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ID1117706700

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    Plenarprotokoll 11/177 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 177. Sitzung Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 13479 A Nachträgliche Überweisung eines Antrages — Drucksache 11/5692 — an den Haushaltsausschuß 13479 B Zusatztagesordnungspunkt: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik der Straßenverkehrsunfälle (Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz) (Drucksache 11/5464) . . 13479A Tagesordnungspunkt I: Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1990 (Haushaltsgesetz 1990) (Drucksachen 11/5000, 11/5321, 11/5389) Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes Dr. Vogel SPD 13479 D Dr. Bötsch CDU/CSU 13488 C Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 13492 B Dr. Graf Lambsdorff FDP 13496 A Dr. Kohl, Bundeskanzler 13502 D Voigt (Frankfurt) SPD 13514 B Bohl CDU/CSU 13516A Frau Eid GRÜNE 13518 C Genscher, Bundesminister AA 13520 B Dr. Meisner, Senator des Landes Berlin . 13523 C Wüppesahl fraktionslos 13525 A Frau Dr. Vollmer GRÜNE 13527 A Roth SPD 13527 D Austermann CDU/CSU 13529 C Jungmann (Wittmoldt) SPD 13532 A Namentliche Abstimmung 13533 D Ergebnis 13536 B Einzelplan 27 Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen Hiller (Lübeck) SPD 13534 A Dr. Neuling CDU/CSU 13538 A Frau Frieß GRÜNE 13541 D Hoppe FDP 13544 A Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMB . 13545 D Frau Terborg SPD 13548 D Lintner CDU/CSU 13550 D Heimann SPD 13552 C Weisskirchen (Wiesloch) SPD 13553 B Stratmann GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 13555 A Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts Waltemathe SPD 13555 C Dr. Rose CDU/CSU 13557 C Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 13561 B Hoppe FDP 13563 A Stobbe SPD 13564 A II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 177. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 Frau Beer GRÜNE 13567 D Genscher, Bundesminister AA 13568 C Einzelplan 10 Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Diller SPD 13572 C Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU 13574 B Frau Flinner GRÜNE 13576 C Bredehorn FDP 13578 C Kiechle, Bundesminister BML 13579 C Koltzsch SPD 13582 B Einzelplan 13 Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation Frau Faße SPD 13584 B Bohlsen CDU/CSU 13587 D Hoss GRÜNE 13589 C Funke FDP 13590 D Dr. Schwarz-Schilling, Bundesminister BMPT 13591 D Nächste Sitzung 13594 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13595* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 177. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 13479 177. Sitzung Bonn, den 28. November 1989 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 01. 12. 89 * Amling SPD 28.11.89 Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 01. 12. 89 Frau Dempwolf CDU/CSU 01. 12. 89 Dr. Dollinger CDU/CSU 01. 12. 89 Engelsberger CDU/CSU 29.11.89 Graf SPD 28.11.89 Dr. Haack SPD 01. 12. 89 Frhr. Heereman von CDU/CSU 28. 11. 89 Zuydtwyck Dr. Hennig CDU/CSU 29. 11. 89 Frau Hensel GRÜNE 28. 11. 89 Frau Hoffmann (Soltau) CDU/CSU 28. 11. 89 Höffkes CDU/CSU 01. 12.89 Hörster CDU/CSU 28. 11.89 Kißlinger SPD 01. 12.89 Klein (Dieburg) SPD 01. 12. 89 Dr. Klejdzinski SPD 28. 11. 89* Linsmeier CDU/CSU 01. 12.89 Frau Luuk SPD 01. 12. 89 Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Lüder FDP 28.11.89 Meneses Vogl GRÜNE 01. 12. 89 Mischnick FDP 28.11.89 Niegel CDU/CSU 01. 12. 89 * Poß SPD 28. 11.89 Rappe (Hildesheim) SPD 28. 11. 89 Frau Rock GRÜNE 01. 12. 89 Frau Schilling GRÜNE 28. 11. 89 Frau Schoppe GRÜNE 28. 11. 89 Schreiber CDU/CSU 30. 11.89 Schröer (Mülheim) SPD 01. 12. 89 Schulze (Berlin) CDU/CSU 01. 12. 89 Singer SPD 28. 11.89 Dr. Stark (Nürtingen) CDU/CSU 28. 11. 89 Dr. Stoltenberg CDU/CSU 28. 11. 89 Tietjen SPD 01. 12.89 Dr. Todenhöfer CDU/CSU 28. 11. 89 Verheugen SPD 30. 11.89 Vosen SPD 28. 11.89 Dr. Warnke CDU/CSU 28. 11. 89 Werner (Ulm) CDU/CSU 28. 11. 89 Frau Wilms-Kegel GRÜNE 01. 12. 89 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Dorothee Wilms


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Kollege Büchler, vielleicht ist Ihnen entgangen, daß wir seit dem 9. November eine andere Situation in der DDR mit ganz anderen Gesprächs- und Vereinbarungsmöglichkeiten haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ihm entgangen!)

    Die Förderung der Reisen von Jugendlichen aus der DDR, die jetzt ohne staatliche Beschränkungen zu uns kommen können, wird eine wichtige Aufgabe sein.
    Ich denke, die jüngere Generation in Deutschland muß sich besser kennenlernen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Dafür werden wir die organisatorischen und haushaltsmäßigen Voraussetzungen treffen.
    Auch das Interesse an Jugendfahrten von West nach Ost wird zunehmen. Die politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen in der DDR werden auch im nächsten Jahr einen besonderen Stellenwert in den Diskussionen haben. Wir werden diesem Informationsbedürfnis nachkommen.

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Deutschlandpolitische Themen stehen mehr als je zuvor auch international im Brennpunkt des Interesses. Davon geht im In- und Ausland eine kräftige Sogwirkung nach Informationsmaterialien, nach Seminaren und Vortragsveranstaltungen aus. Mit der Möglichkeit, Gäste aus der DDR zu derartigen Veranstaltungen einzuladen, eröffnen sich völlig neue Horizonte, und wir werden dem entsprechen.
    Der Tourismus war bisher in beiden Richtungen durch Devisenmangel, Genehmigungszwang, Zwangsumtausch, Mangel an Gästebetten behindert. Er muß sich jetzt freizügig und ungehindert entwikkeln können. Ich bin sicher, daß sich angesichts des großen Interesses in unserer Bevölkerung genügend Reiseveranstalter finden, die sich bei der weiteren touristischen Erschließung der DDR in großem Umfang engagieren werden.

    (Zustimmung bei der CDU/CSU)

    Ich erwarte übrigens auch, daß DM-Einnahmen aus Touristenreisen in der DDR den Bau von neuen Hotelbetrieben — eventuell in Kooperation mit uns —befördern;

    (Jäger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Devisen können durch Verrechnung zwischen den Reiseveranstaltern auch für Reisen in umgekehrter Richtung — von Ost nach West — zur Verfügung gestellt werden.
    Meine Damen und Herren, viele Besucher aus der DDR haben keine Verwandten oder Bekannten im Westen. Wir haben daher die Wohlfahrtsverbände und die beiden großen Kirchen gebeten, kostengünstige Übernachtungsmöglichkeiten wenigstens für jeweils einige Tage zur Verfügung zu stellen. Dieser Appell ist auf sehr fruchtbaren Boden gefallen. Ich möchte mich hier ausdrücklich bei den Organisationen für ihre Hilfsbereitschaft bedanken.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Die Arbeit des Ministeriums ist seit jeher in besonderem Maße dem humanitären Dienst am einzelnen verpflichtet gewesen. Ich nehme an, daß diese Aufgabe noch eine gewisse Zeit weiter fortgesetzt werden muß.

    (Jäger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Mit Maßnahmen im notleidenden medizinisch-sozialen Bereich in der DDR wird diese Aufgabe noch eine weitere neue Dimension erhalten.



    Bundesminister Frau Dr. Wilms
    Lassen Sie mich hier noch ein besonderes Wort zur Zonenrandförderung sagen. Sie hatte ja stets zum Ziel, die Nachteile des Zonenrandgebiets durch die Lage an der weitgehend undurchdringlichen Grenze auszugleichen. Erst wenn sich die Grenzen nachhaltig und uneingeschränkt für Personen- und Güterverkehr in beiden Richtungen öffnen, wird man die Zonenrandförderung in der bisherigen Art vermindern oder aufgeben können. Aber so weit sind wir noch nicht.

    (Jäger [CDU/CSU]: So ist es!)

    Es gibt im Gegenteil jetzt zusätzlichen Handlungsbedarf.

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Richtig!)

    Dies betrifft insbesondere die Verkehrsanbindung der insgesamt 83 Grenzübergänge zur DDR.
    Auch die Hilfen zum Ausbau der sozialen und kulturellen Infrastruktur müssen angesichts der vielen Besucher aus der DDR und der großen Zahl von Übersiedlern, die dort ankommen, verstärkt werden.
    Die Gebiete nahe der innerdeutschen Grenze haben jetzt die große Chance — nicht zuletzt in sozialer und kultureller Hinsicht — eine breite Brücke in die notleidenden grenznahen Gebiete der DDR zu werden.

    (Gerstein [CDU/CSU]: Sehr wahr!)

    Wir sollten diese Chance nutzen und fördern.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die rasante Entwicklung in der DDR erzeugt auch einen hohen Analyse- und Politikberatungsbedarf. Deshalb gewinnt die deutschlandpolitische Forschung eine neue aktuelle Bedeutung. Sie wird hier entsprechend tätig werden. Ich denke, in dieser historischen Situation sind die fähigsten Köpfe aus allen Bereichen, nicht nur aus Wissenschaft und Forschung, sondern auch aus Kultur oder Wirtschaft gefordert, ihren Beitrag für die gemeinsame Entwicklung des deutschen Volkes in Freiheit zu leisten.

    (Jäger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

    Dazu gehört auch, daß wir die Kultur und Geschichte aller deutschen Landschaften weiter aufarbeiten,

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Landschaften, die Thüringen oder Sachsen, aber auch Pommern oder Schlesien heißen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die dramatische Entwicklung dieser vergangenen Wochen hat erneut die besondere Rolle Berlins in den innerdeutschen Beziehungen bestätigt. Ich denke, Berlin hat einen Standortvorteil, der auch in der künftigen Zeit gerade unter wirtschaftlichen und kulturellen Gesichtspunkten genutzt werden muß.

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Eine gute Ministerin!)

    Meine Damen und Herren, vor allem meine Kolleginnen und Kollegen aus dem Haushaltsausschuß, Sie haben bereits sehr schnell in den Beratungen mit großer Sensibilität und Tatkraft auf die Veränderungen reagiert. Ich danke dafür sehr herzlich.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Mein besonderer Dank gilt den Herren Berichterstattern in allen Fraktionen.
    Lassen Sie mich noch einmal sagen, daß die Entwicklung in der DDR heute im Mittelpunkt des politischen Interesses weltweit steht. Unsere Kinder werden uns einmal daran messen,

    (Frau Wollny [GRÜNE]: Gott segne sie!)

    wie wir uns mit unserer Deutschlandpolitik auf diese neue Situation eingestellt haben. Die seit Jahren geradlinige Deutschlandpolitik der Bundesregierung gewährleistet, daß der Prozeß der Öffnung in der DDR zum Wohl unserer Landsleute unterstützt wird. Wir haben nichts von unseren programmatischen Aussagen der Vergangenheit zurückzunehmen, weil wir immer auf den Freiheitswillen der Menschen gesetzt haben. Wir haben nie den sogenannten Geraer Forderungen Honeckers zustimmen wollen, wie es uns aus der SPD empfohlen worden ist. Wir haben uns immer, auch als dies weniger modern war, mit der Präambel unseres Grundgesetzes identifiziert.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich bin heute sicherer denn je, daß sich alle Deutschen, auch unsere Landsleute in der DDR, in freier Selbstbestimmung für die Einheit und Freiheit Deutschlands entscheiden werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Terborg.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Margitta Terborg


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Debatte über den Einzelplan 27 hat in diesem Jahr zwangsläufig einen Stich ins Irreale. Der Haushalt schreibt im Grunde fort, was all die Jahre hindurch vom Ministerium gefördert worden ist. Die stürmischen Veränderungen der letzten Wochen in der DDR finden in den Etatansätzen keine Entsprechung.
    Nun, das werfe ich Ihnen nicht vor. Was wir Sozialdemokraten kritisieren, ist vielmehr die Tatsache, daß das Ministerium in den wichtigsten Wochen deutschdeutscher Politik seit 40 Jahren praktisch weggetreten war.

    (Lintner [CDU/CSU]: Wieso denn das?)

    Es führte nicht einmal mehr ein Schattendasein, an das man sich schon gewöhnt hatte. Es war schlicht auf Tauchstation gegangen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist doch nicht wahr!)

    Man hat schon hingenommen, daß die wichtigsten Entscheidungen ohnehin in anderen Ministerien gefällt werden:

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Sie hätten doch im Fernsehen sehen können, wer dabei war!)




    Frau Terborg
    Wirtschaftsprobleme im Hause Haussmann, staatspolitische Fragen im Kanzleramt, soziale Probleme im Arbeitsministerium.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Sie wissen es doch besser, Frau Terborg!)

    Aber wo, frage ich Sie, ist die ressortübergreifende Clearingstelle geblieben? Wo hat es sich auch nur in Ansätzen ausgewirkt, daß wir über all die Jahre mit Millionen und aber Millionen Institute unterhalten und Forschungsprojekte über die deutsch-deutsche Problematik finanziert haben? Jetzt, wo es darauf ankäme, die Arbeit dieser Institute, die Ergebnisse dieser Forschungen in praktische politische Schritte umzusetzen, herrscht schlicht Sendepause.
    Der Verdacht ist sicher nicht abwegig, daß in den Schubladen des Hauses Wilms möglicherweise Pläne für alle denkbaren Krisensituationen schlummern, nichts aber für den Ernstfall der friedlichen Annäherung beider deutschen Staaten.

    (Böhm [Melsungen] [CDU/CSU]: Fragen Sie einmal, was Herr Franke in den Schubladen gehabt hat!)

    Dies ist ein Testfall, ich finde, der Testfall schlechthin, und wir alle sind sehr ernüchtert, wir sind betroffen über das absolute Vakuum, das wir vorfinden.
    Der Hinweis von Frau Ministerin Wilms auf Lafontaines Äußerungen ist weder originell noch ein Beleg für die Tatsachen, um die es geht. Lafontaine hat sich viel verklausulierter geäußert, als Sie ihm unterstellen.

    (Jäger [CDU/CSU]: Viel raffinierter!)

    Aber er hat etwas gesagt, das uns noch erheblich beschäftigen muß, das auch Ihnen allen schon jetzt Kopfzerbrechen bereitet, wie ich weiß: Es ist nun einmal die Wahrheit, daß unser soziales Sicherungssystem hoffnungslos ins Schleudern gerät, wenn die Übersiedlerwelle nicht nur anhält, sondern vielleicht sogar wieder steigt, und daß für die DDR die Lage geradezu aussichtslos wird, wenn die Leistungstüchtigsten diesen Staat verlassen. Darüber werden auch Sie nachzudenken haben, wenn nicht heute, dann aber doch in einer sehr nahen Zukunft.

    (Beifall der Abg. Frau Fuchs [Köln] [SPD])

    Wir werden uns also ohne das innerdeutsche Ministerium behelfen müssen. Kein Wunder, daß immer mehr die Meinung vertreten, man käme ganz gut ohne dieses Ressort aus.
    Dabei steht aber sehr viel zur Entscheidung an. Mit einigen Fragen möchte ich mich in meinem Beitrag beschäftigen.
    Mich erfüllt z. B. mit Sorge, daß die Meinungsbildung in unserem Volk derzeit auf zwei Ebenen verläuft, die strikt voneinander getrennt sind, ja, einander zuwiderlaufen. Da ist einmal die veröffentlichte Meinung, die, auf die Verfassung gestützt, die Umsiedler willkommen heißt und ihre selbstverständliche Einbindung in unser Sozialsystem garantiert, und da gibt es die Meinung vieler kleiner Leute bei uns, die sich mit ganz anderen Problemen herumschlagen. Nicht wenige von ihnen begreifen die Neubürger als Konkurrenten auf dem Wohnungsmarkt, als Konkurrenten im Kampf um einen Arbeitsplatz, als Belastung unseres sozialen Netzes.
    Wie, so frage ich Sie, reagieren wir darauf? Reicht es wirklich, wenn wir — und mit uns die veröffentlichte Meinung — im Tone der Entrüstung über Anwandlungen von Sozialneid an Stammtischen räsonieren? Ich kann die Sorgen dieser kleinen Leute sehr gut verstehen.

    (Beifall bei Abgeordneten der SPD)

    Ich finde, wir müssen ihnen nicht nur das Gefühl, sondern wir müssen ihnen die Gewißheit geben, daß ihre Probleme über unsere Fürsorgepflicht für die Neubürger nicht vergessen werden.

    (Beifall bei der SPD)

    Wenn Wohnungen fehlen, müssen sie gebaut werden, und zwar in einer großen Kraftanstrengung und unter Mobilisierung aller Reserven. Wenn wir über zwei Millionen tatsächliche Arbeitslose — nicht nur die amtlich registrierten — haben, dann müssen wir Arbeitsplätze schaffen, dann muß den schon seit vielen Monaten, ja, seit Jahren Arbeitslosen ebenso eine Chance gegeben werden wie den leistungsverdächtigen Neubürgern.
    Wenn die Übersiedler unser soziales Netz beanspruchen, dann ist das nicht eine Frage an die alteingesessenen Versicherten, sondern ein Problem, das der Staat durch Aufbringen zusätzlicher Mittel zu bewältigen hat.

    (Beifall bei der SPD)

    Das heißt für uns Sozialdemokraten aber auch eine konsequente Abkehr von der Philosophie der Zweidrittelgesellschaft und eine Rückkehr zu den ethischen Werten, die unseren Sozialstaat einmal ausgezeichnet haben.
    Ich kann auch verstehen, daß es bei uns Menschen gibt, die an die Politik die Frage stellen, wo denn ihr Begrüßungsgeld bleibe, die, die auch gern einmal die Möglichkeit hätten, sich ein paar Wünsche zu erfüllen, die über die Sicherung ihrer Existenz hinausgehen.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Sehr wahr!)

    Ich halte es für einen großen Fehler, wenn wir uns solchen Forderungen gegenüber taub stellen, sie gar nicht erst zur Kenntnis nehmen. Solidarität ist nun einmal von jenen Mitbürgern leichter zu leisten, die materiell dazu in der Lage sind.

    (Beifall bei der SPD)

    Sie ist nicht von jenen zu leisten, die selbst unserer Solidarität bedürfen.
    Dabei hat es — Gott sei Dank — an selbstloser Hilfe für die Neubürger nicht gefehlt. Da haben sich die Herzen von Hunderttausenden geöffnet; da ergriff eine Welle des guten Willens unser Volk. Das hat mich mehr als dankbar gestimmt. Da war ich stolz auf unsere Mitbürger. Aber lassen Sie mich bitte in diese Solidarität alle mit einschließen: die, die jetzt zu uns kommen, und die, die schon lange unter uns leben. Vieles kann der einzelne nicht tun; hier ist der Staat und ist unsere Wirtschaft gefordert. Ganz an der Spitze steht dabei unsere Pflicht, mit dazu beizutra-



    Frau Terborg
    gen, daß die Menschen in der DDR selbst eine neue Chance haben und nicht ihr einziges Heil in einem Grenzwechsel sehen müssen.

    (Beifall bei der SPD)

    Darüber ist schon eine ganze Menge Kluges gesagt worden. Deshalb möchte ich mich auf einige andere Dinge beschränken, die jetzt und von uns angepackt werden müssen. Jetzt, so meine ich, können sich die vielerorts schon angebahnten Städtepartnerschaften bewähren, nicht nur, indem die Bürger einander besuchen, sondern auch, indem es zu einem lebhaften Erfahrungsaustausch zwischen den Vereinen, zwischen den Kirchen und zwischen den Betrieben kommt. Jetzt können wir die an sich schon ermutigende Vielzahl von Jugendbegegnungen auf eine sehr viel breitere Basis stellen und zu einem deutsch-deutschen Jugendwerk ausbauen. Jetzt können, nein, jetzt müssen wir den Studentenaustausch sinnvoll organisieren, ihn materiell überhaupt erst möglich machen. Es ist jetzt an der Zeit, die ersten Schritte zu einem umfassenden Austausch junger Facharbeiter zu machen, möglichst viele Betriebe und Verwaltungen diesseits und jenseits der Grenze dazu zu ermutigen. Jetzt sollten wir uns alle daranmachen, einen völlig neuen Rahmen für Familienurlaube hier und in der DDR zu finden.

    (Jäger [CDU/CSU]: Wo bleibt der Beifall der SPD bei den guten Vorschlägen? — Gegenruf Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Klatschen Sie doch einmal!)

    Jetzt müssen wir nach so vielen vergeblichen Anläufen einen neuen Versuch starten, damit sich die Pädagogen in beiden deutschen Staaten auf ein gemeinsames Konzept der Friedenserziehung in den Schulen verständigen.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Jetzt können die Sportbegegnungen ihren Ausnahmecharakter verlieren, können kirchliche Gemeinden hier und drüben zu neuen Gemeinsamkeiten finden, kann der deutsch-deutsche Kulturaustausch zu einer Selbstverständlichkeit werden, wenn wir nicht nur den guten Willen dazu haben, sondern auch die Bereitschaft, alle diese Kontakte nach Kräften zu fördern.
    Vieles von dem, was ich hier andeute, ist schon vorgedacht, ist schon vorbehandelt worden, beispielsweise in den Gesprächen mit der FDJ-Fraktion der Volkskammer, über die ich diesem Hause schon mehrfach berichtet habe. Glauben Sie nun ja nicht, daß ich mich jetzt davon distanziere, im Gegenteil. Ich fand sie damals nützlich und unverzichtbar. Ich denke, daß sie noch ungleich fruchtbarer werden können, wenn wir einmal ein frei gewähltes Parlament als Partner haben werden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Die ersten Schritte, die wir Sozialdemokraten gegangen sind, waren ungleich mühsamer als das, was jetzt auf uns zukommt. Ein Erfolg wird sich aber erst dann einstellen, wenn wir als Partner und nicht als Besserwisser auftreten, wenn wir keinen vom Gespräch ausschließen und wenn wir bereit sind, in einer Vielzahl kleiner Schritte das Auseinanderleben der Deutschen in ein Miteinander zu überführen.
    Was mich am meisten in den letzten Wochen fasziniert hat, war die Tatsache, daß uns die Menschen in der DDR durch ihre stille Revolution vor eine völlig neue Lage gestellt haben. Sie — nicht wir — haben das Tempo und das Ausmaß der Veränderung bestimmt. Sie haben uns vor eine Situation gestellt, die ein rasches Reagieren auf unserer Seite erforderte. Uns blieb gar nicht erst die Zeit, die neue Situation in unser altes Kästchendenken einzuordnen und zu überlegen, wie das politisch wohl der einen oder der anderen Seite zum Vorteil gereichen könnte. Es mußte gehandelt werden, und das war eine gute Ausgangslage. Sie verliert sich, je normaler die deutschdeutsche Lage wieder wird. Damit wird auch die Lust zur Rechthaberei, zum parteipolitischen Kleinklein und zum Zerreden wieder wachsen. Aber das wäre das letzte, was die Menschen bei uns und in der DDR von uns erwarten.

    (Beifall bei der SPD)

    Was die Menschen in der DDR bewirkten, ihre Bereitschaft, die Obrigkeit und ihren gesellschaftlichen Alltag radikal in Frage zu stellen, muß auch auf bundesrepublikanischer Seite eine Entsprechung finden. Ich fürchte, diesen Test haben wir noch nicht bestanden. Wenn ich mir so manchen Beitrag von heute vergegenwärtige, dann zeichnete er sich eher durch die beim innerdeutschen Ministerium beklagte Sprachlosigkeit aus als durch den Mut, Neues zu denken, Neues zu wagen und unsere noch ausgebliebene stille Revolution in den eigenen Köpfen und Herzen nachzuholen.
    Ich danke Ihnen und bitte Sie, mit mir in diese Richtung weiterzudenken.

    (Beifall bei der SPD)