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    Plenarprotokoll 11/177 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 177. Sitzung Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 13479 A Nachträgliche Überweisung eines Antrages — Drucksache 11/5692 — an den Haushaltsausschuß 13479 B Zusatztagesordnungspunkt: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik der Straßenverkehrsunfälle (Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz) (Drucksache 11/5464) . . 13479A Tagesordnungspunkt I: Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1990 (Haushaltsgesetz 1990) (Drucksachen 11/5000, 11/5321, 11/5389) Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes Dr. Vogel SPD 13479 D Dr. Bötsch CDU/CSU 13488 C Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 13492 B Dr. Graf Lambsdorff FDP 13496 A Dr. Kohl, Bundeskanzler 13502 D Voigt (Frankfurt) SPD 13514 B Bohl CDU/CSU 13516A Frau Eid GRÜNE 13518 C Genscher, Bundesminister AA 13520 B Dr. Meisner, Senator des Landes Berlin . 13523 C Wüppesahl fraktionslos 13525 A Frau Dr. Vollmer GRÜNE 13527 A Roth SPD 13527 D Austermann CDU/CSU 13529 C Jungmann (Wittmoldt) SPD 13532 A Namentliche Abstimmung 13533 D Ergebnis 13536 B Einzelplan 27 Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen Hiller (Lübeck) SPD 13534 A Dr. Neuling CDU/CSU 13538 A Frau Frieß GRÜNE 13541 D Hoppe FDP 13544 A Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMB . 13545 D Frau Terborg SPD 13548 D Lintner CDU/CSU 13550 D Heimann SPD 13552 C Weisskirchen (Wiesloch) SPD 13553 B Stratmann GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 13555 A Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts Waltemathe SPD 13555 C Dr. Rose CDU/CSU 13557 C Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 13561 B Hoppe FDP 13563 A Stobbe SPD 13564 A II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 177. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 Frau Beer GRÜNE 13567 D Genscher, Bundesminister AA 13568 C Einzelplan 10 Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Diller SPD 13572 C Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU 13574 B Frau Flinner GRÜNE 13576 C Bredehorn FDP 13578 C Kiechle, Bundesminister BML 13579 C Koltzsch SPD 13582 B Einzelplan 13 Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation Frau Faße SPD 13584 B Bohlsen CDU/CSU 13587 D Hoss GRÜNE 13589 C Funke FDP 13590 D Dr. Schwarz-Schilling, Bundesminister BMPT 13591 D Nächste Sitzung 13594 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13595* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 177. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 13479 177. Sitzung Bonn, den 28. November 1989 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 01. 12. 89 * Amling SPD 28.11.89 Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 01. 12. 89 Frau Dempwolf CDU/CSU 01. 12. 89 Dr. Dollinger CDU/CSU 01. 12. 89 Engelsberger CDU/CSU 29.11.89 Graf SPD 28.11.89 Dr. Haack SPD 01. 12. 89 Frhr. Heereman von CDU/CSU 28. 11. 89 Zuydtwyck Dr. Hennig CDU/CSU 29. 11. 89 Frau Hensel GRÜNE 28. 11. 89 Frau Hoffmann (Soltau) CDU/CSU 28. 11. 89 Höffkes CDU/CSU 01. 12.89 Hörster CDU/CSU 28. 11.89 Kißlinger SPD 01. 12.89 Klein (Dieburg) SPD 01. 12. 89 Dr. Klejdzinski SPD 28. 11. 89* Linsmeier CDU/CSU 01. 12.89 Frau Luuk SPD 01. 12. 89 Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Lüder FDP 28.11.89 Meneses Vogl GRÜNE 01. 12. 89 Mischnick FDP 28.11.89 Niegel CDU/CSU 01. 12. 89 * Poß SPD 28. 11.89 Rappe (Hildesheim) SPD 28. 11. 89 Frau Rock GRÜNE 01. 12. 89 Frau Schilling GRÜNE 28. 11. 89 Frau Schoppe GRÜNE 28. 11. 89 Schreiber CDU/CSU 30. 11.89 Schröer (Mülheim) SPD 01. 12. 89 Schulze (Berlin) CDU/CSU 01. 12. 89 Singer SPD 28. 11.89 Dr. Stark (Nürtingen) CDU/CSU 28. 11. 89 Dr. Stoltenberg CDU/CSU 28. 11. 89 Tietjen SPD 01. 12.89 Dr. Todenhöfer CDU/CSU 28. 11. 89 Verheugen SPD 30. 11.89 Vosen SPD 28. 11.89 Dr. Warnke CDU/CSU 28. 11. 89 Werner (Ulm) CDU/CSU 28. 11. 89 Frau Wilms-Kegel GRÜNE 01. 12. 89 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
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    Rede von Dietrich Stobbe


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich muß sagen, daß die Debatte heute morgen über den Kanzleretat bei mir viele Erinnerungen freigesetzt hat, die auch jetzt — nach nun schon fast neun Stunden Debatte — noch nicht abgeklungen sind. Da hat die Bundesrepublik Deutschland jetzt also wieder einen Plan, einen Zehn-Punkte-Plan für die Deutschlandpolitik. Das ist in der Geschichte der Bundesrepublik nun weiß Gott nicht der erste. Aber Bundeskanzler Kohl hat die Frage der Einheit, über die wir heute hier so viel und zu Recht diskutieren, an das Ende eines Prozesses gesetzt, an dem alle Europäer teilnehmen müssen, um die Spaltung des Kontinents zu überwinden.
    Dabei ist mir in Erinnerung gekommen, daß das nicht immer so war. Ich darf an die Debatten in den 50er und 60er Jahren in diesem Haus erinnern. In diesen Debatten ging es darum, daß die Wiedervereinigung gerade von der CDU zur Voraussetzung, ja, zur Vorbedingung dafür gemacht wurde, daß sich in Europa irgend etwas bewegen sollte. Erst sollte der große Schritt für die Deutschen gegangen werden; dann mochte das andere kommen.
    Ich erinnere mich gleichzeitig daran, daß wir Sozialdemokraten uns damals, Ende der 60er Jahre, mit unserer Ostpolitik für den anderen Weg, für den langen, den schwierigen Weg, den mühsamen Weg des europäischen Interessenausgleichs über die Politik der kleinen Schritte entschieden haben. Ich erinnere mich auch noch daran, welch leidenschaftliche Diskussion das hier im Bundestag und im ganzen deutschen Volk ausgelöst hatte und wieviel Widerstand dem entgegengesetzt wurde.
    Nun setzen wir uns also mit dem heutigen Plan auseinander. Wenn ich das so geschichtlich sehe, dann muß ich sagen: Bei dieser Seite des Deutschen Bundestages ist doch ganz schön viel deutschlandpolitischer Realismus eingekehrt. Ich glaube auch, daß er uns Deutschen guttun wird, weil wir jetzt konkret Schritt für Schritt weiterarbeiten können, und zwar immer im europäischen Verbund; denn sonst versteuern wir uns eh.
    Deshalb hat die SPD durch ihren Sprecher Karsten Voigt ja auch im Prinzip zugestimmt. Ich glaube, da wir uns jetzt hier im Bereich der Außenpolitik befinden, daß sich das, was da an gemeinsamer Kraft generiert werden könnte, positiv auf bestimmte Aufgaben der Außenpolitik, die ich als ganz dringlich ansehe, auswirken kann. Denn wir wissen doch, daß wir Deutsche von dem Demokratisierungsprozeß in Osteuropa aus zwei Gründen in ganz besonderer Weise betroffen sind: wegen der Verantwortung, die uns unsere Geschichte auferlegt, und wegen der Teilung unseres Landes.
    Die Bundesrepublik Deutschland muß sich deshalb, was die Außenpolitik angeht, intensiver als andere westliche Staaten für eine weitsichtige und weitgreifende Ostpolitik der Europäischen Gemeinschaft und des gesamten westlichen Bündnisses einsetzen. Das ist meine These. Die Bundesrepublik Deutschland muß gerade jetzt wie auch am Beginn der Ostpolitik in den 60er Jahren um eine kluge und um Verständnis werbende Westpolitik bemüht sein, weil die vor uns stehenden Aufgaben nur in engster Abstimmung mit unseren Freunden zu meistern sein werden, weil es sich eben um eine gesamteuropäische und nicht nur um eine deutsche Aufgabe handelt.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der FDP)

    Die SPD-Bundestagsfraktion hat deshalb in den vergangenen Tagen Gespräche in Washington und in einer Reihe von europäischen Hauptstädten geführt, um ihre eigene Position dort darzulegen und die Einschätzungen der dortigen Regierungen und Parlamente kennenzulernen.
    Wir müssen es uns ja wohl ganz nüchtern eingestehen: Die Demokratiebewegung in Osteuropa löst in Westeuropa und gerade auch in Amerika Begeisterung aus. Aber die Osteuropäer finden im Westen, wenn es materiell konkret wird, bislang nur sehr zögerlich Antworten. Die Bundesrepublik ist in einer Vorreiterrolle, zumindest gegenüber Polen und Ungarn.
    Ich denke, wir könnten uns im Bundestag sehr leicht darauf verständigen, daß es darauf ankommt, darauf hinzuwirken, daß sich der gesamte Westen in diesem Prozeß engagiert, und zwar durchaus auch materiell, und daß der Westen mit der Formierung seiner Politik gegenüber den Demokratiebestrebungen in Osteuropa und deren wirtschaftlicher Abstützung nicht so lange warten darf, wie er auf die Abrüstungsinitiativen Gorbatschows gewartet hat. Das darf jedenfalls nicht passieren.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Bislang sind die Ansätze im Westen trotz Gipfels und anderer Dinge also noch keineswegs fest.
    Aber es gibt auch einiges, was ich ausdrücklich begrüßen möchte. Es ist z. B. begrüßenswert, wenn die amerikanische Administration erklärt, daß der Westen die Entwicklung in Osteuropa sicherheitspolitisch nicht gegen die Sowjetunion ausnutzen werde. Diese kluge Zurückhaltung, die wohl nicht jeder in der Bundesrepublik von den USA erwartet hat, wenn man an die Rhetorik früherer Jahre zurückdenkt, schafft nach meiner Meinung ein Stück notwendiger Ost-West-Stabilität, die dem Demokratisierungsprozeß in Osteuropa zugute kommen wird.



    Stobbe
    Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Die Art und Weise, wie das Gipfeltreffen im Mittelmeer vorbereitet wird, nimmt den Europäern in West und Ost die Befürchtung, sie könnten durch zweiseitige Abmachungen der Supermächte überrascht oder gar überrannt werden, wie das in der Vergangenheit ja gelegentlich der Fall war.

    (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Im Gegensatz zu Reykjavik!)

    — Ich dachte, ehrlich gesagt, weniger an Reykjavik. Als Berliner dachte ich an Wien und an Kennedy und Chruschtschow.
    Was in Malta besprochen werden wird, wird eben nicht Jalta sein, auch wenn sich die beiden Namen reimen. Jedenfalls gilt doch: Ein funktionierender und immer breiter angelegter Dialog zwischen den Supermächten ist die erste Grundvoraussetzung für die Aufrechterhaltung des Friedens und gerade auch für die sich jetzt so stark abzeichnende Chance, das Zusammenwachsen der europäischen Staaten voranzubringen. Deswegen müssen wir unseren Einfluß auf die USA und, wenn es geht, auch auf die Sowjetunion so wahrnehmen, daß aus diesem Superdialog möglichst viel Gutes gerade auch für Europa herauskommt. Denn wenn Europa aus der neu entstandenen Lage etwas Gutes für die Zukunft machen will, dann muß es zuallererst daran interessiert sein, daß der Ost-WestAbrüstungsprozeß weitergeht, und zwar aus sicherheitspolitischen wie aus ökonomischen Gründen.

    (Beifall bei der SPD)

    Die SPD ist in Washington für eine quantitative und qualitative Akzeleration des Abrüstungsprozesses eingetreten.

    (Voigt [Frankfurt] [SPD]: Abrüstungswettlauf wollen wir!)

    Das gilt einmal für das START-Abkommen. Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß dieses Abkommen zwar in erster Linie das Verhältnis zwischen den beiden Supermächten berührt, daß es aber natürlich auch seine sicherheitspolitischen Rückwirkungen auf Europa hat. Es wäre für uns alle wünschenswert, wenn in Malta politische Fortschritte für das anvisierte START-Abkommen erzielt würden.

    (Beifall bei der SPD)

    Das gilt natürlich auch und erst recht für die konventionelle Abrüstung. Da erwarten wir alle, daß Wien im nächsten Jahr einen großen Fortschritt bringt in der Beseitigung der Asymmetrien bei den Streitkräften beider Bündnisse.
    Für mich war es wichtig, in der vergangenen Woche in Washington mitzuerleben, daß die Bereitschaft dort wächst, bereits jetzt und nicht erst, wenn das erste Abkommen geschlossen oder gar implementiert ist, darüber nachzudenken, wie man in eine zweite Stufe gehen könnte, wenn es denn zu den echten Reduzierungen kommt.
    Ich will hier nur darauf hinweisen, daß die Ankündigungen des amerikanischen Verteidigungsministers über Kürzungen in Höhe von 180 Milliarden Dollar im Verteidigungshaushalt der USA im Verlauf von fünf Jahren wohl den Wandel deutlich machen, der heute auch in den USA in dieser Frage eingetreten ist.

    (Sehr richtig! bei der SPD)

    Mir liegt daran, den Bundestag zu erinnern, daß die SPD-Bundestagsfraktion hier ihre Schularbeiten gemacht hat. Wir sind, glaube ich, die einzige Fraktion in diesem Haus, die ein „Sicherheitskonzept 2000" vorgelegt hat, wo wir unsere Vorstellungen für Reduzierungen und Umstrukturierungen der Streitkräfte in Europa darlegen. Es war interessant, zu sehen, daß die SPD mit diesem Konzept in den Vereinigten Staaten Diskussionspartner und Gesprächspartner findet.
    Für die westliche Sicherheitspolitik muß jedenfalls eines klar sein: Der Abrüstungsprozeß in Europa und die dadurch freizusetzenden Ressourcen sind eine weitere entscheidende Voraussetzung für eine erfolgreiche gesamteuropäische Zusammenarbeit.

    (Beifall bei der SPD)

    Lassen Sie mich hier anfügen: Die SPD hat immer klargemacht und tut es hier heute wieder, daß ihrer Auffassung nach die von der NATO in Aussicht genommene Modernisierung von atomaren Kurzstrekkenraketen schon immer falsch war, aber in das heutige Europa nun schon überhaupt nicht mehr paßt.

    (Beifall bei der SPD)

    Auch hier ist nicht versteckte Aufrüstung, sondern Abrüstung notwendig.
    Meine Damen und Herren, auch die weitere konzentrierte Arbeit am Helsinki-Prozeß bleibt eine unbedingte Notwendigkeit für den gesamten Westen. Dabei muß und kann die wirtschaftliche Dimension dieses Prozesses in dem Maße in den Vordergrund rücken, in dem die Freiheitsfrage zunehmend gelöst wird.
    Bei der Wahrnehmung dieser wirtschaftlichen Aufgabe deuten sich innerhalb der westlichen Staatengemeinschaft bedeutsame Veränderungen an, auf die ich ausdrücklich aufmerksam machen will. Präsident Bush selbst hat vorgeschlagen, daß die EG die Koordinierung der wirtschaftlichen Hilfe für Polen und Ungarn übernehmen solle. Was bedeutet das? Das bedeutet, daß das, was die Vereinigten Staaten unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg als unbestrittene Weltwirtschaftsmacht Nummer eins mit dem Marshallplan gegenüber Westeuropa leisteten, hinsichtlich der Umstrukturierungshilfen für Osteuropa jetzt zu einer Aufgabe für die EG wird. Darin drückt sich eine Anerkennung der westeuropäischen Integrationsleistung durch die USA aus und auch eine Anerkennung der EG als politischer Akteur in der Weltpolitik. Wir Sozialdemokraten möchten hoffen und wünschen, daß die EG dieser Aufgabe auch wirklich gerecht wird.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir möchten uns auch bei der Beratung dieses Etats ausdrücklich dazu bekennen, daß der westeuropäische Integrationsprozeß weitergeführt, nicht etwa angesichts der neuen Lage in Osteuropa abgebremst wird. Allerdings fügen wir hier etwas hinzu — wir hoffen, daß die Bundesregierung uns hört — : Dieser Integrationsprozeß muß den Berg der noch ungelösten



    Stobbe
    Probleme auch wirklich bewältigen und darf vor allen Dingen nicht einseitig verlaufen. Wir brauchen die Schaffung einer Sozialcharta. Wir müssen in den Währungsfragen weiterkommen. Wir müssen die EG vor allen Dingen demokratisieren, z. B. dadurch, daß die parlamentarische Kontrolle durch das Europäische Parlament gestärkt wird.

    (Beifall bei der SPD sowie der Abg. Frau Dr. Hellwig [CDU/CSU])

    Undenkbar für mich wäre, daß wir in eine Situation hineinlaufen, in der die EG Partner sich entwickelnder Demokratien in Osteuropa wird, aber selbst Demokratiedefizite hat.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Meine Damen und Herren, die EG und die NATO, wenn sie denn zu einer einheitlichen Osteuropa- oder Ostpolitik kommen, müssen von einer möglichst einheitlichen Bewertung der Entwicklungen ausgehen, die sich im Warschauer Pakt abspielen. Heute wissen wir, daß Gorbatschow einer Transformation des Sicherheitskordons, wie ihn Stalin konzipierte und brutal durchsetzte, nicht nur keine Steine mehr in den Weg legt, sondern sie sogar bewußt fördert.
    Von Stalin bis Breschnew war die sowjetische Politik gegenüber den kleineren Warschauer-Pakt-Staaten durch vier Kernelemente gekennzeichnet: erstens durch die Sowjetisierung der Gesellschaften der kleineren Warschauer-Pakt-Staaten, zweitens durch die sowjetische Garantie der Monopolstellung der kommunistischen Parteien, drittens durch die Sicherung dieser Gesellschaftssysteme mit der Sowjetarmee, notfalls im Wege der Intervention, und viertens durch die Sicherung des territorialen Status quo in Europa mit den sowjetischen Streitkräften.
    Wir sind inzwischen in einer Situation, in der die ersten drei dieser vier Kernelemente weggefallen sind. Wir müssen uns fragen, ob Moskau das nur toleriert, hinnimmt oder ob diese Umformung von Stalins Sicherheitsgürtel in Moskau einkalkuliert und rational verarbeitet wurde. Ich glaube, das letztere ist der Fall; darauf deuten alle Anzeichen hin.
    Aus der Sicht Moskaus sollen und können die kleineren Warschauer-Pakt-Staaten eine Brückenfunktion zu den EFTA-Staaten Europas und zur EG hin erhalten. Die heutige sowjetische Führung weiß ganz offensichtlich, daß die westlichen Demokratien gar nicht anders können, als den demokratischen Transformationsprozeß in Europa aktiv zu unterstützen, vor allem wirtschaftlich, versündigten sie sich nicht an ihren eigenen Wertevorstellungen. Ein solcher Unterstützungsprozeß liegt heute im sowjetischen Eigeninteresse, weil die Sowjetunion ihren Weg aus der wirtschaftlichen Selbstisolierung finden muß und über eine solche Brücke den wirtschaftlichen Austausch mit dem Westen besser organisieren kann als innerhalb des bestehenden RGW-Systems. Das, was Sie, Herr Außenminister, vorhin in der Debatte dazu gesagt haben — daß wir die Sowjetunion bei der Kooperation gerade im wirtschaftlichen Bereich nicht aus dem Blick nehmen dürfen — , kann man nur voll unterstützen.
    Meine Damen und Herren, was ist das, wenn wir den Warschauer Pakt heute betrachten und die letzten Jahrzehnte Revue passieren lassen, für eine Veränderung innerhalb weniger Jahre! Die Chancen, die sich daraus ergeben, sind größer als die Risiken, die es natürlich auch gibt. Wir haben allen Grund, uns zu freuen. Wir sollten die Aufgaben, die vor uns liegen, in einem wahrhaft europäischen Geist angehen. Die Sozialdemokratie sieht das so. Sie verweist dabei nicht ohne Stolz auf den Beitrag, den sie dazu geleistet hat, daß diese Entwicklung in Europa möglich wurde.

    (Beifall bei der SPD)

    Durch kluge Analyse der Entwicklungen in Polen und Ungarn und auch durch Instinkt wissen die Menschen in der DDR, was die gegenwärtige Lage in Europa hergibt und was nicht. Dem entspricht ihre Konzentration auf die Durchsetzung von politischen und gesellschaftlich-wirtschaftlichen Veränderungen in der DDR selbst. Denn sie wissen nur zu genau, daß das vierte Kernelement sowjetischer Politik, die militärische Sicherung des territorialen Status quo oder auch, anders ausgedrückt, der Ergebnisse des Zweiten Weltkriegs, aufrechterhalten bleibt, wenn auch erklärtermaßen verbunden mit der Bereitschaft zu tiefgreifender Abrüstung.
    Wir müssen uns hier im Deutschen Bundestag darüber im klaren sein, wenn wir über die Zukunft der Deutschen sprechen, daß dieses vierte Kernelement sowjetischer Politik gegenüber Osteuropa die Frage der deutschen Einheit direkt berührt. Die Mauer war das brutale Symbol des kalten Krieges; aber sie wurde auf einer politischen Demarkationslinie errichtet, die nicht der Kalte Krieg geschaffen hat und dessen Ende wir jetzt hoffentlich erleben, sondern der von Hitler entfesselte Zweite Weltkrieg.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Sie ist eine Folge der Nachkriegsabmachungen zwischen den vier Siegermächten. Das heißt also, daß die politischen Demarkationslinien in Deutschland, in Berlin fortbestehen. Diese sind auch durch den Freiheitskampf der Menschen in der DDR nicht so ohne weiteres aufzuheben.
    Die Forderung Gorbatschows, daß auch eine veränderte DDR Teil des Warschauer Pakts bleiben müsse, drückt die Aufrechterhaltung dieser vierten Säule der sowjetischen Nachkriegspolitik gegenüber Osteuropa klar und deutlich aus. Die Wahrnehmung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen in Ost und West stößt hier an eine politische Grenze, deren Überwindung jedenfalls nicht jetzt und, wenn überhaupt, was ich hoffe, dann in einer noch weiter veränderten europäischen Landschaft möglich ist.
    In welchem Sinne die Deutschen dann ihr Selbstbestimmungsrecht wahrnehmen, ob im Sinne einer Aufrechterhaltung von zwei deutschen Staaten, im Sinne einer Konföderation oder im Sinne der Herstellung einer staatlichen deutschen Einheit bis zur OderNeiße-Grenze, wird in entscheidendem Maße davon abhängen, welches neue Sicherheitssystem für Europa gefunden wird

    (Beifall bei der SPD)




    Stobbe
    und ob bis dahin die europäischen Staaten in Ost und West demokratisch und wirtschaftlich im Sinne einer gesamteuropäischen Integration zusammengewachsen sind.

    (Beifall bei der SPD)

    Ein solcher Prozeß läßt sich heute nicht nur konzeptionell entwerfen, sondern bereits auch aktiv verfolgen. Aber wir wissen — und das wurde heute in dem Zehn-Punkte-Plan deutlich — , daß bis zu seiner Vollendung Zeit vergehen wird. Deshalb konzentrieren sich die Bürger der DDR heute zu Recht auf die Demokratisierung der Deutschen Demokratischen Republik und nicht so sehr auf die Wiederherstellung der staatlichen deutschen Einheit; das sehen sie möglicherweise als eine Abfolge.
    Dabei liegt aber auf der Hand — auch das muß deutlich sein —, daß mehr Freiheit in der DDR automatisch mehr Einheit der Nation mit sich bringt. Die Reisefreiheit hat es zutiefst bewegend demonstriert. Wenn es zur Vertragsgemeinschaft oder gar zur Konförderation kommt, wird ebenfalls größere Einheit folgen, auch wenn sie gar nicht anders konzipiert werden kann als auf der Grundlage von zwei deutschen Staaten.
    Wie es dann mit den Deutschen weitergeht, hängt entscheidend davon ab, ob die NATO und ob der Warschauer Pakt als Bündnisse mit zunehmend politischen Aufgaben — mal ein bißchen die rein militärische Sichtweise der Dinge zurückstellend — , ob eine so strukturierte NATO und ein so strukturierter Warschauer Pakt es schaffen, für Europa ein Sicherheitssystem zu konzipieren und zu installieren, das der politischen Demarkationslinien im Sinne von Jalta, im Sinne der Sicherung von politischen Einflußzonen durch Großmächte eben nicht mehr bedarf. Dieses Sicherheitssystem kann nur nach den Kriterien gemeinsamer Sicherheit ausgerichtet sein.
    Wir Sozialdemokraten verweisen auch hier auf die Denkanstöße, die wir konsequent seit Jahren in die europäische Debatte eingebracht haben.

    (Beifall bei der SPD)

    Herr Präsident, meine Damen und Herren, wir Sozialdemokraten haben diese Grundlinien deutscher Außenpolitik seit vielen Jahren vertreten und wissen uns erfreulicherweise in Übereinstimmung mit dem Außenminister, der den Einzelplan 05 hier im Deutschen Bundestag vertritt. Wir werden uns bei der Abstimmung als Oppositionspartei der Stimme enthalten. Wir werden dem Etat unsere Zustimmung aber auch deshalb nicht geben, weil wir in anderen Feldern der Außenpolitik kritische Anmerkungen zu machen haben. Herr Waltemathe hat einige Punkte genannt; ich will jetzt auf Grund der Zeit nur noch auf zwei weitere Themen eingehen.
    Herr Außenminister, am kritischsten sehen wir bei Ihnen die seltsam entschlußlose und oft gar nicht mehr einsehbare Haltung zu Rüstungsexportgeschäften der deutschen Wirtschaft. Ich sage „uneinsehbar", weil sich hier eine Gefährdung der deutschen Außenpolitik und ein Schaden für das Ansehen der Bundesrepublik Deutschland in der Welt auftun, die doch mit Händen zu greifen sind und denen Sie als Minister dennoch seltsam unschlüssig und abwartend, ja, in einem Fall sogar abwiegelnd gegenüberstehen.
    So war z. B. die Feststellung des Auswärtigen Amtes, es sei nach dem Verkauf der U-Boot-Blaupausen durch die bundeseigene Firma HDW und durch IKL kein außenpolitischer Schaden entstanden, aus meiner Sicht einfach unverantwortlich. Mußte es denn dazu kommen, Herr Minister, daß die Bundesrepublik Deutschland durch die Generalversammlung der Vereinten Nationen aufgefordert wird, staatsanwaltschaftliche Ermittlungen gegen die Beteiligten einzuleiten? Werden Sie das denn jetzt veranlassen, oder werden Sie im Kabinett darüber sprechen? Ist das jetzt etwa kein außenpolitischer Schaden?

    (Zuruf von der SPD: Und wie!)

    Die letzte Frage — ich weiß, ich muß zum Schluß kommen — : Wie steht es mit den fortlaufenden Hinweisen der amerikanischen Administration an die Bundesregierung und an Ihr Amt — man spricht von etwa 1 000 Demarchen — zu der Beteiligung deutscher Firmen an politisch gefährlichen Waffenexporten? Ich frage: Wie haben Sie die bearbeitet? Falls Sie das Wort ergreifen, könnten Sie vielleicht auch noch etwas zu möglichen Beschlüssen des Bundessicherheitsrates über den Verkauf von U-Booten nach Israel, den wir ablehnen, sagen. Falls sich da Ihre Auffassung gewandelt haben sollte, Herr Außenminister, würden wir das auch als einen sehr starken Minuspunkt in Ihrer Außenpolitik ansehen. Die Opposition hat eben die Pflicht, auf solche Punkte hinzuweisen und nicht nur die Übereinstimmungen herauszustellen, was ich allerdings auch getan habe, und zwar gerne.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat Frau Abgeordnete Beer.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Angelika Beer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Wende von den 80er zu den 90er Jahren ist von einer Umstrukturierung der europäischen Nachkriegsordnung gekennzeichnet. Zugleich herrscht allerdings in weiten Kreisen der Dritten Welt ein hohes Maß an politischer und wirtschaftlicher Unstabilität, es herrschen Hunger, Verzweiflung, Vertreibung, Ausbeutung und Bürgerkriege. Die Bundesrepublik befindet sich am Ende der 80er Jahre in einer Situation, in der sie sich der ersten Chance zu einer tatsächlichen europäischen Friedensordnung gegenübersieht. Auch wenn die Bundesregierung aus notdürftig verhüllter nationalistischer Gier, wie sie heute deutlich wurde, diese Chance vermutlich verspielen wird — von diesem Vorwurf möchte ich Sie, Herr Genscher, ausdrücklich ausnehmen — , so ist heute die Chance doch noch vorhanden, zumindest heute noch.
    Anders stellt sich die Lage jenseits des europäischen Tellerrandes dar: Dort ist von Frieden zwar manchmal die Rede, aber er wird gerade in der Dritten Welt sicher nicht zum Ausbruch kommen. Die Morde an den sechs Priestern in El Salvador durch das dortige Militär, der nicht enden wollende Bürgerkrieg im Libanon, die Kriege gegen die Kurden in der Türkei, dem Iran und dem Irak sind nur einige Beispiele für



    Frau Beer
    das noch vorhandene Potential an Konflikten und für die blutigen Arten ihrer Austragung.
    Die Beiträge der bundesdeutschen Außenpolitik zu den skizzierten Problemen sind zum einen kläglich gering, zum anderen geradezu schädlich und kontraproduktiv. Ich kann hier nur ein Beispiel ausführlich nennen: Die Türkei ist ein Land, das an der Nahtstelle zu einem der explosivsten Konfliktfelder in der Welt liegt, dem Nahen Osten und dem Mittleren Osten. Die Türkei ist ein Land, das außerdem durch ein ungeheures Maß an Repression, an Verletzung der Menschenrechte gekennzeichnet ist, eine demokratisch verkleidete Militärherrschaft. Die Türkei führt politisch und militärisch Krieg gegen die kurdische Minderheit in ihrem Land. Und die Türkei ist ein Land, in dem gerade zur Zeit ein neues, gigantisches Programm militärischer Aufrüstung durchgesetzt werden soll, nämlich 10 Milliarden US-Dollar für die Verstärkung der eigenen Rüstungsindustrie in den nächsten Jahren. Das ist für ein Entwicklungsland keine Kleinigkeit.
    Was tut die Bundesregierung angesichts dieser explosiven Mischung aus Repression, Scheindemokratie und Aufrüstung? Nimmt sie alle ihre Einflußmöglichkeiten wahr? Nein, sie unternimmt nichts. Darüber hinaus belohnt sie objektiv durch die Zahlung von Rüstungssonderhilfe und Militärhilfe diese Regierung, deren Praxis Menschenrechtsverletzungen heißt.
    Auf der anderen Seite erweist sich die Bundesregierung als weniger großzügig, wenn es um humanitäre Angelegenheiten, die ja auch von diesem Einzelplan betroffen sind, geht. So hat sie läppische 2 Millionen DM für die Opfer der irakischen Giftgasangriffe in der Türkei bereitgestellt, und zwar ausgerechnet über offizielle türkische Stellen. Das Geld selbst ist nach Aussagen der dortigen Lagerinsassen nie dort angekommen.
    Die Bundesregierung setzt also auf die falschen Prioritäten. Statt großzügige Hilfe für Menschen, die durch politische und militärische Konflikte heute in unhaltbaren Verhältnissen leben müssen, zu leisten, liegt ihr Schwerpunkt bei einer machtpolitisch begründeten Unterstützung von Regierungen und Regimen, die auf ausgesprochen brutale Weise mit ihrer Bevölkerung umgehen.
    Herr Außenminister Genscher, durch die UN-Resolution ist die häßliche Fratze einer Regierung, die Kriegswaffenexporte an das Rassistenregime Südafrika höhergestellt hat als eine humane Politik der Menschenrechte, sichtbar geworden. Eine Politik, die legale und illegale Rüstungsexporte in einem Maße betreibt, wie es die Bundesregierung tut, hat jedes Recht verwirkt, von einer Förderung der Menschenrechte als Ziel eigener Politik zu sprechen. Die Wirkung ihrer Politik ist nämlich genau das Gegenteil.
    Diese Regierung hat versagt. Diese Regierung ist einmal mehr anzuklagen. Ich fordere Sie auf, jetzt sofort Stellung zu nehmen. Es ist peinlich genug, daß Sie es heute mittag nicht schon getan haben.
    Die kapitalistische Zwangsjacke, die heute in Ihrem Programm der DDR als Druckmittel, bevor man ihr helfen will, umgelegt worden ist, ist nicht weit von dieser Exportpolitik entfernt und zeigt, daß diese Politik nicht erstrebenswert sein kann für die demokratische Erneuerung in der DDR und in Osteuropa. Wir wollen ein friedliches Europa, ein gesamtes Europa, das mit dieser Regierung und mit dieser Politik nicht zu erreichen ist.
    Vielen Dank.

    (Beifall bei den GRÜNEN)