geschehen, dann ist das ein sozialer Fortschritt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Und jetzt noch zu Ihnen, Frau Unruh. Wenn der Fall, den Sie so schildern — ich kenne ihn nicht — , so vorgekommen sein soll, wenn ein Arzt einen Gelähmten als nicht schwerstpflegebedürftig anerkennt, dann ist das ein Unrecht, das man beseitigen muß. Aber Sie sollten diesen einzelnen Fall nicht zur Erklärung des gesamten Sozialstaates benutzen, denn voraussichtlich an die 100 000 Mitbürger, die Angehörige pflegen, werden in diesem Jahr zum erstenmal Urlaub machen können, weil durch das Gesundheits-Reformgesetz eine Vertretungskraft gestellt wird.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Da sollten Sie nicht diesen einen Fall, den ich, wenn er so stimmt — halbe Wahrheiten sind so schlimm wie ganze Lügen — , genauso ablehne wie Sie, zugrunde legen.

    (Kolb [CDU/CSU]: Frau Unruh erzählt immer nur halbe Wahrheiten!)

    Der Medizinische Dienst — ich will es noch einmal sagen — ist im übrigen nicht „mein" Medizinischer Dienst, es ist der der Selbstverwaltung. Aber es bleibt dabei: Wo jemand ungerecht behandelt wird, wird er immer unsere Hilfe finden. Auch der Einzelfall bedarf unserer Hilfe.

    (Frau Unruh [fraktionslos]: Sie sollen keine Berichte geben, Sie sollen Prozesse führen!)

    Nun, ich wollte diese Debatte eigentlich zum Rückblick benutzen. Sie ist ja auch ein Abschnitt unserer Sozialpolitik, der Anlaß zu Rück- und Ausblick gibt. Wir haben in diesem Jahr 40 Jahre Sozialstaat gefeiert — ein Sozialstaat, von dem ich gar nicht sage, daß wir
    ihn allein geschaffen hätten. Da haben Millionen von fleißigen Arbeitnehmern mitgewirkt. Da haben die Parteien dieses Bundestages — auch die SPD — mitgewirkt. Aber wir können doch gemeinsam — bei allem Streit — stolz sein, daß wir uns einen solchen Sozialstaat, wie es kaum einen zweiten auf der Welt gibt, geschaffen haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Stellen wir doch unsere gemeinsamen Leistungen bei allem Streit nicht unter den Scheffel.
    Ich frage mich nur, wie geht es mit dem Sozialstaat weiter. Eine solche Debatte sollte auch einmal zu einem Ausblick genutzt werden, und nicht nur zu diesem üblichen Schlagabtausch. Kann es einfach so weitergehen, daß Sozialleistungen nur ausgedehnt werden? Wollen wir mit unserem Sozialstaat diesen Weg beschreiten? Das Sozialbudget umfaßt jetzt rund ein Drittel des Sozialproduktes. Ich frage Sie: Können wir das noch weiter steigern? Die Ausgaben der Rentenversicherung sind inzwischen mehr als zwei Drittel so hoch wie die gesamten Ausgaben des Bundeshaushaltes. Wenn Sie die Ausgaben von Krankenversicherung, Arbeitslosenversicherung, Unfallversicherung und Rentenversicherung zusammenzählen, davon den Bundeszuschuß noch abziehen, dann ist das mehr als der ganze Bundeshaushalt. Salopp gesprochen, die Sozialversicherung könnte den Bundeshaushalt kaufen. Wollen Sie das alles weiter steigern?
    Zwei Monatsausgaben der Rentenversicherung sind deutlich höher als die Gesamtausgaben von Bund und Ländern für die Hochschulen. Um weitere Disproportionalitäten darzustellen: Bund, Länder und Gemeinden geben für Kultur nicht viel mehr aus als die gesetzliche Krankenversicherung für Zahnersatz.