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ID1117706900

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    Plenarprotokoll 11/177 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 177. Sitzung Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 13479 A Nachträgliche Überweisung eines Antrages — Drucksache 11/5692 — an den Haushaltsausschuß 13479 B Zusatztagesordnungspunkt: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik der Straßenverkehrsunfälle (Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz) (Drucksache 11/5464) . . 13479A Tagesordnungspunkt I: Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1990 (Haushaltsgesetz 1990) (Drucksachen 11/5000, 11/5321, 11/5389) Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes Dr. Vogel SPD 13479 D Dr. Bötsch CDU/CSU 13488 C Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 13492 B Dr. Graf Lambsdorff FDP 13496 A Dr. Kohl, Bundeskanzler 13502 D Voigt (Frankfurt) SPD 13514 B Bohl CDU/CSU 13516A Frau Eid GRÜNE 13518 C Genscher, Bundesminister AA 13520 B Dr. Meisner, Senator des Landes Berlin . 13523 C Wüppesahl fraktionslos 13525 A Frau Dr. Vollmer GRÜNE 13527 A Roth SPD 13527 D Austermann CDU/CSU 13529 C Jungmann (Wittmoldt) SPD 13532 A Namentliche Abstimmung 13533 D Ergebnis 13536 B Einzelplan 27 Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen Hiller (Lübeck) SPD 13534 A Dr. Neuling CDU/CSU 13538 A Frau Frieß GRÜNE 13541 D Hoppe FDP 13544 A Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMB . 13545 D Frau Terborg SPD 13548 D Lintner CDU/CSU 13550 D Heimann SPD 13552 C Weisskirchen (Wiesloch) SPD 13553 B Stratmann GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 13555 A Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts Waltemathe SPD 13555 C Dr. Rose CDU/CSU 13557 C Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 13561 B Hoppe FDP 13563 A Stobbe SPD 13564 A II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 177. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 Frau Beer GRÜNE 13567 D Genscher, Bundesminister AA 13568 C Einzelplan 10 Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Diller SPD 13572 C Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU 13574 B Frau Flinner GRÜNE 13576 C Bredehorn FDP 13578 C Kiechle, Bundesminister BML 13579 C Koltzsch SPD 13582 B Einzelplan 13 Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation Frau Faße SPD 13584 B Bohlsen CDU/CSU 13587 D Hoss GRÜNE 13589 C Funke FDP 13590 D Dr. Schwarz-Schilling, Bundesminister BMPT 13591 D Nächste Sitzung 13594 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13595* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 177. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 13479 177. Sitzung Bonn, den 28. November 1989 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 01. 12. 89 * Amling SPD 28.11.89 Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 01. 12. 89 Frau Dempwolf CDU/CSU 01. 12. 89 Dr. Dollinger CDU/CSU 01. 12. 89 Engelsberger CDU/CSU 29.11.89 Graf SPD 28.11.89 Dr. Haack SPD 01. 12. 89 Frhr. Heereman von CDU/CSU 28. 11. 89 Zuydtwyck Dr. Hennig CDU/CSU 29. 11. 89 Frau Hensel GRÜNE 28. 11. 89 Frau Hoffmann (Soltau) CDU/CSU 28. 11. 89 Höffkes CDU/CSU 01. 12.89 Hörster CDU/CSU 28. 11.89 Kißlinger SPD 01. 12.89 Klein (Dieburg) SPD 01. 12. 89 Dr. Klejdzinski SPD 28. 11. 89* Linsmeier CDU/CSU 01. 12.89 Frau Luuk SPD 01. 12. 89 Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Lüder FDP 28.11.89 Meneses Vogl GRÜNE 01. 12. 89 Mischnick FDP 28.11.89 Niegel CDU/CSU 01. 12. 89 * Poß SPD 28. 11.89 Rappe (Hildesheim) SPD 28. 11. 89 Frau Rock GRÜNE 01. 12. 89 Frau Schilling GRÜNE 28. 11. 89 Frau Schoppe GRÜNE 28. 11. 89 Schreiber CDU/CSU 30. 11.89 Schröer (Mülheim) SPD 01. 12. 89 Schulze (Berlin) CDU/CSU 01. 12. 89 Singer SPD 28. 11.89 Dr. Stark (Nürtingen) CDU/CSU 28. 11. 89 Dr. Stoltenberg CDU/CSU 28. 11. 89 Tietjen SPD 01. 12.89 Dr. Todenhöfer CDU/CSU 28. 11. 89 Verheugen SPD 30. 11.89 Vosen SPD 28. 11.89 Dr. Warnke CDU/CSU 28. 11. 89 Werner (Ulm) CDU/CSU 28. 11. 89 Frau Wilms-Kegel GRÜNE 01. 12. 89 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
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    Rede von Margitta Terborg


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte über den Einzelplan 27 hat in diesem Jahr zwangsläufig einen Stich ins Irreale. Der Haushalt schreibt im Grunde fort, was all die Jahre hindurch vom Ministerium gefördert worden ist. Die stürmischen Veränderungen der letzten Wochen in der DDR finden in den Etatansätzen keine Entsprechung.
    Nun, das werfe ich Ihnen nicht vor. Was wir Sozialdemokraten kritisieren, ist vielmehr die Tatsache, daß das Ministerium in den wichtigsten Wochen deutschdeutscher Politik seit 40 Jahren praktisch weggetreten war.

    (Lintner [CDU/CSU]: Wieso denn das?)

    Es führte nicht einmal mehr ein Schattendasein, an das man sich schon gewöhnt hatte. Es war schlicht auf Tauchstation gegangen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch nicht wahr!)

    Man hat schon hingenommen, daß die wichtigsten Entscheidungen ohnehin in anderen Ministerien gefällt werden:

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Sie hätten doch im Fernsehen sehen können, wer dabei war!)




    Frau Terborg
    Wirtschaftsprobleme im Hause Haussmann, staatspolitische Fragen im Kanzleramt, soziale Probleme im Arbeitsministerium.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wissen es doch besser, Frau Terborg!)

    Aber wo, frage ich Sie, ist die ressortübergreifende Clearingstelle geblieben? Wo hat es sich auch nur in Ansätzen ausgewirkt, daß wir über all die Jahre mit Millionen und aber Millionen Institute unterhalten und Forschungsprojekte über die deutsch-deutsche Problematik finanziert haben? Jetzt, wo es darauf ankäme, die Arbeit dieser Institute, die Ergebnisse dieser Forschungen in praktische politische Schritte umzusetzen, herrscht schlicht Sendepause.
    Der Verdacht ist sicher nicht abwegig, daß in den Schubladen des Hauses Wilms möglicherweise Pläne für alle denkbaren Krisensituationen schlummern, nichts aber für den Ernstfall der friedlichen Annäherung beider deutschen Staaten.

    (Böhm [Melsungen] [CDU/CSU]: Fragen Sie einmal, was Herr Franke in den Schubladen gehabt hat!)

    Dies ist ein Testfall, ich finde, der Testfall schlechthin, und wir alle sind sehr ernüchtert, wir sind betroffen über das absolute Vakuum, das wir vorfinden.
    Der Hinweis von Frau Ministerin Wilms auf Lafontaines Äußerungen ist weder originell noch ein Beleg für die Tatsachen, um die es geht. Lafontaine hat sich viel verklausulierter geäußert, als Sie ihm unterstellen.

    (Jäger [CDU/CSU]: Viel raffinierter!)

    Aber er hat etwas gesagt, das uns noch erheblich beschäftigen muß, das auch Ihnen allen schon jetzt Kopfzerbrechen bereitet, wie ich weiß: Es ist nun einmal die Wahrheit, daß unser soziales Sicherungssystem hoffnungslos ins Schleudern gerät, wenn die Übersiedlerwelle nicht nur anhält, sondern vielleicht sogar wieder steigt, und daß für die DDR die Lage geradezu aussichtslos wird, wenn die Leistungstüchtigsten diesen Staat verlassen. Darüber werden auch Sie nachzudenken haben, wenn nicht heute, dann aber doch in einer sehr nahen Zukunft.

    (Beifall der Abg. Frau Fuchs [Köln] [SPD])

    Wir werden uns also ohne das innerdeutsche Ministerium behelfen müssen. Kein Wunder, daß immer mehr die Meinung vertreten, man käme ganz gut ohne dieses Ressort aus.
    Dabei steht aber sehr viel zur Entscheidung an. Mit einigen Fragen möchte ich mich in meinem Beitrag beschäftigen.
    Mich erfüllt z. B. mit Sorge, daß die Meinungsbildung in unserem Volk derzeit auf zwei Ebenen verläuft, die strikt voneinander getrennt sind, ja, einander zuwiderlaufen. Da ist einmal die veröffentlichte Meinung, die, auf die Verfassung gestützt, die Umsiedler willkommen heißt und ihre selbstverständliche Einbindung in unser Sozialsystem garantiert, und da gibt es die Meinung vieler kleiner Leute bei uns, die sich mit ganz anderen Problemen herumschlagen. Nicht wenige von ihnen begreifen die Neubürger als Konkurrenten auf dem Wohnungsmarkt, als Konkurrenten im Kampf um einen Arbeitsplatz, als Belastung unseres sozialen Netzes.
    Wie, so frage ich Sie, reagieren wir darauf? Reicht es wirklich, wenn wir — und mit uns die veröffentlichte Meinung — im Tone der Entrüstung über Anwandlungen von Sozialneid an Stammtischen räsonieren? Ich kann die Sorgen dieser kleinen Leute sehr gut verstehen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Ich finde, wir müssen ihnen nicht nur das Gefühl, sondern wir müssen ihnen die Gewißheit geben, daß ihre Probleme über unsere Fürsorgepflicht für die Neubürger nicht vergessen werden.

    (Beifall bei der SPD)

    Wenn Wohnungen fehlen, müssen sie gebaut werden, und zwar in einer großen Kraftanstrengung und unter Mobilisierung aller Reserven. Wenn wir über zwei Millionen tatsächliche Arbeitslose — nicht nur die amtlich registrierten — haben, dann müssen wir Arbeitsplätze schaffen, dann muß den schon seit vielen Monaten, ja, seit Jahren Arbeitslosen ebenso eine Chance gegeben werden wie den leistungsverdächtigen Neubürgern.
    Wenn die Übersiedler unser soziales Netz beanspruchen, dann ist das nicht eine Frage an die alteingesessenen Versicherten, sondern ein Problem, das der Staat durch Aufbringen zusätzlicher Mittel zu bewältigen hat.

    (Beifall bei der SPD)

    Das heißt für uns Sozialdemokraten aber auch eine konsequente Abkehr von der Philosophie der Zweidrittelgesellschaft und eine Rückkehr zu den ethischen Werten, die unseren Sozialstaat einmal ausgezeichnet haben.
    Ich kann auch verstehen, daß es bei uns Menschen gibt, die an die Politik die Frage stellen, wo denn ihr Begrüßungsgeld bleibe, die, die auch gern einmal die Möglichkeit hätten, sich ein paar Wünsche zu erfüllen, die über die Sicherung ihrer Existenz hinausgehen.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr wahr!)

    Ich halte es für einen großen Fehler, wenn wir uns solchen Forderungen gegenüber taub stellen, sie gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Solidarität ist nun einmal von jenen Mitbürgern leichter zu leisten, die materiell dazu in der Lage sind.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie ist nicht von jenen zu leisten, die selbst unserer Solidarität bedürfen.
    Dabei hat es — Gott sei Dank — an selbstloser Hilfe für die Neubürger nicht gefehlt. Da haben sich die Herzen von Hunderttausenden geöffnet; da ergriff eine Welle des guten Willens unser Volk. Das hat mich mehr als dankbar gestimmt. Da war ich stolz auf unsere Mitbürger. Aber lassen Sie mich bitte in diese Solidarität alle mit einschließen: die, die jetzt zu uns kommen, und die, die schon lange unter uns leben. Vieles kann der einzelne nicht tun; hier ist der Staat und ist unsere Wirtschaft gefordert. Ganz an der Spitze steht dabei unsere Pflicht, mit dazu beizutra-



    Frau Terborg
    gen, daß die Menschen in der DDR selbst eine neue Chance haben und nicht ihr einziges Heil in einem Grenzwechsel sehen müssen.

    (Beifall bei der SPD)

    Darüber ist schon eine ganze Menge Kluges gesagt worden. Deshalb möchte ich mich auf einige andere Dinge beschränken, die jetzt und von uns angepackt werden müssen. Jetzt, so meine ich, können sich die vielerorts schon angebahnten Städtepartnerschaften bewähren, nicht nur, indem die Bürger einander besuchen, sondern auch, indem es zu einem lebhaften Erfahrungsaustausch zwischen den Vereinen, zwischen den Kirchen und zwischen den Betrieben kommt. Jetzt können wir die an sich schon ermutigende Vielzahl von Jugendbegegnungen auf eine sehr viel breitere Basis stellen und zu einem deutsch-deutschen Jugendwerk ausbauen. Jetzt können, nein, jetzt müssen wir den Studentenaustausch sinnvoll organisieren, ihn materiell überhaupt erst möglich machen. Es ist jetzt an der Zeit, die ersten Schritte zu einem umfassenden Austausch junger Facharbeiter zu machen, möglichst viele Betriebe und Verwaltungen diesseits und jenseits der Grenze dazu zu ermutigen. Jetzt sollten wir uns alle daranmachen, einen völlig neuen Rahmen für Familienurlaube hier und in der DDR zu finden.

    (Jäger [CDU/CSU]: Wo bleibt der Beifall der SPD bei den guten Vorschlägen? — Gegenruf Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Klatschen Sie doch einmal!)

    Jetzt müssen wir nach so vielen vergeblichen Anläufen einen neuen Versuch starten, damit sich die Pädagogen in beiden deutschen Staaten auf ein gemeinsames Konzept der Friedenserziehung in den Schulen verständigen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Jetzt können die Sportbegegnungen ihren Ausnahmecharakter verlieren, können kirchliche Gemeinden hier und drüben zu neuen Gemeinsamkeiten finden, kann der deutsch-deutsche Kulturaustausch zu einer Selbstverständlichkeit werden, wenn wir nicht nur den guten Willen dazu haben, sondern auch die Bereitschaft, alle diese Kontakte nach Kräften zu fördern.
    Vieles von dem, was ich hier andeute, ist schon vorgedacht, ist schon vorbehandelt worden, beispielsweise in den Gesprächen mit der FDJ-Fraktion der Volkskammer, über die ich diesem Hause schon mehrfach berichtet habe. Glauben Sie nun ja nicht, daß ich mich jetzt davon distanziere, im Gegenteil. Ich fand sie damals nützlich und unverzichtbar. Ich denke, daß sie noch ungleich fruchtbarer werden können, wenn wir einmal ein frei gewähltes Parlament als Partner haben werden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Die ersten Schritte, die wir Sozialdemokraten gegangen sind, waren ungleich mühsamer als das, was jetzt auf uns zukommt. Ein Erfolg wird sich aber erst dann einstellen, wenn wir als Partner und nicht als Besserwisser auftreten, wenn wir keinen vom Gespräch ausschließen und wenn wir bereit sind, in einer Vielzahl kleiner Schritte das Auseinanderleben der Deutschen in ein Miteinander zu überführen.
    Was mich am meisten in den letzten Wochen fasziniert hat, war die Tatsache, daß uns die Menschen in der DDR durch ihre stille Revolution vor eine völlig neue Lage gestellt haben. Sie — nicht wir — haben das Tempo und das Ausmaß der Veränderung bestimmt. Sie haben uns vor eine Situation gestellt, die ein rasches Reagieren auf unserer Seite erforderte. Uns blieb gar nicht erst die Zeit, die neue Situation in unser altes Kästchendenken einzuordnen und zu überlegen, wie das politisch wohl der einen oder der anderen Seite zum Vorteil gereichen könnte. Es mußte gehandelt werden, und das war eine gute Ausgangslage. Sie verliert sich, je normaler die deutschdeutsche Lage wieder wird. Damit wird auch die Lust zur Rechthaberei, zum parteipolitischen Kleinklein und zum Zerreden wieder wachsen. Aber das wäre das letzte, was die Menschen bei uns und in der DDR von uns erwarten.

    (Beifall bei der SPD)

    Was die Menschen in der DDR bewirkten, ihre Bereitschaft, die Obrigkeit und ihren gesellschaftlichen Alltag radikal in Frage zu stellen, muß auch auf bundesrepublikanischer Seite eine Entsprechung finden. Ich fürchte, diesen Test haben wir noch nicht bestanden. Wenn ich mir so manchen Beitrag von heute vergegenwärtige, dann zeichnete er sich eher durch die beim innerdeutschen Ministerium beklagte Sprachlosigkeit aus als durch den Mut, Neues zu denken, Neues zu wagen und unsere noch ausgebliebene stille Revolution in den eigenen Köpfen und Herzen nachzuholen.
    Ich danke Ihnen und bitte Sie, mit mir in diese Richtung weiterzudenken.

    (Beifall bei der SPD)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Lintner.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Eduard Lintner


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir Deutsche hier und in der DDR können stolz auf das sein, was sich in den letzten Wochen bei uns ereignet hat. Vor aller Welt wurde sichtbar, nicht nur daß, sondern auch wie lebendig die Einheit der Nation bei uns tatsächlich noch ist. Dieses Ereignis hätte mancher bei uns sicherlich nicht mehr für möglich gehalten. Wir von der Union haben dies aber eigentlich immer behauptet und sind dafür häufig verspottet und belächelt worden, beispielsweise leider auch von Ihnen, von der sozialdemokratischen Seite. Hier wäre Ihr heutiges deutschlandpolitisches Zugpferd Willy Brandt zu zitieren, der immerhin die Wiedervereinigung seinerzeit als Lebenslüge der Republik bezeichnet hat.
    Meine Damen und Herren, wir freuen uns natürlich im Interesse der Bedeutung des Anliegens darüber, daß Sie angeboten haben, die zehn Punkte des Herrn Bundeskanzlers ohne Wenn und Aber zu unterstützen. Wir greifen dieses Angebot gern auf. Die neue Gemeinsamkeit schlägt sich bereits in einer interfraktionellen Entschließung nieder, die hinter den Kulis-



    Lintner
    sen vorbereitet wird und die der Kollege Hornhues dankenswerterweise eingebracht hat.
    Was soll dann, Herr Hiller, die Mäkelei, die Sie hier an den Tag gelegt haben, die krampfhaft wirkte und an den Haaren herbeigezogen war? Man kann das Angebot des Fraktionsvorsitzenden Dr. Vogel nicht dadurch realisieren, daß man im großen nach außen das Ja erklärt, sich aber dann im Detail in der Zusammenarbeit verweigert. Das kann nicht laufen, so wird es nicht funktionieren. Ich wundere mich ohnehin über Ihren Beitrag. Das ganze Jahr über haben Sie sich im Ausschuß nicht so gegeben, wie Sie hier waren, nämlich destruktiv und großtönend. Sie wissen doch, daß das Ministerium viel Arbeit im Stillen leisten muß und daß diese Arbeit wirklich wertvoll ist.
    Jetzt kommt es darauf an — das würde ich auch der Frau Kollegin Terborg empfehlen —, daß das Ministerium die zehn Punkte, die hier genannt worden sind und die Ihre Zustimmung gefunden haben, konkretisiert und dann koordiniert, und zwar jenes, was an Einzelmaßnahmen dahintersteckt. Das ist eine Aufgabe, die die Bedeutung des Ministeriums eher steigert als vermindert.

    (Zuruf von der SPD: Dann soll das Ministerium mitwirken!)

    Deshalb, meine Damen und Herren, verstehe ich die Kritik nicht. Die Konstruktion, daß das Kanzleramt die operative Deutschlandpolitik mit der DDR verabreden muß, stammt nicht von uns. Sie war damals sicherlich unvermeidlich. Ich will das gar nicht kritisch anmerken. Aber man kann sich heute nicht hinstellen und dem Ministerium daraus einen Vorwurf machen. Ich finde das unehrlich und auch ungerechtfertigt.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Im übrigen ist es ja ohnehin eine etwas merkwürdige Logik, daß Sie sich vorhin, Dr. Vogel noch einmal, zwar bereit erklärt haben, die deutschlandpolitische Konzeption zu unterstützen, sich aber jetzt wieder hinstellen und beabsichtigen, die Konkretisierung oder Teilkonkretisierung dieser Konzeption im Haushalt des innerdeutschen Ministeriums offiziell wieder abzulehnen. Wie Sie diesen Schlingerkurs der Öffentlichkeit klarmachen wollen, das ist Ihr Problem.

    (Hiller [Lübeck] [SPD]: Sie vermischen hier einiges!)

    Ich kann nur sagen, meine Damen und Herren: Die Bundesregierung hat in allen Dingen, bei denen jetzt spontane Anforderungen an sie sichtbar geworden sind, etwa auf dem Bausektor, mit einer doch wirklich unkonventionellen Schnelligkeit gehandelt. Die ersten konkreten Beschlüsse, Gesetzentwürfe, Maßnahmen liegen heute bereits in der Realität vor, so daß ich zuversichtlich bin, daß es uns gelingen wird, die Schwierigkeiten auch zu meistern.
    Meine Damen und Herren, was sich in der DDR abspielt, kann angesichts der Dynamik und der Entschlossenheit der Landsleute dort wirklich nur als eine friedliche oder stille Revolution bezeichnet werden, wie Sie es gesagt haben, Frau Terborg, eine Revolution, die zur Überwindung der Diktatur einer Partei und zur Erlangung von Freiheit in allen Lebensbereichen dienen soll.
    In dieser Eruption ist eine schonungslose Abkehr vom Sozialismus an sich und nicht nur von seiner realen SED-Variante zu sehen. Das ist — zugegebenermaßen — für manche Sozialisten hier bei uns eine ganz schmerzliche Erkenntnis. Sie wollen den Sozialismus unter allen Umständen retten und verlangen deshalb die Bereitschaft der Bundesregierung, auch eine sozialistische Wirtschafts- und Politikordnung in der DDR ohne jede Voraussetzung umfassend finanziell zu unterstützen. Das kommt aber — das ist ja schon mehrfach gesagt worden — der Aufforderung gleich, ein Faß ohne Boden zu füllen. Damit würde im übrigen unseren Landsleuten in der DDR nicht gedient sein. Denn so etwas könnte nur dazu dienen, das Regime selbst zu stabilisieren.
    Meine Damen und Herren, über unsere nationale und moralische Verpflichtung hinaus gibt es, glaube ich, einen weiteren sehr realen, handfesten politischen Grund, sich um mehr Wohlstand und Freiheit in der DDR und — darüber hinaus — im ganzen Ostblock zu bemühen. Bei heute schon gravierenden Wohlstandsunterschieden, die ohne Veränderungen im Osten und in der DDR noch dramatisch anwachsen müßten, gibt es auf die Dauer keine Aussicht auf ein reibungsloses, friedliches Zusammenleben. Denn das Streben, an diesem Wohlstand zu partizipieren, wird ständig zunehmen. Die Folgen müßten in der Tat gigantische Wanderungsströme in die reichen Teile Europas, vor allem in die Bundesrepublik, oder eben zwangsläufig — bei Verweigerung dieser Partizipation — von Neid und Mißgunst gespeiste Spannungen sein, die letztlich sogar eine lebensgefährliche Brisanz für Europa erreichen könnten. Wenn wir also zur Hilfe und zur Unterstützung bereit sind, dann eben auch, weil es um die Sicherung unserer eigenen friedlichen Zukunft und nicht nur um pure Humanität geht. Ich sage das vor allem für diejenigen, meine Damen und Herren, die schon heute draußen im Lande über die Hilfsbereitschaft der Bundesrepublik zu murren beginnen und ihrerseits Neidkomplexe schüren. Das Begrüßungsgeld ist für unsere Bürger zwar ein Opfer, aber ein Opfer, daß ohne fühlbare Belastung für den einzelnen eben viel Gutes bewirkt und viel Freude bereiten kann.
    Kritisch muß gegenwärtig allerdings noch vermerkt werden, daß sich die DDR-Führung in vielen wichtigen Bereichen bisher leider nur in verbalen Ankündigungen bewegt; Taten müssen da noch folgen. Es ist, finde ich, völlig undenkbar, daß die Bundesregierung großzügige Unterstützung gewährt, während Menschen in der DDR aus politischen Gründen noch unschuldig inhaftiert sind.

    (Jäger [CDU/CSU]: So ist es!)

    Auch besteht zwischen der SED und den konkurrierenden politischen Gruppen noch längst keine Chancengleichheit. Denen fehlt es nämlich an technischer Ausstattung. Selbst Papier gibt es ja höchstens nach monatelanger Voranmeldung. Die Ausstattung aus der Bundesrepublik ist anscheinend immer noch illegal und verboten.
    Unsere Bürger, die ihre Landsleute an der innerdeutschen Grenze — mein Wahlkreis befindet sich ja dort — mit wirklich eindrucksvollem und sehr großem Enthusiasmus empfangen haben und betreuen, möch-



    Lintner
    ten alsbald natürlich auch die Möglichkeit haben, einen spontanen und ungeplanten Besuch drüben machen zu können, und zwar ohne Zwangsumtausch und ohne monatelange Wartezeit für die Visaerteilung.
    Entlang der innerdeutschen Grenze muß im Interesse der betroffenen Menschen zwangsläufig allmählich auch wieder der Alltag einkehren, d. h. die Wochenenden müssen wieder zu Ruhezeiten für die arbeitende Bevölkerung werden. Dafür müssen wir unsere Landsleute in der DDR um Verständnis bitten. Deshalb halte ich auch die Lösung des Begrüßungsgeldes im Rahmen eines gemeinsamen Fonds für begrüßenswert.
    Die SED erweckt an ihrer Spitze immer noch den Anschein, als sei sie nur unter dem Druck ständiger Demonstrationen zu den notwendigen grundlegenden Änderungen bereit. Das ist ein fataler Eindruck, der den Schluß nahelegt, die Führung selbst könnte geradezu demokratieunfähig sein. Ein in diesem Sinne unfähiges und unwilliges Regime wirksam zu unterstützen, hieße aber, das alte ungewollte und überholte System zu stabilisieren, und das kann bei uns im Ernst niemand wollen, auch niemand von Ihnen.
    Wer deshalb jetzt umfassende Hilfe ohne jede Voraussetzung fordert, handelt nicht im Interesse der Menschen in der DDR, sondern hintertreibt das Verlangen nach schnellen und grundlegenden Veränderungen. Diese Einschätzung ist mir und anderen im übrigen immer wieder von Gesprächspartnern aus der DDR vom „Neuen Forum" bis hin zu ganz Unorganisierten ans Herz gelegt worden.
    Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion steht ohne Wenn und Aber hinter der Deutschlandpolitik der Bundesregierung.

    (Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Hat die eine?)

    — Frau Schulte, Sie waren so seltend anwesend; darum haben Sie die Konzeption nicht mitbekommen.
    — Das gilt für die großen grundsätzlichen Züge dieser Politik ebenso wie für die Details. Nicht zuletzt die Bundesregierung hat mit ihrem beharrlichen Festhalten am Selbstbestimmungsrecht und auch an der staatlichen Wiedervereinigung und ihrer praktischen Politik der Stärkung des Willens zur Einheit der Nation eine wichtige Voraussetzung für die heutige von allen begrüßte Lage geschaffen. Dafür, daß die Regierung diese Politik trotz häufiger und heftiger Angriffe aus den Reihen der Opposition in diesem Hause und außerhalb dieses Hauses unbeirrt durchgehalten hat, muß man dem Bundeskanzler, der Frau Bundesminister und der ganzen übrigen Bundesregierung herzlich danken.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Heute — wir alle begrüßen das ja — sind daraus echte historische Perspektiven geworden, denen wir alle — nicht nur wir von der Regierungskoalition — jetzt allerdings auch gerecht werden müssen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)