Rede von
Dr.
Antje
Vollmer
- Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede:
(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
- Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zu Thomas Wüppesahl werde ich nichts sagen. Ich werde mich vielmehr in aller Kürze und spontan zu dem Zehn-Punkte-Plan des Bundeskanzlers äußern.
Ich komme zunächst einmal nicht umhin, meinen Respekt für die kalte Professionalität Ihrer Politik auszudrücken. Es ist Ihnen tatsächlich gelungen, statt des großen demokratischen Aufbruchs ins Offene, den wir uns gewünscht hätten, innerhalb von drei Wochen so etwas wie einen großen nationalen Konsens hinzukriegen. Ich verkenne dabei nicht, daß es eine Bewegung der CDU auf die SPD und Herrn Genscher zugegeben hat. Ich frage mich nur: Es könnte vielleicht eine Ironie der Geschichte sein, Herr Genscher, daß in dem Moment, in dem Sie sich politisch so durchsetzen in dieser großen Koalition, Ihre Partei verschwinden könnte.
Ich will zu diesem Zehn-Punkte-Plan ganz spontan drei Punke nennen, die, denke ich, aufzeigen, daß bei dieser Rechnung einiges ausgelassen worden ist.
Erstens. Die Rechnung ist ohne den Eigensinn der DDR, ohne diesen unbändigen Willen nach der Gestaltung des eigenen Weges aufgestellt worden. Herr Genscher hat gesagt: Es geht um Partner anderer Qualität. Da frage ich mich: Wenn dieses Konzept — ich meine Punkt 5, die Konföderation — ernst gemeint wäre in bezug auf die „andere Qualität", dann müßte der DDR in einer solchen Konföderation eine paritätische Entscheidung über alle Einzelfragen eingeräumt werden; denn sonst machen 60 Millionen die Minderheit der 16 Millionen in jeder einzelnen Frage platt.
Deswegen ist die Übertragung unseres FöderalismusModells auch nicht möglich. Darüber muß man nachdenken. Wenn die DDR ihre eigene Entwicklung will, dann braucht sie ein Veto-Recht, und dann braucht sie politische Parität in der Entscheidung über ihren Weg, und darüber ist kein Wort gefallen.
Zweiter Punkt. Die Rechnung ist ohne die Dritte Welt gemacht worden. Dieses Konzept ist Europazentriert, es ist EG-zentriert. Wenn es denn konsequent durchgeführt wird, dann nehmen wir erst Ost-Berlin und dann Warschau und dann Moskau und am Ende die ganze Welt. Aber es ist hochgefährlich, wenn der Nord-Süd-Konflikt bei dem ständigen Diskutieren der deutschen Frage scheinbar zu einem Konflikt zweiten Ranges degradiert wird.
Das kann für die Entwicklung des Friedens in der Welt nicht gut sein.
Dritter Einspruch: Diese Rechnung ist ohne Rücksicht auf die kritische Lage gemacht worden, in der der Generalsekretär Gorbatschow ist. Jeder mußte doch die warnenden Töne aus der Sowjetunion hören, diejenigen, die gesagt haben: Redet nicht über die Wiedervereinigung, das ertragen wir nicht.
Wer kann es verantworten, wenn am Ende eines solchen Prozesses statt des Generalsekretärs Gorbatschow ein Kriegsmarschall im Kreml sitzt? Diese Entwicklung kann niemand wollen.
Deswegen wollte ich diese drei Punkte anmerken. Ich glaube, das Konzept ist zu deutschkonzentriert. Darin liegt auch die große Gefahr für die Entwicklung in Europa wie auch in der Welt.