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    Plenarprotokoll 11/177 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 177. Sitzung Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 13479 A Nachträgliche Überweisung eines Antrages — Drucksache 11/5692 — an den Haushaltsausschuß 13479 B Zusatztagesordnungspunkt: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Statistik der Straßenverkehrsunfälle (Straßenverkehrsunfallstatistikgesetz) (Drucksache 11/5464) . . 13479A Tagesordnungspunkt I: Zweite Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1990 (Haushaltsgesetz 1990) (Drucksachen 11/5000, 11/5321, 11/5389) Einzelplan 04 Geschäftsbereich des Bundeskanzlers und des Bundeskanzleramtes Dr. Vogel SPD 13479 D Dr. Bötsch CDU/CSU 13488 C Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 13492 B Dr. Graf Lambsdorff FDP 13496 A Dr. Kohl, Bundeskanzler 13502 D Voigt (Frankfurt) SPD 13514 B Bohl CDU/CSU 13516A Frau Eid GRÜNE 13518 C Genscher, Bundesminister AA 13520 B Dr. Meisner, Senator des Landes Berlin . 13523 C Wüppesahl fraktionslos 13525 A Frau Dr. Vollmer GRÜNE 13527 A Roth SPD 13527 D Austermann CDU/CSU 13529 C Jungmann (Wittmoldt) SPD 13532 A Namentliche Abstimmung 13533 D Ergebnis 13536 B Einzelplan 27 Geschäftsbereich des Bundesministers für innerdeutsche Beziehungen Hiller (Lübeck) SPD 13534 A Dr. Neuling CDU/CSU 13538 A Frau Frieß GRÜNE 13541 D Hoppe FDP 13544 A Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMB . 13545 D Frau Terborg SPD 13548 D Lintner CDU/CSU 13550 D Heimann SPD 13552 C Weisskirchen (Wiesloch) SPD 13553 B Stratmann GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 13555 A Einzelplan 05 Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts Waltemathe SPD 13555 C Dr. Rose CDU/CSU 13557 C Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 13561 B Hoppe FDP 13563 A Stobbe SPD 13564 A II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 177. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 Frau Beer GRÜNE 13567 D Genscher, Bundesminister AA 13568 C Einzelplan 10 Geschäftsbereich des Bundesministers für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten Diller SPD 13572 C Schmitz (Baesweiler) CDU/CSU 13574 B Frau Flinner GRÜNE 13576 C Bredehorn FDP 13578 C Kiechle, Bundesminister BML 13579 C Koltzsch SPD 13582 B Einzelplan 13 Geschäftsbereich des Bundesministers für Post und Telekommunikation Frau Faße SPD 13584 B Bohlsen CDU/CSU 13587 D Hoss GRÜNE 13589 C Funke FDP 13590 D Dr. Schwarz-Schilling, Bundesminister BMPT 13591 D Nächste Sitzung 13594 D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 13595* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 177. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 28. November 1989 13479 177. Sitzung Bonn, den 28. November 1989 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 01. 12. 89 * Amling SPD 28.11.89 Frau Beck-Oberdorf GRÜNE 01. 12. 89 Frau Dempwolf CDU/CSU 01. 12. 89 Dr. Dollinger CDU/CSU 01. 12. 89 Engelsberger CDU/CSU 29.11.89 Graf SPD 28.11.89 Dr. Haack SPD 01. 12. 89 Frhr. Heereman von CDU/CSU 28. 11. 89 Zuydtwyck Dr. Hennig CDU/CSU 29. 11. 89 Frau Hensel GRÜNE 28. 11. 89 Frau Hoffmann (Soltau) CDU/CSU 28. 11. 89 Höffkes CDU/CSU 01. 12.89 Hörster CDU/CSU 28. 11.89 Kißlinger SPD 01. 12.89 Klein (Dieburg) SPD 01. 12. 89 Dr. Klejdzinski SPD 28. 11. 89* Linsmeier CDU/CSU 01. 12.89 Frau Luuk SPD 01. 12. 89 Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Lüder FDP 28.11.89 Meneses Vogl GRÜNE 01. 12. 89 Mischnick FDP 28.11.89 Niegel CDU/CSU 01. 12. 89 * Poß SPD 28. 11.89 Rappe (Hildesheim) SPD 28. 11. 89 Frau Rock GRÜNE 01. 12. 89 Frau Schilling GRÜNE 28. 11. 89 Frau Schoppe GRÜNE 28. 11. 89 Schreiber CDU/CSU 30. 11.89 Schröer (Mülheim) SPD 01. 12. 89 Schulze (Berlin) CDU/CSU 01. 12. 89 Singer SPD 28. 11.89 Dr. Stark (Nürtingen) CDU/CSU 28. 11. 89 Dr. Stoltenberg CDU/CSU 28. 11. 89 Tietjen SPD 01. 12.89 Dr. Todenhöfer CDU/CSU 28. 11. 89 Verheugen SPD 30. 11.89 Vosen SPD 28. 11.89 Dr. Warnke CDU/CSU 28. 11. 89 Werner (Ulm) CDU/CSU 28. 11. 89 Frau Wilms-Kegel GRÜNE 01. 12. 89 * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Wolfgang Bötsch


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)

    Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der Bundesregierung unter der Führung von Bundeskanzler Helmut Kohl gebührt Dank.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Denn sie hat ihre Politik wieder so gestaltet, daß der Haushalt rechtzeitig zu Beginn des nächsten Jahres steht.

    (Lachen bei der SPD und den GRÜNEN)

    — Meine Damen und Herren, die Sie jetzt lachen: In der Regierungszeit der SPD ist es nur in Ausnahmefällen gelungen, den Haushalt zum Ende des Jahres zu verabschieden, so daß er zu Beginn des neuen Jahres in Kraft treten konnte. Wir haben das in jedem Jahr unserer Regierungsverantwortung geschafft, und darauf sind wir stolz.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Roth [SPD]: Adenauer hat nicht einen Haushalt vor dem 1. Januar verabschiedet!)

    Wir sind stolz darauf, daß es wiederum ein Haushalt der Solidität und ein Haushalt der Zukunftsgestaltung ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wenn man die Tagesordnung dieser Woche betrachtet, dann sind es Haushaltsberatungen wie in den Jahren zuvor. Und doch stehen sie in diesem Jahr unter ganz besonderen Vorzeichen. Nicht nur bei den Völkern Osteuropas, auch bei dem Teil des deutschen Volkes, der seit Jahrzehnten unter Zwang und Unterdrückung, unter Angst vor freier Meinungsäußerung lebt, hat eine Entwicklung begonnen, die in diesem Tempo nicht erwartet wurde, die aber im Grunde genommen zwangsläufig war.
    Der Mensch will frei sein, und die Sehnsucht nach Freiheit ist ansteckend! Und so verbreitet sich der Mut, Freiheit einzufordern, in Mittel- und Osteuropa mit wachsender Geschwindigkeit. Das Wunderbare ist, daß dies friedvoll geschieht. Die Waffe der Menschen ist allein ihr Wort, so wie es Václav Havel in seiner Dankesrede aus Anlaß der Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels vor reichlich sechs Wochen eindrucksvoll formulierte.

    (Sehr gut! bei der CDU/CSU)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, insofern ist es unverständlich, wie Herr Vogel im Verlauf seiner Rede hier ein Sozialszenario entwickelt hat. Wenn dies richtig wäre: Warum kommen die Menschen dann eigentlich in dieser großen Anzahl zu uns, wie wir dies im Jahre 1989 zu verzeichnen haben — zu Hunderttausenden, meine Damen und Herren?

    (Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. Dr. Weng [Gerlingen] [FDP] — Zuruf von der CDU/CSU: Diese Frage stellt er sich nicht!)

    Was wir in den Staaten des Warschauer Paktes jetzt erleben, ist eine Revolution des Volkes. Hier hat Herr Vogel recht. Sie ist aber auch eine Revolution gegen die Unterdrückung des Kommunismus und seiner Nomenklatura. Wir müssen feststellen: Der Marxismus/Leninismus war angetreten, die angebliche Ausbeutung des Kapitalismus zu überwinden und das Glück der Menschen mit sozialistischer Gleichheit zu ver-



    Dr. Bötsch
    wirklichen. Heute steht der Kommunismus als Symbol für Unterdrückung und für eine Gesellschaftsordnung, die von Versorgungsengpässen geprägt wird. Und es ist eine Ironie des Schicksals, daß die derzeitige DDR-Regierung selber die Bankrotterklärung des Sozialismus nach und nach ans Tageslicht bringen muß.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, Herr Dr. Vogel, mit Ihrem Griff nach vergilbten Bundestagsdrucksachen aus den 70er Jahren können Sie doch nicht von Ihrer heutigen Verlegenheit in Ihren eigenen Reihen ablenken.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Den Menschen, die in Ost-Berlin, in Schwerin, in Rostock, in Leipzig, in Dresden, aber auch in Prag und in Sofia auf die Straße gehen, um mehr Freiheit und ihre Menschenrechte einzufordern, versichern wir unsere uneingeschränkte Solidarität.

    (Beifall bei der CDU/CSU und des Abg. Dr. Weng [Gerlingen] [FDP])

    Wir versichern ihnen diese Solidarität als Europäer und als Demokraten, die in das westliche Wertesystem eingebunden sind.
    Meine Damen und Herren, wir sind auch — und das haben wir wiederholt erklärt, zuletzt der Bundeskanzler in seiner Regierungserklärung vor zwei Wochen — zur Hilfe bereit. Die Reise des Bundeskanzlers nach Polen war ein Erfolg, weil sie nicht nur vom Wunsch nach Versöhnung und vom Geist der Solidarität, sondern auch vom Willen zur Hilfe für dieses geplagte Volk geprägt war.

    (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Und von Unklarheiten und von Arroganz!)

    Meine Damen und Herren, die Entwicklungen in den Staaten Mittel- und Osteuropas hängen miteinander zusammen; sie dürfen nicht isoliert gesehen werden. Polen und Ungarn sind wir deshalb zu Dank verpflichtet, weil ihre mutige Revolution die Entwicklung in der DDR herbeigeführt, zumindest mit herbeigeführt hat.
    Wir müssen in unserer Deutschland- und Ostpolitik aber einen weiteren unabdingbaren Zusammenhang beachten. Es ist der Zusammenhang zwischen freiheitlichen politischen und ökonomischen Systemen. Sozialismus verträgt sich nicht mit Sozialer Marktwirtschaft, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Dies gilt für den marxistisch-leninistischen Sozialismus à la DDR ebenso wie für alle möglichen Spielarten, die heute als Sozialismus des „dritten Weges" verkauft werden, von dem Herr Momper gerne so oft träumt.
    Wenn sich Peter von Oertzen von der SPD öffentlich Sorgen über Glasnost und Perestroika macht, weil diese zur Abschaffung der sozialistischen Errungenschaften in der Eigentums-, Planungs- und Kontrollfrage führen könnten, und im Osten kapitalistische Eigentums- und Marktformen, wie er sagt, unkritisch, überstürzt und ohne Rücksicht auf kritische Reflexion übernommen werden könnten, dann muß man sich fragen: In welcher Welt lebt die SPD eigentlich?
    Herr Vogel, man möchte es nicht wahrhaben, aber in Ihrer SPD scheint die Sorge über einen möglichen Einbruch der im Westen konzipierten und sozial geprägten Marktwirtschaft in die Staaten des ehemaligen Ostblocks umzugehen. Herr Dr. Vogel, dies hat nichts mit „ultimativ" , wie Sie heute gesagt haben, zu tun, das hat nichts mit Erpressung zu tun, sondern dies hat mit guten Ratschlägen aus wertvoller Erfahrung zu tun, die wir in vier Jahrzehnten in der Bundesrepublik Deutschland Gott sei Dank machen konnten.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Ratschläge sind auch Schläge!)

    Das hat auch nichts mit Aufoktroyieren zu tun. Wir wollen unsere Ratschläge geben. Die Entscheidung müssen die Menschen in der DDR selbst fällen.
    Ein weiteres zeigt sich: die Lernunfähigkeit einer SPD, die teilweise das Wiedervereinigungsgebot im Grundgesetz streichen wollte und die durch Herrn Lafontaine wiederum die Anerkennung einer eigenen DDR-Staatsbürgerschaft ins Gespräch bringt. Daneben will Herr Laftontaine in unverantwortlicher Weise auch den Egoismus mancher hätscheln und hofft, hier auf eine vielleicht irgendwo vorhandene dumpfe Volksstimmung zu stoßen.
    Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist richtig, wenn die „Frankfurter Rundschau" in ihrer heutigen Ausgabe schreibt: „Sozialdemokratische Patrioten im Schlingerkurs". Ich würde vielleicht nur hinter ein Wort ein Fragezeichen machen, aber das, was dort steht, ist meines Erachtens richtig.
    Herr Dr. Vogel, zum „runden Tisch". Sie haben dieses Wort heute nicht mehr erwähnt.

    (Dr. Vogel [SPD]: Ein gemeinsamer Tisch!)

    Sie haben hier aber wiederum einiges angemahnt. Ich meine, unser runder Tisch in der Bundesrepublik Deutschland ist der ovale Tisch im Kanzleramt, und es ist dieses Haus, in dem der Deutsche Bundestag tagt. Das ist die Verfassungslage, die uns das Grundgesetz vorgibt. Ich glaube, die Assoziationen, die Sie hier unterschwellig gebracht haben — ungefähr in dem Sinn: In der DDR hat sich das Volk erhoben; wehe, wehe, wenn ihr unserer Politik nicht folgt, dann wird sich das Volk hier in ähnlicher Weise erheben — , sind unserer Verfassungslage nicht angemessen, sie sind ihr unwürdig, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Frau Flinner [GRÜNE]: Ihr seid überhaupt nicht lernfähig!)

    Diese Lernunfähigkeit der SPD ist überhaupt nicht auf die Deutschland- und Ostpolitik beschränkt. Das hat Herr Vogel, meine ich, mit dem zweiten Teil seiner Ausführungen heute schlagend unter Beweis gestellt.

    (Jäger [CDU/CSU]: Sehr richtig!)

    Deshalb, Herr Dr. Vogel, werden Sie nächstes Jahr
    keine Chance haben, die Regierungsverantwortung



    Dr. Bötsch
    zu übernehmen, weder Sie noch ein anderer aus Ihren Reihen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich glaube, das können wir heute mit Mut und Optimismus und Zuversicht feststellen.
    Meine Damen und Herren, wir sind bereit, alles in unserer Macht Stehende zu tun, um den Menschen auf ihrem Weg zu mehr Freiheit zu helfen. Wir sind jedoch nicht bereit, Mittel aufzuwenden, damit der Sozialismus Bestand hat, wie es sich manche vorstellen. Es ist schon eine Ironie, wenn sich die SPD ausgerechnet vom Sprecher der in der DDR neugegründeten SDP — auf die Sie sonst ja sehr große Hoffnungen setzen —, Herrn Stefan Hillsberger, sagen lassen muß

    (Dr. Vogel [SPD]: Hillsberg heißt er!)

    — Entschuldigung, ich habe mich versprochen;

    (Dr. Vogel [SPD]: Wir helfen Ihnen!)

    man darf sich auch einmal versprechen, Herr Dr. Vogel, das passiert Ihnen ja auch;

    (Roth [SPD]: Man darf Ihnen helfen! Sie haben viel Hilfe nötig!)

    Sie dürfen mir auch helfen, allerdings nicht inhaltlich, sondern nur bei dem Punkt —, welch hohen Stellenwert die Soziale Marktwirtschaft in der DDR einzunehmen hat. Einige berichten, das sei bei Ihnen auf betroffenes Schweigen gestoßen, andere haben gesagt, er sei dafür sogar ausgepfiffen oder ausgebuht worden.

    (Roth [SPD]: Dummes Zeug!)

    Ganz gleich, was richtig ist, der Mann hat jedenfalls recht; um das aufzugreifen, was Sie gesagt haben.
    Unsere Hilfe hat nur dann einen Sinn, wenn sie Hilfe zur Selbsthilfe ist, weil sie nur dann unseren Landsleuten wirklich zugute kommt, die genauso tüchtig sind wie wir, die aber bisher um den wahren Lohn ihrer Leistung gebracht wurden. Deshalb müssen Reformen zielgerichtet sein: erstens auf Pluralismus, freie, unabhängige Parteien und freie Wahlen; zweitens auf Dezentralisierung der Entscheidungsstrukturen; drittens auf eine drastische Einschränkung der staatlichen Planvorgaben; viertens auf die schrittweise Einführung von Privateigentum an den Produktionsmitteln, vor allem im Handwerk und im Dienstleistungsbereich; fünftens auf Schaffung echter Märkte; sechstens auf Übergang zu leistungsorientierter Entlohnung; siebtens auf eine Preisreform mit Subventionsabbau.
    Solche Reformen würden unsere Hilfe effizient machen und darüber hinaus die weiter erforderlichen privaten Mittel anlocken, die wir so dringend zur Ankurbelung der Wirtschaft drüben brauchen, weil das öffentliche Mittel allein gar nicht leisten könnten.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Frau OesterleSchwerin [GRÜNE]: Erpressung ist das!)

    Hilfen, die im Sand versickern, werden wir dagegen nicht leisten. Sie wären sinnlos und gegenüber unseren Steuerzahlern nicht zu verantworten.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Bundesfinanzminister Theo Waigel hat das auf den Nenner gebracht: Was ökonomisch falsch ist, kann deutschlandpolitisch nicht richtig sein.

    Auch Andrej Sacharow hat in anderem Zusammenhang, nämlich bei Wirtschaftshilfen gegenüber der Sowjetunion, geraten, sich äußerst vorsichtig zu verhalten; denn er sagt: Was vielleicht wie Hilfe aussieht, könnte dazu dienen, das Übel lediglich unter die Oberfläche zu verdrängen, lebenswichtige Reformen hinauszuschieben oder das bestehende System zu unterstützen.

    (Jäger [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

    Sie, meine Damen und Herren von den Sozialdemokraten, sind gerade dabei, dieselben Fehler in bezug auf die DDR zu machen, die Sie schon im Verhältnis zu Polen gemacht haben. Ich muß leider feststellen, daß Sie aus diesen Fehlern nichts gelernt haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ihre Fehler bestanden darin, den Bundeskanzler bereits zu einer Zeit zur Polen-Reise zu drängen, als dort noch die Kommunisten an der Macht waren. Mit ihnen wäre das Paket, wie es Bundeskanzler Kohl jetzt geschnürt hat, in dieser Weise nicht möglich gewesen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Es hätte die Gefahr der Stabilisierung des kommunistischen Systems bestanden, und womöglich wäre jetzt immer noch Herr Rakowski Ministerpräsident der Volksrepublik Polen und nicht ein Mann der Solidarnosc.

    (Zuruf von der CDU/CSU: So ist es!)

    Bei dieser Gelegenheit möchte ich dem Bundeskanzler auch dafür danken, daß er nicht auf die anmaßenden protokollarischen Vorbehalte von Herrn Rakowski bei seinem Besuch eingegangen ist. Das unterscheidet den Bundeskanzler von Ihnen, die Sie es 1985 — auch wenn Sie es noch so oft in allen Variationen darstellen — vermieden haben, mit der Solidarnosc die nötigen Kontakte aufzunehmen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Dr. Vogel [SPD]: Dummes Zeug!)

    Voreilige und überhastete Vorschläge, wie z. B. ein Sonderopfer einzuführen oder gar die dritte Stufe der Steuerreform aufzuheben — Sie haben sie heute zum wiederholten Mal gebracht — , sind in der Deutschlandpolitik schlicht und einfach falsch. Und, Herr Vogel, die Bestimmung eines gemeinsamen nationalen Feiertages — was Sie im Vorfeld gebracht haben — werden wir uns für den Tag aufheben, an dem auf dem Gebiet der DDR endlich Freiheit, Pluralismus und Selbstbestimmung Platz greifen werden. Das ist der Zeitpunkt, zu dem wir uns darüber zu äußern haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Weng [Gerlingen] [FDP])

    In diesen Tagen zeigt sich aber auch eindrucksvoll, wie richtig die Entscheidungen der Union unter Bundeskanzler Konrad Adenauer waren. Wenn wir jetzt Optionen in der Deutschland- und Ostpolitik haben, dann verdanken wir dies jenen für die Bundesrepublik Deutschland so entscheidenden Weichenstellungen aus den 50er Jahren, nämlich den Entscheidun-



    Dr. Bötsch
    gen für die Freiheit, für das westliche Wertebündnis der NATO und für die Europäische Gemeinschaft. Deshalb haben die Veränderungen in der DDR und in Mittel- und Osteuropa auf unser Verhältnis zu den westlichen Verbündeten nicht den geringsten Einfluß. Uns bleibt die europäische Integration nach wie vor eine Zielsetzung und wichtig, meine Damen und Herren.
    Und wir stehen weiter zu unseren Verbündeten im Westen, so wie wir das über vier Jahrzehnte tun — auch, Herr Dr. Vogel, mit den Verteidigungsanstrengungen, die bei allen begrüßenswerten Abrüstungsschritten nach wie vor notwendig sind. Wachsamkeit ist weiterhin der Preis der Freiheit, wie es über dem NATO-Hauptquartier in Brüssel steht.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, bei dem Treffen der Regierungschefs vor zehn Tagen wurde folgende Resolution verabschiedet:
    Die Teilnehmer an dieser Zusammenkunft legen Wert darauf, ihrem Gefühl der Freude angesichts des Marsches in die Freiheit Ausdruck zu geben, der in den Ländern des Ostens angetreten worden ist.
    Ich glaube, wir können uns für diese Solidaritätsbekundung bedanken. Sie ist eine Äußerung von Freunden. Und wir sollten in diesen Ländern vorhandene Befürchtungen gegenüber einer deutschen Wiedervereinigung auszureden versuchen; wir sollten sie auf keinen Fall herbeireden, und wir sollten sie nicht überbewerten.
    Ich bin felsenfest überzeugt: Wenn die Deutschen von ihrem Selbstbestimmungsrecht Gebrauch machen, dann werden das Ergebnis selbstverständlich alle Mitglieder der westlichen Wertegemeinschaft akzeptieren. Das steht für mich außer Frage. Wir sollten auch daran keinen Zweifel aufkommen lassen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, in der jetzigen Situation ist es besonders wichtig, finanzielle Handlungsfähigkeit zu bewahren. Mit den Beratungen über diesen Haushalt ziehen wir gleichzeitig Bilanz auch über die ersten sieben Monate der Amtszeit von Bundesfinanzminister Dr. Theo Waigel; ich meine, eine erfolgreiche Zeit.
    Der Haushalt 1990 und die von ihm vorgelegte mittelfristige Finanzplanung lassen deutlich seine Handschrift erkennen: Solidität bleibt weiterhin das Markenzeichen unserer Haushalts- und Finanzpolitik.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich möchte namens der CDU/CSU-Fraktion dem Bundesfinanzminister unseren Respekt und unsere Anerkennung für diese beachtliche Leistung zollen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich glaube, wir haben aber auch den Kollegen zu danken, die in verantwortlicher Art und Weise mit großer Anstrengung die Feinabstimmung des Haushalts vorgenommen haben.
    Da schrieb kürzlich einer: Ja, der Finanzminister im Glück. — Meine Damen und Herren, Glück kann man im Lotto haben. Dauerglück in der Politik ist selten. Ich glaube, hier gilt eher das lateinische Sprichwort: „Unus quisque suae fortunae faber est" — „Jeder ist seines Glückes Schmied".

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Zuruf des Abg. Kühbacher [SPD])

    — Da staunen Sie, Herr Kühbacher.

    (Heiterkeit — Kühbacher [SPD]: Ich freue mich! — Dr. Vogel [SPD]: Ein kleiner Strauß, ein Sträußlein!)

    Meine Damen und Herren, das gilt auch für den Gesamtbereich unserer Politik, wie wir sie in den nächsten Jahren auf Grund dieses Haushalts und der mittelfristigen Finanzplanung zu gestalten haben.
    Meine Damen und Herren, Herr Dr. Vogel hat versucht, hier — ich habe das schon erwähnt — ein Szenario der sozialpolitischen Kälte — er hat das Wort heute nur verschämt gebraucht — zu zeichnen. Genau das Gegenteil ist der Fall.
    Herr Dr. Vogel hat auf das Programm, das die SPD in Berlin verabschieden will, als das Zukunftsprogramm der SPD hingewiesen.

    (Dr. Vogel [SPD]: So ist es!)

    Ich möchte schon heute feststellen, daß die Idee des Papieres, das dort verabschiedet werden soll, unausgegoren und das Programm dadurch nicht finanzierbar ist. Ich glaube, das hat sich inzwischen auch schon in der SPD herumgesprochen.
    Es bestehen eigentlich nur zwei Alternativen: Entweder wird das Programm ökologisch ein Mißerfolg, oder es ist nicht finanzierbar. Daß ausgerechnet die Kohle, von der die größte Umweltbelastung ausgeht, von der Energiesteuer, die Sie planen, ausgeschlossen werden soll, hat einer aus Ihren Reihen, Michael Müller, schon ausreichend kommentiert. Er sprach davon, daß „angesichts der drohenden Umweltkatastrophen eine geänderte Energiepolitik vor der Kohle nicht haltmachen darf".
    Meine Damen und Herren, die gemachten Vorschläge sind nicht durchdacht. Sie sind nebulös. Sie sind widersprüchlich. Sie laufen eigentlich nur auf eines hinaus, nämlich: daß der Bürger mehr zur Kasse gebeten wird. Einerseits behaupten Sie, Sie wollten die Neuverschuldung des Bundes zurückführen und den Anstieg der Zinsverpflichtungen bremsen. Andererseits wird in dem Papier selbst zugegeben, daß die „Umsetzung aller beschlossenen sozialdemokratischen Erwartungen für 1991 allein für den Bund per saldo eine zusätzliche Belastung von 40 bis 70 Milliarden DM bedeuten würde".

    (Jäger [CDU/CSU]: Hört! Hört!)

    Es sind eben viel zu viele unterschiedliche Interessenrichtungen aus der SPD, die sich hier profilieren und die einen Fortschritt ausbrüten wollen.

    (Weiß [Kaiserslautern] [CDU/CSU]: Matthäus-Müller!)

    Es sind die Paradiesvögel, die sich mit modischen
    Ökofedern schmücken wollen, ohne die Konsequenzen zu bedenken. Es sind die Papageien, die immer



    Dr. Bötsch
    wieder und immer noch das ideologische Lied stärkerer Staatslenkung und Umverteilung nachplappern

    (Dr. Weng [Gerlingen] [FDPJ: Und Wendehälse!)

    und die nichts aus den Entwicklungen der Vergangenheit und der Gegenwart lernen wollen.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Es sind die Lämmergeier, die im Steuerzahler ein willkommenes Opfer sehen, das für eine weitere Erhöhung der Staatsquote bluten soll.

    (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Es ist der Vogel Strauß!)

    Wenn vereinzelt wie eine Schwalbe einmal das Wort „Marktwirtschaft" durch Ihr Programm flattert, so macht das noch lange keinen Sommer, meine sehr verehrten Damen und Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Man kann für Ihr Programm zusammenfassend feststellen: Viele Vögel verderben den Brei. Das ist die Zusammenfassung des Programms der SPD.

    (Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Weil das für die SPD symptomatisch ist — von der Kompetenz der GRÜNEN, die jetzt immer wieder dazwischenrufen, will ich gar nicht reden, weil das sowieso nutzlos und des gesprochenen Wortes, geschweige denn des beschriebenen Papieres nicht wert ist — , weil die Kompetenz bei Ihnen, den GRÜNEN, und auch von der SPD im Grunde genommen nicht vorhanden ist, gibt es zu dieser Regierung, gibt es zu diesem Bundeskanzler keine Alternative. Deshalb werden wir, CDU und CSU, mit unserer erfolgreichen Politik auch über den Wahltag hinaus in den nächsten Jahren die Bundesrepublik Deutschland regieren

    (Frau Dr. Vollmer [GRÜNE]: Das werden wir ja sehen!)

    und erfolgreich eine Zukunft im Zusammenwirken mit unseren Bürgerinnen und Bürgern gestalten.
    Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat die Abgeordnete Frau Oesterle-Schwerin.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Jutta Oesterle-Schwerin


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (DIE GRÜNEN/BÜNDNIS 90)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Nach den gestrigen Verlautbarungen des Kanzlers besteht nun kein Zweifel mehr daran, mit welchem Programm Helmut Kohl in die Geschichte eingehen und ganz nebenbei den nächsten Wahlkampf gewinnen will: Die DDR soll durch einen sogenannten Dreistufenplan heim ins Reich geführt werden.

    (Bühler [Bruchsal] [CDU/CSU]: Quatsch!)

    45 Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, mit der riesigen ökonomischen Macht der BRD im Rücken und der Bescheinigung der USA, auch politisch wieder eine Führungsmacht zu sein, hat Kohl keine Skrupel mehr. Die Zeit ist günstig, sagt sich der Bundeskanzler.

    (Dr. Häfele [CDU/CSU]: Die Sterne stehen gut!)

    Die DDR ist angeschlagen. Die SED hat bei der Bevölkerung keine Zustimmung mehr.

    (Klaus [CDU/CSU]: Der Sozialismus ist kaputt!)

    Warum also nicht zuschlagen?
    Warum nicht die eigene wirtschaftliche Stärke nutzen? Warum nicht die Bitte um Hilfe als willkommene Gelegenheit nehmen, das deutsche Staatsgebiet um ein Drittel zu vergrößern und sich 16 Millionen neuer Untertanen zu verschaffen?

    (Zuruf von der CDU/CSU: Unerhört! — Dr. Weng [Gerlingen] [FDP]: Wer das von anderen denkt, denkt es von sich selber!)

    Was scheren einen deutschen Politiker vom Schlage Helmut Kohls die Ängste der Menschen in beiden deutschen Staaten, die sich daran erinnern, daß großdeutsche Träume schon zweimal in der Geschichte zu schrecklichen Kriegen geführt haben!

    (Beifall bei den GRÜNEN — Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt reicht es aber!)

    Was schert ihn die fast schon flehentlich geäußerte Bitte so ziemlich aller Oppositioneller in der DDR nach Zeit für eine eigenständige Entwicklung, selbstbestimmt, ohne Einmischung eine neue Gesellschaft aufzubauen?
    Eroberer werden in der Geschichte — das weiß der Kanzler, dafür hat er studiert — einzig und allein nach ihrem Erfolg und nicht danach beurteilt, ob ihr Wirken den Menschen Gutes gebracht hat. Mit diesem Wissen steht der Kanzler nicht allein. Es ist vielleicht ein zeitlicher, ganz gewiß aber kein sachlicher Zufall, daß am gleichen Tag, an dem Helmut Kohl seinen Plan bekanntgab, der „Republikaner" Schönhuber das neue Programm seiner Partei vorlegte, dessen Inhalt nichts anderes ist als die auf fünfzig Druckseiten ausgewalzte erste Strophe des Deutschlandliedes.
    Der politische Ton, so fürchte ich, wird in diesem Lande härter. Es ist Zeit für die Friedensbewegung, wieder auf die Straße zu gehen.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Lachen bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, es gibt einige Gründe, die mich und viele andere Menschen dazu veranlassen, Angst vor einer Wiedervereinigung zu haben. Es gibt aber keinen einzigen vernünftigen Grund, der für eine Wiedervereinigung spricht. Kein einziges Problem unserer Zeit kann in einem vereinigten deutschen Staat besser gelöst werden als in zwei Staaten. Weder die ökologische Zerstörung hüben und drüben noch die soziale Verelendung durch materielle Armut und Vereinsamung werden durch die Zusammenlegung von Staaten beendet. Wenn Herr Rühe sagt, wir gehören alle zu einem Volk, dann frage ich Sie: Was nützt es der Verkäuferin in Leipzig, der Kassiererin in Dresden oder der Arbeiterin in Ost-Berlin, wenn sie mit Neckermann oder Thyssen zu einem Volk gehö-



    Frau Oesterle-Schwerin
    ren? Sie werden, wenn das westdeutsche Kapital seinen Einzug in die DDR hält, von ihm nicht besser behandelt werden als die westdeutschen Arbeitnehmerinnen, die in ungeschützten Arbeitsverhältnissen stehen, um jederzeit auf die Straße gesetzt werden zu können, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Was hat es denn den bundesrepublikanischen Rentnerinnen, den Behinderten, den Erwerbslosen genutzt, daß sie mit Blüm, Kohl und Geißler zu einem und demselben Volk gehörten? Kaum waren diese Herren 1983 an die Macht gekommen,

    (Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Blühender Unsinn! — Weiß [Kaiserslautern] [CDU/CSU]: Was sind Sie für eine arrogante Frau!)

    haben sie durch Kürzungen der Sozialleistungen den Lebensstandard der betroffenen Gruppen ganz erheblich heruntergedrückt.

    (Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: Bei 200 Mark Rente! — Weng [Gerlingen] [FDP]: OstMark!)

    — Nein, Lohnabhängige, Sozialhilfeempfängerinnen, Erwerbslose und Rentnerinnen haben nichts von der Zugehörigkeit zu einer gemeinsamen Nation mit Herrn Rühe. Und die Menschen in der DDR werden das Fürchten lernen, wenn Leute wie Kohl und Blüm, Thyssen und Krupp in ihrem Land das Sagen bekommen.
    Die Regierung in der Bundesrepublik hat überhaupt keine Berechtigung dazu, die DDR in Sachen Demokratie und soziale Gerechtigkeit zu belehren. Ein jeder kehre vor seiner eigenen Tür, würde ich mal sagen,

    (Borchert [CDU/CSU]: Und die GRÜNEN fangen damit an!)

    bzw. es ist Zeit für einen großen Kehraus, der uns 1990 hoffentlich von einer Regierung befreit,

    (Borchert [CDU/CSU]: Der uns von den GRÜNEN befreit!)

    die in der DDR besserwisserisch und schulmeisterlich auftritt, während Armut und Wohnungsnot im eigenen Land immer größer und die ökologische Krise immer tiefer wird.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, nach Öffnung der Mauer gab es eine ganze Menge ehrliche, überschwengliche Freude über den Demokratisierungsprozeß in der DDR und über die neu gewonnene Reisefreiheit ihrer Bürgerinnen und Bürger. Große Freude auch bei uns.

    (Rühe [CDU/CSU]: Sie können sich doch gar nicht freuen! — Gegenruf des Abg. Hüser [GRÜNE]: Es ist eine Zumutung, sich hier die Zwischenrufe anhören zu müssen!)

    Es gab aber auch ganz unverhohlene Vorfreude auf die bevorstehenden Profite und eine ganz bösartige Schadenfreude über den angeblichen Niedergang der sozialistischen Idee.

    (Dr. Graf Lambsdorff [FDP]: Angeblichen?)

    Fast drei Wochen danach ist es meiner Meinung nach an der Zeit, ein paar kritische Anmerkungen über den Kapitalismus zu machen, um die unerträgliche Überheblichkeit gegenüber dem Nachbarland DDR durch eine Umkehr der Scheinwerfer auf bundesdeutsche Verhältnisse zu relativieren.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Den dümmlichen Systemvergleichen der letzten Wochen, die zu beweisen versuchen, daß der Kapitalismus schon deswegen eine phantastische Gesellschaftsordnung ist, weil der real existierende Sozialismus gescheitert ist, muß etwas entgegengesetzt werden;

    (Kraus [CDU/CSU]: Was denn?)

    sie dürfen nicht unwidersprochen bleiben. — Das werde ich Ihnen gleich erzählen.
    Vor gut drei Wochen veröffentlichte der Paritätische Wohlfahrtsverband der Bundesrepublik einen Armutsbericht, der von der Bundesregierung mit gutem Grund nicht zur Kenntnis genommen wird. Nach diesem Armutsbericht wurden 1988 offiziell 3,3 Millionen Personen gezählt, die auf Sozialhilfe angewiesen sind. Das waren 6,4 % mehr als im Jahre 1987. Die Zahl steigt sprunghaft weiter an. In Wirklichkeit gibt es natürlich viel mehr Hilfsbedürftige. Seriöse Schätzungen gehen mindestens von weiteren 3 Millionen Menschen aus, die ihren Anspruch auf Sozialhilfe aus Angst und vor Scham nicht wahrnehmen. Das heißt, etwa 6 Millionen Menschen, ca. 10 % der Bevölkerung hierzulande, sind von materieller Armut betroffen. Was Armut bedeutet, das können Sie

    (Cronenberg [Arnsberg] [FDP]: In der DDR sehen!)

    dem Warenkorb entnehmen, der definiert, mit wie wenig ein Mensch auskommen muß, für den die Marktwirtschaft keine Verwendung hat: 150 Gramm Bohnenkaffee, 50 Gramm Bauchspeck, 12 Straßenbahnkarten, 2 Rollen Klopapier, Herr Bundeskanzler.

    (Lachen bei der CDU/CSU — Zuruf von der CDU/CSU: Für Sie reicht das!)

    Warum kommen diejenigen, die jetzt mit unübersehbarer Häme vom Versagen des realen Sozialismus sprechen, angesichts dieser Zahlen nicht auf die Idee, die Soziale Marktwirtschaft für gescheitert zu erklären?

    (Beifall bei den GRÜNEN — Lachen und Zurufe von der CDU/CSU)

    Was ist eigentlich schlimmer, frage ich Sie, die langen Schlangen vor den West-Berliner Obstläden, die immerhin beweisen, daß die Menschen in der DDR in der Lage sind, Südfrüchte zu kaufen, auch zu überhöhten Preisen, oder die Tatsache, daß viele ältere Menschen in der Bundesrepublik dazu gezwungen sind, sich von Hundefutter zu ernähren? Was ist schlimmer, frage ich Sie.

    (Lachen bei der CDU/CSU — Bohl [CDU/CSU]: Menschenskinder! Setzen Sie sich wieder hin! — Weitere lebhafte Zurufe von der CDU/CSU)




    Frau Oesterle-Schwerin
    Die DDR kann von der Bundesrepublik in der Tat sehr viel lernen. Sie kann vor allem viel darüber lernen, wie eine Gesellschaft und ein Land besser nicht organisiert werden sollten.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Wo leben Sie denn? — Fortgesetzte weitere Zurufe von der CDU/CSU — Hüser [GRÜNE]: Frau Präsidentin, wenn die das nicht hören wollen, schicken Sie sie raus!)