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ID1115605100

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    Plenarprotokoll 11/156 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 156. Sitzung Bonn, Dienstag, den 5. September 1989 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 11715A Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1990 (Haushaltsgesetz 1990) (Drucksache 11/5000) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1993 (Drucksache 11/5001) Dr. Vogel SPD 11715B Rühe CDU/CSU 11723 D Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 11733 C Mischnick FDP 11736 C Dr. Kohl, Bundeskanzler 11739C Dr. Schmude SPD 11750A Lintner CDU/CSU 11754 B Frau Frieß GRÜNE 11756 C Hoppe FDP 11758C Büchler (Hof) SPD 11760B Dr. Knabe GRÜNE 11762 D Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMB . . 11763 C Kühbacher SPD 11765C Dr. Stoltenberg, Bundesminister BMVg . . 11769A Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 11772 B Dr. Rose CDU/CSU 11773 D Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister AA 11776D Dr. Hauchler SPD 11778C Wilz CDU/CSU 11781C Dr. Mechtersheimer GRÜNE 11783 B Frau Seiler-Albring FDP 11784 C Müntefering SPD 11786 D Pesch CDU/CSU 11788D Frau Teubner GRÜNE 11791C Dr. Hitschler FDP 11792 D Frau Hasselfeldt, Bundesminister BMBau . 11794B Conradi SPD 11797D Frau Odendahl SPD 11799C Frau Männle CDU/CSU 11803 A Wetzel GRÜNE 11804 D Neuhausen FDP 11806A Daweke CDU/CSU 11806D Möllemann, Bundesminister BMBW . . . 11807D Oostergetelo SPD 11810B Eigen CDU/CSU 11814 D Frau Flinner GRÜNE 11817 C Bredehorn FDP 11819 A Daubertshäuser SPD 11821 C Fischer (Hamburg) CDU/CSU 11824 A II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 156. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 5. September 1989 Frau Rock GRÜNE 11826 D Zywietz FDP 11828B Haar SPD 11831A Zusatztagesordnungspunkt: Erste Beratung des von den Abgeordneten Susset, Michels, Eigen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Paintner, Heinrich, Bredehorn und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung der Gemeinsamen Marktorganisationen (MOG) (Drucksache 11/5124) 11821B Nächste Sitzung 11832D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . .11833* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 156. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 5. September 1989 11715 156. Sitzung Bonn, den 5. September 1989 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 07. 09. 89* Frau Berger (Berlin) CDU/CSU 07. 09. 89 Büchner (Speyer) SPD 07. 09. 89* Dr. Daniels (Regensburg) GRÜNE 05. 09. 89 Eich GRÜNE 07.09.89 Frau Eid GRÜNE 07. 09. 89 * * * Frau Fischer CDU/CSU 07. 09. 89* * * Frau Garbe GRÜNE 05. 09. 89 Frau Geiger CDU/CSU 07. 09. 89* * * Genscher FDP 07.09.89 Haack (Extertal) SPD 05. 09. 89 Heimann SPD 05.09.89 Frau Hensel GRÜNE 05. 09. 89 Dr. Holtz SPD 07. 09. 89* * * Frau Hürland-Büning CDU/CSU 07. 09. 89 Dr. Hüsch CDU/CSU 05. 09. 89 Hüser GRÜNE 05.09.89 Ibrügger SPD 05. 09. 89 * * Jaunich SPD 05.09.89 Klein (Dieburg) SPD 07. 09. 89 Dr. Klejdzinski SPD 07. 09. 89 * * * Dr. Kreile CDU/CSU 07. 09. 89 Kreuzeder GRÜNE 05.09.89 Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 07. 09. 89 Frau Luuk SPD 07. 09. 89* * * Lüder FDP 07.09.89 Magin CDU/CSU 07.09.89 Meyer SPD 05.09.89 Dr. Müller CDU/CSU 07. 09. 89 * Frau Nickels GRÜNE 05. 09. 89 Dr. Nöbel SPD 07. 09. 89 Poß SPD 05.09.89 Regenspurger CDU/CSU 07.09.89 Frau Saibold GRÜNE 05. 09. 89 Dr. Scheer SPD 07. 09. 89 Schulze (Berlin) CDU/CSU 07. 09. 89 Dr. Stercken CDU/CSU 07. 09. 89 * * * Stratmann GRÜNE 05.09.89 Such GRÜNE 05.09.89 Tietjen SPD 07.09.89 Vahlberg SPD 07.09.89 Frau Dr. Vollmer GRÜNE 05. 09. 89 Westphal SPD 07.09.89 Wolfgramm (Göttingen) FDP 07. 09. 89* * * Dr. Wulff CDU/CSU 07. 09. 89* * * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates * * für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung * * * für die Teilnahme an der Jahreskonferenz der Interparlamentarischen Union
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Wolfgang Mischnick


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen! Im siebten Jahr des wirtschaftlichen Aufschwungs stellt sich die Lage in der Bundesrepublik Deutschland so günstig dar wie lange nicht mehr.

    (Sehr wahr! bei der CDU/CSU)

    Die Produktionskapazitäten sind in den meisten Wirtschaftszweigen gut bis sehr gut ausgelastet. Umfragen unter den Unternehmen zeigen, daß diese gute Auftragslage zu Erweiterungsinvestitionen ermuntert und daher auch die Zukunftserwartungen für das nächste Jahr positiv sind.
    Der kräftige Aufschwung hat auch auf dem Arbeitsmarkt Wirkung gezeigt und Entlastung herbeigeführt. Die Kurzarbeit hat drastisch abgenommen. Die Zahl der offenen Stellen ist erheblich angestiegen. Das wird sich in den nächsten Monaten fortsetzen, wie auch die heutigen Zahlen wieder beweisen.
    Durch die von der Bundesregierung eingeleitete und durchgehaltene finanzpolitische Neuorientierung hat sich die Lage der Staatsfinanzen nachhaltig verbessert. Damit konnte ein entscheidender Beitrag zur Wiedergewinnung eines stabilen Wirtschaftswachstums geleistet werden.
    Mit der Verwirklichung der Steuerreform in ihrer dritten Stufe werden wir die volkswirtschaftliche Steuerlastquote auf 22,5 % zurückführen. Das ist die niedrigste Steuerlastquote seit 1960. Diese Steuerreform wird gerade auch Beziehern niedriger Einkommen zugute kommen.
    Das sind Erfolge, die niemand leugnen kann, der bei klarem Verstand ist.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Das ist ja auch der Grund, weshalb wir heute früh in der Rede von Herrn Kollegen Vogel zu diesen Fragen nichts gehört haben, weil das die Erfolge unserer Politik sind. Ich habe Verständnis dafür, daß dazu nichts gesagt worden ist.
    Sie haben den Zustand unserer Republik beklagt. Herr Kollege Vogel, es ist richtig, daß manches in unserer Republik beklagenswert ist. Am beklagenswertesten ist, daß von vielen eine Stimmung verbreitet wird, als wäre dies ein mieser Staat, während es ein Staat ist, der in der gesamten Welt wegen seiner hervorragenden Leistungen anerkannt ist.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wer diese Miesmacherei betreibt, darf sich nicht wundern, wenn dann manche Wähler in radikale Grup-



    Mischnick
    pierungen ausweichen, weil sie diese Miesmacherei glauben.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU — Zuruf von der SPD: Meinen Sie Herrn Rühe?)

    Ich habe manchmal den Eindruck, daß einige meinen, das, was 1976 in der Sonthofener Rede damals von Strauß gemacht worden ist, nun nachahmen zu sollen. Man erinnere sich daran, wie man dies damals mit Recht kritisiert hat, und hüte sich davor, jetzt in gleiche Fehler zu verfallen; denn das wäre nicht zum Nutzen von uns allen und unserer Demokratie, die sich in diesen 40 Jahren doch stabilisiert hat.

    (Beifall bei der FDP und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Das schließt nicht aus, daß wir sehen müssen, wo noch Reformen erforderlich sind. Wenn wir die Gesundheitsreform durchgesetzt haben und wenn die Rentenreform vor der Tür steht, dann geschieht das ja, um Mängel, die erkannt worden sind, zu beseitigen und Voraussetzungen für neue Maßnahmen zu schaffen, damit wir die Weiterentwicklung gerade in diesem sozialen System absichern, und zwar nicht nur für die heute Lebenden, sondern auch für die nächste Generation.

    (Beifall bei der FDP und bei der CDU/CSU)

    Diese Innovation haben wir als Koalition vorgenommen; das können Sie nicht leugnen.
    Meine Damen und Herren, ich habe jetzt nicht die Zeit, all das darzulegen, was wir in den verschiedensten Bereichen an Positivem erreicht haben; das werden wir in den Diskussionen zu den Fachgebieten noch hören.
    Eines möchte ich allerdings deutlich sagen: Wenn mit Recht beklagt wird, daß sich radikale Gruppierungen breitmachen, dann sollten wir alle uns angewöhnen, uns sachlich damit auseinanderzusetzen. Drohungen mit einem Verbot oder andere Maßnahmen helfen nicht weiter; denn die Wähler, die da guten Glaubens nachlaufen und nicht etwa überzeugte Anhänger dieser radikalen Gruppierungen sind, kann man nur gewinnen, indem man den Ausgangspunkt ihres falschen Weges erläutert, klarstellt und das durch die praktische Politik abstellt, nicht aber dadurch, daß man sie nur polemisch bekämpft.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

    Dies, meine Damen und Herren, gilt auch für ein Problem, das wir in diesen Tagen — — —

    (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Hat Herr Rühe dazu beigetragen? — Gegenruf des Abg. Dr. Rose [CDU/CSU]: Haben Sie gestern dazu beigetragen? — Zuruf von der SPD: Ja!)

    — Frau Kollegin Matthäus-Maier, wir kennen uns schon sehr lange. Sie wissen sehr genau, daß ich das, was ich für richtig halte, ausspreche, aber dabei nie unmittelbar die eine oder den anderen ansehe. Was die finanzpolitischen Überlegungen von gestern angeht, so könnte ich dazu heute noch sehr viel sagen.

    (Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Mich interessiert, wen Sie heute nicht ansehen! Sagen Sie einmal, wen Sie heute nicht ansehen!)

    Ich denke z. B. an die Frage der Kraftfahrzeugsteuer. Das wird von uns seit 15, 20 Jahren vertreten. Wir freuen uns darüber, daß wir dafür heute Unterstützung in allen Reihen bekommen.
    Ich komme zu einem anderen Punkt. Ich will ihn herausgreifen, auch wenn er nicht so groß erscheint. In vielen Diskussionen ist immer wieder gesagt worden: Wir alle müssen bereit sein, den Menschen, die zu uns kommen, zu helfen. Wir brauchen Wohnungsbau. Bund, stelle Mittel zur Verfügung! — Dies tun wir. Sind aber alle von uns, die kommunalpolitisch tätig sind, bereit, bei ihren Gemeinden und Städten dafür zu sorgen, daß nicht durch bürokratische Hemmnisse die Bereitschaft zum Wohnungsbau eingeschränkt wird und daß es nicht über Wochen und Wochen dauert, bis die Genehmigung, neue Wohnungen zu bauen, erteilt wird?

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Wo ist denn diese Bereitschaft, wenn man da plötzlich anfängt, Hürden aufzubauen? Hier wird die Solidarität beschworen, aber da, wo man mitentscheiden kann, wo an Ort und Stelle die Voraussetzungen geschaffen werden, werden Hemmschuhe eingebaut. Das gilt für alle Seiten. Das ist keine parteipolitisch festgelegte Problematik, sondern draußen leider überall festzustellen.
    Ich will mich in meinem Beitrag hier in erster Linie mit dem auseinandersetzen, was wir in diesen Wochen erleben, zu dem wir aus gutem Anlaß auch vor wenigen Tagen Stellung genommen haben.
    Meine Damen und Herren, der Flüchtlingsstrom, der Strom der Aussiedler zeigt deutlich, daß die Nachkriegszeit, formal gesehen, zwar zu Ende ist, daß es aber durch die Kriegsereignisse noch eine Unmenge menschlicher Probleme gibt, die bis heute nicht gelöst werden konnten, die jetzt teilweise gelöst werden. Das heißt: Wenn wir mit Recht immer gesagt haben, wir fühlten uns insgesamt verantwortlich, dann gilt die Verantwortung allerdings nicht nur für diejenigen, die kommen, die unserer Hilfe bedürfen, nicht nur für diejenigen, die heute in Vertretungen, in Botschaften sitzen, nicht nur für diejenigen, die in Feldlagern sind und deren Schicksal noch nicht ganz klar ist, sondern es gilt auch für diejenigen, die da, wo sie heute leben, auf Dauer bleiben wollen.

    (Beifall bei der FDP, bei der CDU/CSU und bei der SPD)

    Das heißt, wir müssen eine umfassende Politik betreiben.
    Wenn ich mir so manche Kommentare angehört und gelesen habe, dann hatte ich das Gefühl, daß das vordergründige Auseinandersetzen mit dem menschlichen Schicksal — was notwendig war — den Blick für die Millionen getrübt hat, die eine andere Entscheidung getroffen haben, wahrscheinlich auf Dauer treffen werden. Was bedeutet das für uns? Daß wir in der



    Mischnick
    praktischen Politik immer daran denken müssen, bei dieser Gratwanderung, die das unzweifelhaft ist, nicht aus dem Auge zu verlieren, daß wir auch mit denjenigen, die eine Politik, betreiben, die wir für falsch halten, im Gespräch bleiben müssen, um für die Menschen, die in diesen Ländern leben und bleiben wollen, das Optimale, soweit es in unseren Kräften steht, zu erreichen.

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Deshalb, meine Damen und Herren, bei allem Verständnis dafür, daß man sich um Maßnahmen, Gespräche, Vereinbarungen im einzelnen streitet, vergessen wir nie dabei: Wir alle zusammen haben eine Verantwortung als ein Volk, das mitten in Europa, innerhalb unserer Europäischen Gemeinschaft lebt, aber darüber hinaus eine Verantwortung für all die Schicksale hat, die wir nicht unmittelbar beeinflussen können.
    Ich habe mich sehr gefreut, daß in diesen Wochen, in diesen Tagen die Bereitschaft, mit Polen enge Beziehungen auszubauen, so breit geworden ist. Das ist erfreulich. Ich kann mich allerdings noch genau entsinnen — ich greife selten auf persönliche Erlebnisse zurück — , als ich vor 30 Jahren mit einer Delegation des Bundestages bei der Interparlamentarischen Union in Warschau war, welch schwierige Aufgabe wir hatten, dort ohne diplomatische Vertretung deutlich zu machen, daß wir Deutschen bereit sind, auch mit Polen einen Weg zu gehen, wie wir ihn mit Frankreich damals schon bereit waren zu gehen. Ich entsinne mich noch sehr genau, wie wir empfangen wurden: kritisch; ich selber wurde als Militarist, Faschist, Kapitalist bezeichnet. Als mich der begrüßende, später in hohen Funktionen tätige Begleiter fragte, wie mit das gefällt, habe ich ihm das alles gesagt und hinzugefügt: Ich bin trotzdem hier. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch. Ich sage das deshalb, weil wir uns hüten müssen, daß bei unseren jungen Menschen der Eindruck entsteht, wir hätten die Beziehungen zu Polen erst in den letzten zwei, drei Jahren entdeckt.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

    Das ist eine Aufgabe, der wir uns über lange Jahre gestellt haben und bei der wir uns bemüht haben, die Dinge weiterzuentwickeln. Wir sind froh darüber, daß vieles von diesen Initiativen Wirkung hat, daß die Umgestaltung im Gange ist.
    Dasselbe gilt für Ungarn. Meine Damen und Herren, ich verhehle nicht, daß ich in den letzten Tagen mehrfach erschrocken darüber war, wie Politiker aus der Bundesrepublik Deutschland, Kollegen, glaubten Gepräche mit führenden Persönlichkeiten in Ungarn auf dem offenen Markt darstellen zu müssen, statt das, was in diesen Gesprächen gesagt worden ist, als eine Hoffnung mitzunehmen und es denen, die sich in ihren Bündnissystemen in eine schwierige Position begeben haben, nicht so schwer zu machen, humanitäre Entscheidungen zu treffen. Schweigen ist in diesen Situationen mehr wert als Reden.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

    Nur wer sich selbst — das geht quer durch alle Fraktionen, das ist keine Frage, die auf die eine oder andere Partei beschränkt ist, über viele Jahre bemüht hat, solche menschlichen Erleichterungen umzusetzen, weiß, daß gerade mit Regimen, die diktatorisch ausgerichtet sind, und gerade gegenüber den Ländern, in denen eine Entwicklung zur Pluralität im Gange ist, eine besondere Feinfühligkeit, aber auch Unterstützung, die wir für richtig und wichtig halten, erforderlich sind.
    Wir können heute gegenüber Ungarn und Österreichern nur mit Dankbarkeit zum Ausdruck bringen, was sie an stiller menschlicher Hilfe geleistet haben und was hier an offizieller Hilfe geleistet worden ist. Das zeigt, daß der Weg, den man dort geht, eben nicht nur Pluralität nach innen bedeutet, sondern daß man sich auch der humanitären Verpflichtungen nach außen voll bewußt ist.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Das heißt aber auch, meine Damen und Herren, daß wir uns bewußt sein müssen, daß wir das, was wir im Dialog, was wir im Gespräch erreichen — das gilt für Polen genauso wie für Ungarn; das gilt in einem anderen Sinne auch für die Sowjetunion — , bei unseren Entscheidungen, wie wir diese Prozesse unterstützen können, immer berücksichtigen müssen,

    (Dr. Vogel [SPD]: Sehr wahr!)

    und daß wir nicht anfangen, dann kleinlich zu feilschen, sondern zu sehen, welch gewichtige Aufgabe zu helfen für uns besteht, daß die Überwindung dessen, was dort als falsch erkannt worden ist, mit unserer Hilfe möglich wird.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

    Das bedeutet für mich, daß ich hoffe, daß die Reise des Bundeskanzlers nach Polen bald möglich wird.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Warum fährt er eigentlich nicht?)

    Ich füge aber ausdrücklich hinzu: Voraussetzung ist, daß diese Reise so abgeklärt ist, daß das Ergebnis für beide — Polen und Bundesrepublik Deutschland — positiv in die Zukunft wirkt und dann nicht etwa nur eine verbale Erklärung bleibt.

    (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Das ist wichtig!)

    Gut vorbereitet ist besser, als schnell und ohne Ergebnis gereist zu sein. Das sage ich dazu genauso offen.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Daß ich es begrüßt hätte, wenn man in der Entwicklung so weit gewesen wäre, das schon bis zum 1. September alles abzuwickeln, daran ist kein Zweifel.
    Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zur DDR machen. Meine Damen und Herren, wir Freien Demokraten haben nicht nur zu den anderen WarschauerPakt-Staaten, sondern auch zur DDR über die Jahrzehnte hinweg unsere Bindungen gehalten. Wir haben mit allen Gruppierungen, die mit uns sprechen wollten, gesprochen. Wir haben die Möglichkeiten genutzt, da, wo es zu machen war, Einfluß zu nehmen.



    Mischnick
    Wir haben allerdings auch nie vergessen, daß die Entscheidungen nicht wir, sondern daß andere sie treffen und daß unsere Argumentation so stark sein muß, daß sie in ihre Entscheidungen möglichst einfließt.
    Heute stellen wir fest, daß innerhalb der DDR die Unbeweglichkeit leider noch in einer Weise vorhanden ist, die sie selbst in die Situation bringt, wo sie anderen vorwirft, sie hätten sie herbeigeführt. Dabei wissen wir sehr genau, daß auch für die DDR Entwicklungen zur Pluralität natürlich zusätzliche Probleme gegenüber Staaten wie Polen und Ungarn bringen. Dies befreit uns nicht von der Notwendigkeit, ihnen immer wieder klarzumachen: Auf Dauer genügt es nicht, den Lebensstandard zu verbessern, sondern die Menschen wollen darüber hinaus selber über ihr Leben und ihr Schicksal entscheiden können und nicht vom Staat vorgeschrieben bekommen, wie sie zu leben haben.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

    Das ist der Schlüssel für die Lösung des Gesamtproblems.
    Daß es vielen, die sich über Jahre, Jahrzehnte daran gewöhnt haben, in einer Form zu regieren, die mit unseren Vorstellungen von Demokratie nichts gemein hat, schwerfällt, dies zu verändern, wissen wir. Aber auch hier müssen wir beharrlich unsere Möglichkeiten nutzen, dies öffentlich darstellen, aber auch im internen Gespräch versuchen, zu erreichen, daß man Schritt für Schritt weiterkommt, so mühselig dies ist.
    Das heißt, alle Gruppierungen, die sich heute in der DDR bemühen, Entwicklungen wie in Ungarn, wie in Polen voranzubringen, verdienen unsere Aufmerksamkeit und unsere Hilfe, aber nicht um etwa innenpolitisch hier bei uns irgendwelche Vorteile daraus zu ziehen, sondern um ihnen drüben die Chance zu geben, sich weiterzuentwickeln. Das ist doch der entscheidende Punkt.

    (Beifall bei der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    Wir wissen doch aus unserer eigenen bitteren Erfahrung, wie schwer es ist, in einem System dieser Art von innen her wirken zu können. Deshalb ist die entsprechende Vorsicht geboten.
    Ich habe hier bewußt einige wenige Gesichtspunkte in den Vordergrund gestellt. Es gäbe bei einer Bilanz sehr viel zu sagen. Aber bei einer Zuteilung von knapp 20 Minuten für die Debatte kann man nicht auf alles eingehen. Lassen Sie mich zum Schluß aber dies feststellen: Der Wähler hat 1987 diese Koalition beauftragt, eine Regierung zu bilden, Politik zu machen. Trotz aller Unkenrufe, trotz vieler Punkte, wo wir unterschiedlicher Meinung waren, ist es uns gelungen, Daten und Fakten zu setzen und viele Dinge umzusetzen, die man nicht für möglich hielt und die sich für die Menschen doch positiv auswirken, weil wir es verstanden haben, zu dem Ausgleich untereinander und zu der Kompromißfähigkeit zu kommen, die in einer Demokratie notwendig sind.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)

    Machen wir nicht den Fehler, in der Öffentlichkeit Kompromißfähigkeit als Konturlosigkeit hinzustellen,
    sondern seien wir bereit, den Wert der Demokratie gerade darin zu erkennen, daß man in dem Kompromiß, der nach vorn weist, die einzige Möglichkeit hat, auf Dauer die Aufgaben, die vor uns liegen, und die Reformen, die notwendig sind, auch im Interesse der Bürger umzusetzen.
    Dazu werden wir Freien Demokraten stehen.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Ich erteile das Wort dem Herrn Bundeskanzler.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Einbringung des Etats für das kommende Haushaltsjahr ist traditionell Gelegenheit, auf der einen Seite Rechenschaft abzulegen, auf der anderen Seite Kritik vorzutragen. Das entspricht einem wesentlichen Auftrag des Parlaments. Es ist gut, wenn das, was zu sagen ist — und zwar von allen Seiten — , in großer Offenheit und mit einer gewissen, in der Leidenschaft der Debatte durchaus verständlichen Härte gesagt wird. Das Parlament ist der zentrale Ort der politischen Auseinandersetzung. Das ist gut so.
    Wir haben dieser Tage in einer nachdenklichen Stunde auf ein zentrales Ereignis der deutschen und der Weltgeschichte, den Beginn des Zweiten Weltkriegs vor 50 Jahren, zurückgeblickt. Eine der Lehren, die wir daraus gezogen haben, ist die Erkenntnis, daß die parlamentarische Demokratie die einzige wirklich freiheitliche Staatsform ist. Zur parlamentarischen Demokratie gehört stets auch die Auseinandersetzung um den besten Weg für unser eigenes Volk und um den Beitrag, den wir in der Welt zu leisten haben.
    Der Abgeordnete Vogel hat mir — sozusagen als Kollege im Amt des Parteivorsitzenden — einige Ratschläge gegeben. Herr Abgeordneter, ich stimme Ihnen zu, daß wir alle Grund haben, die Entwicklung der Parteienlandschaft bei uns in der Bundesrepublik Deutschland — wenn ich es recht sehe, betrifft dieses Problem auch andere freiheitliche Demokratien auf unserem Kontinent — sehr sorgfältig zu beobachten. Keine der großen demokratischen Parteien, die in einer bedeutenden Tradition stehen, darf so selbstgefällig sein, sich in einer solchen Zeit des Wandels nicht immer wieder selbstkritisch zu fragen: Sind wir in unserer Partei, sind wir in unserer politischen Gemeinschaft auf dem richtigen Weg? Ich lehne es ab, dabei von „Altparteien" zu reden, wie es ja inzwischen zu einer gängigen Ausdrucksweise in der Bundesrepublik geworden ist.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Da haben Sie recht!)

    Diese sogenannten Altparteien — dieses Wort ist ja diffamierend gemeint — haben 40 Jahre Frieden und Freiheit in unserer Bundesrepublik Deutschland ermöglicht, jede für sich und an ihrem Platz.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Aber die Väter und Mütter unserer Verfassung und die, die später im Lauf der Zeit die Wahlgesetze schu-



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    fen und auch veränderten, haben beispielsweise die 5-%-Klausel nie als eine Festung begriffen, die nicht eingenommen werden kann. Ihre Position war bestimmt von den Erfahrungen der Geschichte, nicht zuletzt der Weimarer Zeit.
    Wir als Union — CDU und CSU — tragen in der 40jährigen Geschichte unserer Republik insgesamt 27 Jahre Regierungsverantwortung. Wir haben in diesen 27 Jahren Wesentliches und Entscheidendes für unseren Staat tun können. Wir haben großartige Beiträge geleistet, und wir haben auch Fehler gemacht.
    Da Sie ja auch selbst, Herr Abgeordneter Vogel, viele Jahre in der Regierungsverantwortung standen, wissen Sie, daß beides dazugehört — Erfolge und Fehler.
    Wir haben Wahlsiege gefeiert und Wahlniederlagen hinnehmen müssen. Es ist doch ganz natürlich, daß sich eine demokratische Partei mit einer so großen Tradition und einer so beachtlichen Verantwortung für das Ganze überlegt, wie ihr Weg in die Zukunft aussieht.
    Herr Kollege Vogel, ich brauche dabei keinen Nachhilfeunterricht als Parteivorsitzender. Wenn Sie einmal 16 Jahre die Sozialdemokratie geführt haben werden — so wie ich mittlerweile die CDU — , werden wir uns viel leichter verständigen können. Ihnen stehen noch viele Erfahrungen — und sicherlich auch Enttäuschungen — ins Haus, die ich bereits hinter mich gebracht habe.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Kollege Vogel, wenn Willy Brandt hier wäre oder Franz Josef Strauß es sein könnte — —

    (Zuruf von der SPD)

    — Ich versuche jetzt einmal, auf die nachdenkliche Tonart einzugehen, die Herr Vogel angeschlagen hat. Aber Ihr ganzer Beitrag dazu besteht darin, die Sache irgendwie lächerlich zu machen.

    (Widerspruch bei der SPD)

    Das können Sie machen. Ich fahre in dem Ton fort, den ich für richtig halte.

    (Dr. Vogel [SPD]: Denken Sie mal an Rühe!)

    Ich sage noch einmal: Wenn Willy Brandt hier wäre oder wenn Franz Josef Strauß noch hier sein könnte — sie würden beide bestätigen, was ich eben gesagt habe.
    Also, ich nehme gern Ihre Anteilnahme an der Entwicklung der CDU/CSU entgegen, aber seien Sie unbesorgt: Auch das, was in unserer Partei gelegentlich geschehen mag und geschieht, wird diese großartige Volkspartei, die — aus unserer Sicht — große Kraft der demokratischen Politik in Deutschland, nicht kaputtmachen können. Das war doch das, was Sie hier eingewandt haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Zum zweiten: Herr Abgeordneter Vogel, wir sind in der Koalition einen schwierigen Weg gegangen, weil wir in den vergangenen Jahren vieles tun mußten, was Sie nicht getan haben, als es geboten war. Daraus ergaben sich für uns — ich komme noch darauf zu
    sprechen — notwendigerweise große Probleme. Zum Teil hatten die Wahlniederlagen, die wir erleben mußten, ihren Grund auch darin.
    Nur, Herr Abgeordneter Vogel: Wenn Sie über die Veränderung der parteipolitischen Landschaft reden, dann müssen Sie eben auch auf die sehr bemerkenswerte Entwicklung hinweisen, daß Sie bei Wahlen praktisch nichts dazugewonnen haben.

    (Dr. Vogel [SPD]: NRW, Schleswig-Holstein! — Weitere Zurufe von der SPD)

    — Entschuldigung, Sie wissen doch so gut wie ich, daß Sie bundesweit nichts dazu gewonnen haben. Wir haben doch vor einigen Wochen — nach der Europawahl — nebeneinandergesessen, und Ihr Gesicht sprach Bände.

    (Dr. Vogel [SPD]: 1,2 Millionen Stimmen!) Darüber brauchen wir wirklich nicht zu reden.

    Die Frage, die uns gemeinsam interessieren muß, lautet, ob die normale demokratische Balance zwischen Regierung und Opposition — aus welchen Gründen auch immer — gestört ist. Darüber müssen wir nachdenken. Wir tun das für unsere Seite.
    Wir haben daraus für uns einen eindeutigen Schluß gezogen, den ich bei Ihnen völlig vermisse.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: So ist es!)

    Mein Freund Volker Rühe hat schon davon gesprochen.

    (Zuruf von der SPD: Republikaner!)

    — Ich würde an Ihrer Stelle die Republikaner nicht in den Mund nehmen. Sie haben in Ihrer Partei darüber nachgedacht, wie man die Republikaner fördern kann, um die Union zu schädigen. Das ist doch die Wahrheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wenn Sie von den Radikalen reden: Sie von der SPD haben sich doch nicht abgegrenzt. Herr Parteivorsitzender Vogel, was sagen Sie denn eigentlich dazu, daß der SPD-Landesvorsitzende in Hessen sich vor ein paar Tagen weigerte, klar und deutlich gegen die Zusammenarbeit mit Kommunisten einzutreten? Was ist eigentlich aus der deutschen Sozialdemokratie geworden?

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Position der Union ist eindeutig: Wir lehnen jede Zusammenarbeit und jede Koalition mit den Radikalen von rechts und links ab. Wir haben unser Erbe nicht aufgegeben. Eine Zusammenarbeit mit Kommunisten, eine Zusammenarbeit mit den GRÜNEN, eine Zusammenarbeit mit den Republikanern oder der NPD kommt für uns nicht in Frage.

    (Beifall bei der der CDU/CSU und der FDP — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: München! — Dr. Vogel [SPD]: Wer hat denn in München die GRÜNEN gewählt?)

    Wer die Entwicklung der politischen Szene in der Bundesrepublik Deutschland in den letzten zwölf Monaten verfolgt hat, der weiß doch, daß DIE GRÜNEN heute einen ungleich größeren Einfluß auf die SPD-Programmatik haben als je zuvor. Das ist doch wahr!



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Wenn Sie die Reden der Damen und Herren Abgeordneten aus dem Lager der GRÜNEN hier am Pult verfolgen, erkennen Sie: Das ist eine einzige Aufforderung — eine, wie ich zugebe, unerbetene Ermahnung an Sie — , sich noch weiter in eine bestimmte Richtung zu bewegen.
    Herr Abgeordneter Vogel, ob Sie es glauben oder nicht — Sie mögen ja die Illusion haben, es sei anders — : Damit geraten Sie auf einen Weg, an dessen Ende eine existentielle Veränderung der Grundlagen der Bundesrepublik Deutschland stehen würde. Darüber werden wir uns mit Ihnen öffentlich auseinandersetzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Deswegen warten Sie getrost unseren Parteitag ab, warten Sie auch getrost die weitere Entwicklung ab. Wir haben genug Gelegenheit, uns in den vor uns liegenden 15 Monaten in Wahlkämpfen auseinanderzusetzen.

    (Zuruf von der SPD: Neuwahl in Niedersachsen!)

    — Ich kann Ihnen dazu nur folgendes sagen: Das, was der Kollege Albrecht tut, zeigt jedem, daß er aus unseren Beschlüssen klar und eindeutig die Konsequenzen gezogen hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Dr. Vogel [SPD]: Neuwahlen!)

    — Herr Abgeordneter Vogel, die Forderung nach Neuwahlen — das nehme ich Ihnen wirklich nicht übel — ist die normale Reaktion einer Opposition. Ich selbst habe das im alten Plenarsaal drüben oft genug gefordert — und ich weiß, wie wenig sinnvoll so etwas im Ergebnis ist. So ergeht es heute Ihnen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir alle
    — das ist in dieser Debatte deutlich geworden — sind in diesen Tagen durch die Bilder aus Ungarn aufgewühlt, wo Tausende unserer Landsleute aus der DDR versuchen, den Absprung in die Freiheit, in den Westen, zu finden. Einige unserer Landsleute befinden sich in unserer Vertretung in Ost-Berlin und in unserer Botschaft in Prag. Viele von ihnen sprechen offen aus, warum sie der DDR den Rücken kehren. Es ist der Wunsch nach persönlicher Meinungs- und Bewegungsfreiheit; es ist der verständliche Wunsch nach besseren Lebensbedingungen.
    Ich wende mich mit großer Entschiedenheit gegen jene Stammtischparolen, die auch in der Bundesrepublik umgehen und die besagen: Die kommen ja nur, weil es ihnen hier wirtschaftlich bessergeht. Meine Damen und Herren, diese Landsleute haben ein Recht darauf, daß sie einen Lebensstandard erarbeiten können, der dem unseren entspricht. Das gehört zu unserer Vorstellung von Freiheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Es ist ganz selbstverständlich, daß jeder, der aus der DDR zu uns kommt, bei uns als Deutscher auf genommen wird. Wir weisen niemanden zurück. Jeder Deutsche aus der DDR hat alle Rechte und Pflichten, die sich aus dem Grundgesetz und aus unserer Rechtsordnung ergeben. Daran wird sich nach unserem Wunsch auch in Zukunft nichts ändern.
    Meine Damen und Herren von der SPD, Sie hatten eben in der Diskussion auf den Hinweis des Kollegen Rühe hin gefragt, wer denn aus Ihren Reihen zum Thema Staatsbürgerrecht solche Äußerungen getan habe. Ich verstehe die Zwischenfrage nicht, Herr Schmude. Die Dokumente sind eindeutig. Herr Lafontaine hat im November 1985 gesagt — ich zitiere ihn wörtlich — :
    Wenn man tatsächlich einen normalen Reiseverkehr will, dann muß man irgendwann in der Frage der Staatsbürgerschaft so entscheiden müssen, daß man eben die Staatsbürgerschaft anerkennt.
    Ich könnte Ihnen noch andere Belegstellen, beispielsweise von Herrn Momper und anderen, nennen. Meine Damen und Herren, es ist doch einfach die Wahrheit, daß Sie jahrelang im Blick auf die Geraer Forderungen zumindest so getan und mir persönlich auch entsprechende Vorhaltungen gemacht haben, daß wir in dieser Frage der DDR weiter entgegenkommen müßten. Das war doch immer wieder zu hören und zu lesen.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das stimmt nicht! — Dr. Vogel [SPD]: Das ist doch einfach nicht wahr!)

    — Sie haben uns doch angeraten, das zu tun. Lesen Sie doch einmal Ihre eigenen Reden nach! Ich sage Ihnen ganz einfach: Wären wir Ihnen gefolgt, dann hätten wir heute in dieser Frage eine ganz ungute Situation.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Abgeordneter Schmude, weil sie gleich nach mir sprechen, einfach die Frage: Was denken Sie eigentlich in dieser Situation — angesichts der Bilder aus Ungarn, angesichts der Gesprächserfahrungen, die Sie doch auch machen — über den Vorschlag — der doch nicht zuletzt von Ihnen immer wieder kam — , die Präambel unseres Grundgesetzes zu ändern?

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Gerade Herr Schmude!)

    Wer gibt uns eigentlich das Recht, so etwas zu sagen, wenn im gleichen Zeitpunkt Zehntausende unserer Landsleute aus der DDR den Weg in die Bundesrepublik suchen, wenn wir die Bilder aus Leipzig nach einem Gottesdienst sehen, wo gerufen wird „Wir wollen hier raus"?
    Das ist doch eine Abstimmung mit den Füßen. Ich sage das auch vor dem Forum der Weltöffentlichkeit. Es gibt doch niemanden in der Bundesrepublik, der Propaganda betreibt, damit möglichst viele von drüben hierherkommen. Das ist doch nicht unsere Politik
    — und darf es auch gar nicht sein. Nein, es ist eine Reaktion von vielen Menschen — wie viele es sind, wissen wir gar nicht —, die sich verbittert — und in vielen Fällen auch deprimiert — sagen: Überall bewegt sich etwas — nur bei uns nicht.
    Diese Leute zum Beispiel in Leipzig sehen im Fernsehen die Bilder aus Ungarn: die Rehabilitierung des



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    damals hingerichteten Ministerpräsidenten Nagy. Jetzt gilt das als Justizmord — was es natürlich schon immer war. Sie sehen die Bilder aus Polen: die Wahl eines Nichtkommunisten zum Ministerpräsidenten. Sie sehen die Bilder aus dem Baltikum. Sie hören von den Diskussionen über den Hitler-Stalin-Pakt. Es ist doch nur zu verständlich, daß sich die Menschen in einer solchen Situation sagen: Es kann doch nicht angehen, daß solche Entwicklungen an uns vorübergehen. Sie fordern ihr Recht, und wir stehen dazu, daß wir das Notwendige tun, um ihnen zu helfen.
    Meine Damen und Herren von der SPD, Sie haben sich getäuscht; denn in so vielen Gesprächen und Verhandlungen mit den führenden Leuten drüben in der DDR, in Ihren gemeinsamen Kommissionssitzungen haben Sie eben den Willen unserer Landsleute in der DDR zur Freiheit unterschätzt. Die wollen nicht derlei Kooperation; sie wollen ein Stück mehr Freiheit haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren von der SPD, Sie selber spüren doch, daß Sie von der deutschen Wirklichkeit eingeholt worden sind, daß die Dinge anders laufen. Es ist doch bei Ihnen immer wieder gefragt worden, ob es nicht altmodisch sei, geradezu erzkonservativ, von Deutschland zu reden. „Einigkeit und Recht und Freiheit" — das ist doch alles oft genug abwertend klassifiziert und entsprechend karikiert worden. Ihre Wunschpartner, DIE GRÜNEN, haben das ja am Freitag der vergangenen Woche — lesen Sie die Rede des Sprechers der GRÜNEN nach — noch einmal deutlich werden lassen.
    Ich sage Ihnen klipp und klar — ich tue das namens der Koalition aus FDP, CDU und CSU, aber lassen Sie mich das auch als Parteivorsitzender der CDU sagen — : Wir werden unseren deutschlandpolitischen Kurs unbeirrt fortsetzen, weil er den Menschen dient, nicht irgendeiner Ideologie.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir werden ungeachtet irgendwelcher demoskopischen Daten alles tun, um die Eingliederung unserer Landsleute hier bestmöglich voranzubringen, um das Leben für sie zu erleichtern.

    (Zuruf von der SPD: Hoffentlich!)

    Wenn wir das sagen, heißt das: Wir respektieren die Entscheidung jedes einzelnen. Ich bitte sehr, daß hier kein Mißverständnis entsteht. Wenn ich sage, wir respektieren die Entscheidung jedes einzelnen, dann heißt das auch — das muß ebenfalls ausgesprochen werden — : Es kann nicht das Ziel einer vernünftigen Deutschlandpolitik sein, möglichst viele aus der DDR aufzufordern, hierherzukommen.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Richtig! Sehr gut!)

    Die Probleme der DDR sind nicht hier in Bonn zu lösen; sie müssen in der DDR gelöst werden, in Leipzig, in Dresden und anderswo.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Bei allem, was wir tun, haben wir eine besondere Verpflichtung gegenüber jenen, die aus Gründen, die
    ich selbstverständlich respektiere, drüben bleiben wollen, mit ihren Kindern und mit ihrer Familie — die aber natürlich auch auf ein besseres Leben drüben in der DDR hoffen. Sie wollen eine Zukunft in persönlicher Freiheit und mit einem gerechten Anteil am Erfolg ihrer Arbeit. Das ist nicht von politischer Selbstbestimmung zu trennen. Die Diskussion um Perestroika, die Diskussion um Öffnung und Veränderung der Gesellschaft in der Sowjetunion, hat deutlich gemacht, daß eine Verbesserung der ökonomischen Situation ohne eine gleichzeitige Verbesserung im Bereich der Freiheitsrechte einfach nicht denkbar ist. Es ist eine blanke Illusion, zu glauben, man könne das eine vom anderen trennen.

    (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Ja!)

    Deswegen hoffe ich — wir wollen alles tun, was wir dazu beitragen können — , daß sich ein solcher Prozeß einer Öffnung und zum Wohle unserer Landsleute in der DDR vollzieht. Das muß ein Axiom unserer Politik bleiben.
    Die Bundesregierung ist ebenso entschlossen, in ihrer bisherigen Politik der praktischen Zusammenarbeit mit der DDR im Interesse der Menschen auf beiden Seiten fortzufahren.
    Ich höre gelegentlich Stimmen, die jetzt nach Sanktionen rufen. Ich werde nichts tun — ich sage dies mit Bedacht —, was das Schicksal der Betroffenen drüben in der DDR verschlechtert.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Sehr gut!)

    Was wir heute — trotz der bedrückenden Situation in der DDR — für den Umweltschutz tun, hilft den Menschen in der DDR.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der SPD)

    Was wir zur Verbesserung der Verkehrssituation tun, hilft den Menschen drüben. Unser Interesse muß sein — das war von Anbeginn das Ziel meiner Politik als Regierungschef — , den Menschen in Deutschland zu helfen. Wir versuchen im Rahmen unserer Möglichkeiten alles, um die DDR in die Lage zu versetzen, diesen Weg der Öffnung endlich zu beschreiten.
    Meine Damen und Herren, das was im Zusammenhang mit der DDR zu sagen ist, bringt uns zu dem Thema Ungarn und zu den Bildern, die gegenwärtig aus Ungarn kommen. Ich glaube, es wäre gut, wenn von allen Seiten des Hohen Hauses deutlich gemacht würde, wie sehr wir — Bundesregierung und Bundestag — die Hilfe und die Unterstützung, die wir von dort erfahren, zu schätzen wissen.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, es steht außer Frage, daß wir ohne dieses Entgegenkommen in den letzten Wochen ungleich größere Schwierigkeiten — und die Schwierigkeiten sind groß genug — gehabt hätten.
    Wenn man sich vorstellt — ich will es nur andeuten; Sie alle wissen das — , welch eine Gratwanderung dies für den ungarischen Ministerpräsidenten, für den ungarischen Außenminister und für die ungarische Regierung bedeutet — gerade auch angesichts des Reformprozesses in Ungarn: denken Sie nur an den



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    bevorstehenden Parteitag — dann kann ich nur sagen: Wir wollen ihnen herzlich dafür danken, daß sie uns und unseren Landsleuten dabei geholfen haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Das gilt auch für alle anderen Stellen, die hier angesprochen werden müssen: für das Internationale Rote Kreuz und nicht zuletzt auch für unsere österreichischen Nachbarn.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Ich finde es großartig, was die Wiener Regierung, aber auch viele einzelne im Burgenland aus privater Initiative heraus getan haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Meine Damen und Herren, ich will es nur noch mit einem Satz erwähnen: Die Entwicklung der letzten Wochen hat deutlich gemacht, daß die deutsche Frage auf der Tagesordnung der Weltpolitik geblieben ist, daß sie eben nicht auf die Müllkippe der Geschichte kam, daß der Wille der Deutschen zur Einheit in Freiheit ungebrochen ist.
    Was die Lösung der deutschen Frage angeht, so sind nicht die Deutschen allein gefordert. In dem vor uns liegenden Zeitraum werden sich viele ihre Überlegungen machen müssen, nicht zuletzt auch die Verantwortlichen auf seiten der drei Westmächte, die ich hier ganz bewußt anspreche. Das Verhältnis der beiden Staaten in Deutschland zueinander ist ein wesentliches Element der Stabilität in Europa. Angesichts mancher Stimmen kann ich nur warnend sagen: Wer diese Stabilität gefährdet, muß wissen, welche Folgen dies für alle Beteiligten hätte.
    In der gemeinsamen Erklärung, die Generalsekretär Gorbatschow und ich im Juni hier in Bonn unterzeichnet haben, sprachen wir — ich zitiere — „von der vorrangigen Aufgabe" unserer Politik, „zur Überwindung der Trennung Europas beizutragen" . Die Lage heute zeigt die Dringlichkeit dieser Aufgabe. Wir werden in diesem Sinne unsere Beziehungen konsequent weiter pflegen, wir werden die Beziehungen zu unseren östlichen und südöstlichen Nachbarn, wo immer möglich, ausbauen. Dabei steht für uns das Verhältnis zur Sowjetunion im Mittelpunkt der Bemühungen.
    Für alle Staaten des Warschauer Pakts gilt: Je entschlossener diese Staaten den Weg der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen gehen, je mehr sie sich nach innen und nach außen öffnen, desto größere Möglichkeiten und Chancen eröffnen sich für eine Zusammenarbeit mit uns. Das ist die Grundlage, von der wir ausgehen müssen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, das gilt in einer besonderen Weise für unserer Verhältnis zu Polen. Das Verhältnis zu Polen ist ein historisch belastetes Verhältnis. Wer einigermaßen gerecht die Entwicklung dieses Verhältnisses betrachtet, der darf nicht erst 1945 oder 1939 ansetzen, so elementar diese Daten sind; er
    muß weit zurückschauen — in das 19. Jahrhundert und in die Zeit davor.
    Die Nachrichten, die jetzt aus Warschau zu uns kommen, hätte noch vor zwölf Monaten niemand für möglich gehalten. Mit der Wahl eines Ministerpräsidenten aus den Reihen der Opposition hat das Parlament dort deutlich gemacht, daß es den Weg zur Demokratie konsequent weitergehen will. Was wir jetzt in unseren Verhandlungen mit Polen zu tun haben, hat zwei Komponenten, die gleichermaßen gesehen werden müssen: Zum einen geht es uns darum, zwischen Deutschen und Polen den überfälligen Schritt zu einer dauerhaften Aussöhnung zu machen; zum anderen auch — das geht weit über unsere bilateralen Beziehungen hinaus — bietet Polen das Beispiel für den großen Versuch, aus einem kommunistischen Regime eine freiheitliche Demokratie zu formen. Dies erlegt uns eine zusätzliche Verantwortung bei unseren Gesprächen und Entscheidungen auf.

    (Dr. Vogel [SPD]: Ja!)

    Deswegen ist es so wichtig, meine Damen und Herren, daß wir bei dem, was jetzt zu tun ist, alles daransetzen zu verhindern, daß es einen Rückschlag gibt. Wir haben in den 70er Jahren, in der Amtszeit meines Vorgängers, einen Versuch gemacht, über den heute schon gesprochen wurde. Er endete mit einem Rückschlag. Wer mich jeden Tag drängt, dies oder jenes zu tun, der muß bedenken: Mir geht es jetzt vor allem darum, daß das, was wir tun, sorgfältigst vorbereitet ist. Wir dürfen uns keinen neuen Rückschlag erlauben!

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Lage ist so — was ich hier sage, entspricht übrigens völlig dem, was ich mit dem polnischen Ministerpräsidenten dieser Tage besprochen habe — : Ich gehe davon aus, daß die künftige polnische Regierung — die Ressorts sind noch gar nicht besetzt — in kurzer Zeit — ich denke, in den nächsten 14 Tagen — im Amt sein wird. Wir wollen dann — das ist auch so verabredet — die unterbrochenen Verhandlungen sofort wieder aufnehmen. Mein Ziel ist, daß wir schnellstmöglich — auf unserer Seite wird es keinen zeitlichen Verzug geben — zu einem Abschluß kommen. Ich möchte erst danach nach Warschau reisen, weil ich es für unmöglich halte, in Warschau selbst die Verhandlungen zu Ende zu führen. Sie müssen vorher zu Ende geführt sein. Es muß klare Absprachen geben. Für jedermann muß deutlich werden, daß wir einen neuen Anfang machen. Deswegen ist es notwendig, gemeinsam ein Gesamtpaket von Maßnahmen zu schnüren.
    Ich habe auf dem Pariser Weltwirtschaftsgipfel nachdrücklich um Unterstützung vor allem für Polen und für Ungarn geworben, wie ich es schon in den Jahren davor getan hatte. Es waren unsere Anregungen, die zu dem Beschluß führten, die EG mit in die Unterstützungsmaßnahmen einzubeziehen. Mit einem Wort — ich sage das ohne Pathos — : Wir müssen jetzt die geschichtliche Chance nutzen. Die Polen brauchen jetzt nicht gute Worte, sondern schlicht handfeste Unterstützung.

    (Zuruf von der SPD: Und keine Grenzdiskussion!)




    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Wir müssen alles tun, daß nicht nur wir, sondern möglichst viele in Europa erkennen, worum es bei der Entwicklung in Warschau letztlich geht.
    Meine Damen und Herren, wir werden alles tun, um die positive Entwicklung des Ost-West-Verhältnisses zu fördern. Wir wissen, daß ein Vordringen der Reformkräfte in Staaten des Warschauer Pakts von entscheidender Bedeutung für eine friedliche Zukunft unseres Kontinents und der Welt ist. Wir sind Zeugen eines historischen Umbruchs in Europa mit vielen Chancen, aber auch mit Risiken. Deswegen ist es wichtig, daß wir auch in dieser Zeit die Handlungsfähigkeit des Atlantischen Bündnisses als Voraussetzung von Frieden und Freiheit für unser Land erhalten.
    Es ist einfach nicht wahr, daß wir in den Abrüstungsverhandlungen bereits an einem Punkt angelangt sind, bei dem man ohne weiteres sagen kann: Die Freiheit gibt es jetzt zum Nulltarif. Keine Spur davon! Denn nicht die Sehnsucht nach Frieden, meine Damen und Herren, sichert schon eine friedliche Zukunft, sondern in erster Linie sind es die Anstrengungen, die wir unternehmen, um Frieden und Freiheit zu bewahren.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich stimme Ihnen zu, Herr Abgeordneter Vogel, daß es heute mehr Grund zum Optimismus gibt als in all den Jahren zuvor. Das ist wahr. Aber Optimismus allein genügt nicht. Wir müssen das Menschenmögliche tun, um wirklich voranzukommen, beispielsweise in Wien bei Abrüstung und Rüstungskontrolle. Hier gibt es gegenwärtig vieles, was einen optimistisch stimmen kann. Die westlichen Vorschläge haben die Verhandlungen seit deren Beginn vor sechs Monaten geprägt. Die Initiativen von Präsident Bush auf dem NATO-Gipfel haben wesentlich dazu beigetragen.
    Wenn ich jetzt die Entwicklung betrachte und mich auch an die Debatte erinnere, die wir hier im Bundestag hatten, dann glaube ich, daß sich die knappen Zeitspannen, die Präsident Bush genannt hat — sie wurden damals weitgehend als unrealistisch bezeichnet — , heute doch als ganz realistisch erweisen könnten. Das liegt auch daran — dies muß man ebenfalls anerkennen — , daß auch die sowjetische Seite Bewegung gezeigt hat, die ebenfalls vor ein paar Monaten so nicht denkbar war.
    Ich bin sicher, daß das Gesamtkonzept der NATO jetzt eine gute Chance hat. Da wir ja nicht nur auf die zwölf Monate vor uns blicken, sondern auch auf die vergangenen zwölf Monate zurückschauen, darf hier immerhin angemerkt werden, daß sich alle Unkenrufe vor dem NATO-Gipfeltreffen im Frühjahr dieses Jahres in Nichts aufgelöst haben. Unsere Position hat sich bewährt, und wir haben eine gute Chance, auf diesem Feld weiter voranzukommen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, der Kollege Mischnik hat soeben in seiner Rede auf den doch erstaunlichen Sachverhalt hingewiesen, daß der Führer der Opposition, der Vorsitzende der SPD, in seiner Hauptrede auf
    wirtschaftliche Sachverhalte überhaupt nicht zu sprechen kam.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Das kommt morgen noch!)

    — Ja, ich glaube ja, daß Sie morgen darauf zu sprechen kommen.

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)

    Aber wenn ich mir die Reden vor Augen führe, die der
    Kollege Vogel in den letzten zwei Jahren gehalten hat
    — Herr Kollege Vogel, dieses Horrorgemälde vom Zusammenbruch etwa nach dem Dollarcrash; erinnern Sie sich —, dann sah man förmlich die Kolonnen der Hungernden durch die Straßen der Bundesrepublik Deutschland ziehen.

    (Dr. Vogel [SPD]: Na, na!)

    Es war doch alles darin, was überhaupt denkbar war: Massenarbeitslosigkeit, die blanke Not stand hier im Saal.

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Nicht so überheblich, Herr Bundeskanzler! — Zurufe von der CDU/CSU)

    — Ja, ja, verehrte Frau Kollegin, die Arbeitgeber, die nach Gießen kommen und die Menschen dort fragen: „Könnt ihr nicht zu mir kommen und bei mir arbeiten?", widerlegen Ihre These von der Massenarbeitslosigkeit zu einem großen Teil.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich weiß ja, meine Damen und Herren, daß es in der deutschen Gegenwart Mode ist, vor allem auch in großen Teilen der veröffentlichten Meinung, unfein ist, auf Erfolge hinzuweisen, daß Erfolge, wenn sie eintreten, totgeschwiegen werden und daß, wenn auch das nicht möglich ist, alle dran „schuld" sind.

    (Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Das passiert bei Ihnen nie!)

    Da ich aber seit vielen Jahren gewohnt bin, immer der Schuldige zu sein, wenn etwas schlecht läuft, will ich auch einmal als am Positiven „Schuldiger" etwas sagen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Abgeordneter Vogel, können Sie sich vorstellen, was Sie gesagt hätten, wenn Sie so ein Zertifikat hier hätten vorlegen können:
    Die guten Ergebnisse, die die deutsche Wirtschaft seit Mitte 1987 vorzuweisen hat, haben die Erwartungen weit übertroffen. Angesichts der derzeit günstigen Aussichten ... scheinen der allgemeine Kurs der Wirtschaftspolitik wie auch die ökonomischen Maßnahmen angemessen.

    (Wieczorek [Duisburg] [SPD]: Obwohl Sie regieren!)

    Das ist das Urteil der OECD.
    Meine Damen und Herren, seien Sie doch froh, daß es bei uns so gut geht ... ;

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Jawohl! — Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Besser, wenn ihr weg seid!)




    Bundeskanzler Dr. Kohl
    ... das ist doch das Beste, was uns passieren kann. Was haben Sie uns alles für Ratschläge gegeben! Alles war falsch, was Sie empfohlen haben. Und dann haben Sie noch in die Schublade gegriffen und unsere Politik mit bestimmten, aus Ihrer Sicht abwertenden Stempeln versehen. Sie haben gesagt: Das ist Reaganomics. Und einige in der deutschen Wirtschaft haben das ganz falsch verstanden und es für hervorragend gehalten, wenn wir Reaganomics betreiben.

    (Wieczorek [Duisburg] [SPD]: So dumm sind die auch nicht!)

    Ich meine der Umdenkungsprozeß findet ja nicht nur bei Ihnen statt — bloß sagen Sie es nicht laut —; eigentlich müßte er auch in vielen Couloirs der Vorstände deutscher Unternehmen vonstatten gehen, denn der Standort Bundesrepublik Deutschland ist nicht zusammengebrochen. Er ist in den letzen Jahren immer besser geworden. Auch das gehört ins Gesamtbild.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Damen und Herren, können Sie sich vorstellen, was jetzt hier im Bundestag passieren würde, wenn Helmut Schmidt noch Bundeskanzler wäre und lapidar sagen könnte "Nach sieben Aufschwungjahren haben wir inzwischen einen Stand der Konjunktur erreicht, der demjenigen aus dem sprichwörtlichen Bilderbuch entspricht' ? Er würde lange Wasser trinken, der Beifallsorkan nähme kein Ende, und, meine Damen und Herren, eine — —

    (Sauer [Salzgitter] [CDU/CSU]: Rote Rosen würden sie ihm bringen!)

    — Wenn Herbert Wehner noch da wäre, würde er rote Rosen bringen. Das würde auch ich sagen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    In diesen Tagen .. .

    (Frau Fuchs [Köln] [SPD]: Sie kriegen keine Blumen, Herr Bundeskanzler!)

    — aber, gnädige Frau, von Ihnen würde ich auch rote Rosen nehmen; warum denn nicht? —

    (Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    ... hat dann Herr Pöhl, ein weiterer ganz unverdächtiger Zeuge, beiläufig darauf hingewiesen, daß er es für möglich hält, daß die Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts bei 4% liegen wird. Wenn man das nun im internationalen Vergleich betrachtet, dann kann man in der Sprache unserer Jugend nur sagen: Wir sind Spitze. — Wir sind Spitze, meine Damen und Herren. Es gibt gar keine andere Bezeichnung dafür.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Herr Abgeordneter Vogel, natürlich haben die allermeisten Bürger unseres Landes teil an dieser Verbesserung der Lage. Das hat greifbare Konsequenzen für die Entwicklung der Einkommen, und zwar in allen Einkommensgruppen. Die Arbeitnehmerhaushalte mit mittlerem Einkommen haben zwischen 1983 und 1988 mit plus 13,2 % deutlich besser abgeschnitten als die Bezieher höherer Einkommen. Was Sie da immer als Sozialneid unter die Leute bringen, das hat doch
    gar keinen realen Hintergrund, das ist doch einfach nicht wahr!
    Während in dem Fünfjahreszeitraum 1978 bis 1983
    — und das sind doch Zahlen, die Sie nicht bestreiten können — die Rentner einen realen Einkommensverlust von 3,2 % hatten, stiegen die Renten im Zeitraum 1983 bis 1988 real um 6,6 %. Das ist eine Tatsache. Gleiches gilt auch für die Sozialhilfebezieher: Zwischen 1979 und 1983 gingen deren Einkünfte real um 5,3 % zurück. In den letzten fünf Jahren gab es dagegen — nach Abzug der Preissteigerung — eine Steigerungsrate von über 12 %.
    Meine Damen und Herren, wenn ich dies sage, weiß ich, daß das statistische Werte sind. Sie besagen etwas über die große Mehrheit der Bürger in unserem Land. Ich weiß natürlich, daß es in diesem Land des Wohlstands sehr wohl auch Bürgerinnen und Bürger gibt, die auf der Schattenseite dieser Gesellschaft leben, und daß man darüber nachdenken muß: Was können wir tun, um auch in diesen Bereichen — wie es die Moral unserer Republik einfach gebietet — Hilfe zu geben, in vielen Fällen auch Hilfe zur Selbsthilfe?
    Meine Damen und Herren, es ist auch wahr — das ist für die Zukunft von allergrößter Bedeutung — , daß die Gesamtentwicklung dazu geführt hat, daß wir eine Investitionstätigkeit haben, wie sie seit zwanzig Jahren nicht mehr erreicht worden ist. Die Investitionen von jetzt sind, nicht zuletzt im Blick auf die Europäische Gemeinschaft, die Arbeitsplätze von morgen und übermorgen. Hier wird für die Lebenschancen der jungen Generation in den 90er Jahren das Fundament gelegt. Wir wissen aus Erfahrungen, daß eine solche nachhaltige Investitionsdynamik die beste und sicherste Zukunftssicherung ist.
    Ich will schon hier ein Wort zu einem Thema sagen, das heute in der Debatte — wie ich finde: zu Recht — eine große Rolle gespielt hat und auch spielen muß: Wie schaffen wir die Verbindung zwischen Ökonomie und Ökologie? Wie kann das, was für die Zukunft notwendig ist, bezahlt werden?
    Wir haben immerhin 1,2 Millionen neue Arbeitsplätze. Seit dem Tiefpunkt von 1983 ist die Entwicklung überdeutlich. Die Bundesbank — ich zitiere wieder — sagt ganz einfach: Mit 27,6 Millionen Arbeitsplätzen haben wir den bisher höchsten Beschäftigungsstand in der Geschichte unserer Bundesrepublik erreicht. Das ist ein Ergebnis, das Beachtung verdient.
    Herr Abgeordneter Vogel, ich denke gar nicht daran, zu sagen: Das ist alles das Werk dieser Regierung. — Da haben viele mitgewirkt: alle, die arbeiten, die Arbeitnehmerschaft genauso wie die Leute im Unternehmerbereich und die Gewerkschaften. Alles in allem vernünftige Tarifentwicklungen gehören in diesen Bereich hinein. Die Arbeitslosenzahl geht zurück. Es hieß immer: Sie steigt. Horrorzahlen sind genannt worden. Im August sind wir jetzt im vierten Monat hintereinander unter der Zweimillionengrenze.

    (Zuruf von der SPD: Statistisch!)

    — Sie glauben doch nicht im Ernst, daß es hier einfach um Statistik geht. Sie wissen so gut wie ich, wenn wir



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    schon über Statistik reden, daß große Zweifel bestehen, ob die Statistik die vorgelegt wird, stimmt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Die Aussichten für die weitere Verbesserung des Arbeitsmarkts sind unübersehbar. Aber — auch das gehört zum Bild — trotz dieser positiven Entwicklung haben wir, etwa im Bereich der Langzeitarbeitslosigkeit, Daten, die zur Besorgnis Anlaß geben. Wenn Sie, meine Damen und Herren von der SPD — lassen Sie ganz ruhig darüber sprechen; in Ihren politischen Reihen sind viele der wichtigsten Repräsentanten der deutschen Gewerkschaftsbewegung — , mit den Gewerkschaften reden — wir tun das auch — , dann werden Sie von denen die gleiche Sorge hören, die auch wir haben, die wir gemeinsam haben, denke ich: Was geschieht in den 90er Jahren mit denen — das ist der Sockel der Langzeitarbeitslosen — , die den steigenden Anforderungen im beruflichen Alltag nicht mehr entsprechen, die der geforderten Qualifikation nicht mehr entsprechen, deren Situation vielleicht auch so sein mag, daß sie schwer zu qualifizieren sind? Ich will es einmal so umschreiben. Das ist in Tat und Wahrheit das eigentliche Problem, vor dem wir stehen.
    Wenn wir jetzt mit 1,75 Milliarden DM im Haushalt Entsprechendes getan haben, mit Lohnkostenzuschüssen bis zu 80 % in diesem Bereich, sind wir an dieses Gebiet herangegangen. Ich bin völlig offen für Gespräche, beispielsweise mit den Gewerkschaften und den Arbeitgebern, um dieses spezielle Thema der Langzeitarbeitslosigkeit fernab jeder Polemik zu erörtern. Wenn wir uns morgen mit der Führung der Gewerkschaften und der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände treffen, ist es genau unser Ziel, auszuloten, was man in diesem Feld tun kann. Dabei geht es beispielsweise auch um die absolut nicht akzeptable Situation im Blick auf Teilzeitarbeitsplätze vor allem für Frauen. Ich bin nicht bereit, zu akzeptieren, daß unser Nachbarland Niederlande mit einer vergleichbaren Gesellschaftsstruktur 22 % Teilzeitarbeitsplätze anbietet und wir knapp über 12 %. Hier ist noch vieles zu tun, obwohl die Gesetzgebung da ist.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Ich bin nicht bereit, zu akzeptieren, daß selbst in Ballungsräumen der Bundesrepublik, wo wir de facto Vollbeschäftigung haben — Sie kennen diese Regionen — , ein 55-, 53jähriger Arbeitnehmer als zu alt gilt, weil sich inzwischen eine absurde Vorstellung der Einteilung der Lebensabschnitte in unserer Gesellschaft ausgebreitet hat.
    Deshalb, meine Damen und Herren, ist es sehr wohl richtig, daß wir — Staat und Politik, Gewerkschaften und Unternehmer — ungeachtet der notwendigen Auseinandersetzung im Parteipolitischen in diesen Fragen, wo es wirklich um die Betroffenen und ihr Schicksal geht, jetzt versuchen wollen, an einen gemeinsamen Tisch zu kommen. Es wäre auch aus einem anderen Grund ganz wichtig, daß wir in diesen Fragen jetzt schnell handeln: weil wir für die Aus- und Übersiedler aus der Sowjetunion, aus Rumänien, aus Polen und natürlich für die aus der DDR die entsprechenden Konsequenzen ziehen müssen. Ich bitte alle, dabei mitzuhelfen, gegenüber jener Feindseligkeit,
    die bezüglich der Aussiedler und Übersiedler gelegentlich im Lande anzutreffen ist, Front zu machen.
    Meine Damen und Herren, wer einmal — viele von Ihnen haben das ebenso wie ich getan — mit einer Familie gesprochen hat, die jetzt aus Rumänien zu uns kommt — Menschen aus Jahrgängen, denen ich angehöre — , und sich vorstellt, was diese Menschen in den letzten 40, 50 Jahren mitmachen mußten, nur weil sie Deutsche sind, der muß sich beschämt fragen, wohin viele in der Bundesrepublik Deutschland gekommen sind, wenn sie sich in dieser Frage als so herzlos und hart erweisen.

    (Beifall bei CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)

    Ich sage das Folgende auf die Gefahr hin, mißverstanden zu werden; aber ich finde, das Argument muß auch einmal auf den Tisch. Es geht zwar primär um die moralische Pflicht, den Aussiedlern zu helfen. Aber wenn wir klug sind und die Lage unseres Landes und der Bevölkerung bis hin zur demographischen Situation betrachten, dann sollte manch einer, der sich jetzt so herzlos äußert, bedenken, daß die Kinder der jetzt zu uns kommenden Aussiedler später seine Rente erarbeiten werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

    Ich habe in diesen Tagen eine sehr bemerkenswerte Äußerung von Rudolf Kolb, dem Geschäftsführer des Verbandes der Rentenversicherungsträger, gelesen. Ich möchte sie zitieren:
    Nach nunmehr vorliegenden detaillierten Modellrechnungen des Verbandes deutscher Rentenversicherungsträger werden — unter den dort getroffenen Annahmen — die Aussiedler bereits ab 1995 die Rentenfinanzen entlasten ... Sie würden dann wegen ihrer im Verhältnis zur bundesdeutschen Wohnbevölkerung günstigen Altersstruktur die Rentenfinanzen bereits im Zeitraum bis zum Jahr 2000 um rund 3,6 Milliarden DM entlasten.
    Ich finde, das ist ein Argument der Vernunft, das viele berücksichtigen sollten.
    Wir haben mit dem Zuzug von Aussiedlern natürlich auch enorme Probleme. Als eines von vielen nenne ich den Wohnungsmarkt. Dabei müssen wir einfach erkennen, daß nicht nur die Zahl der Aussiedler und Übersiedler, die zu uns kommen, sondern auch eine völlige Veränderung der Lebensgewohnheiten den Wohnungsmarkt von Grund auf verändert hat. Die Tatsache, daß junge Leute zu einem relativ frühen Zeitpunkt von zu Hause ausziehen, ist inzwischen für viele Familien völlig selbstverständlich geworden. Das alles hat seine Auswirkungen.
    Wir versuchen, dem Rechnung zu tragen. Erste Erfolge sind spürbar. Die Zahl der Baugenehmigungen für Mietwohnungen hat mit einer Steigerung von mehr als 50 % gegenüber dem Vorjahr eine Rekordzuwachsrate erreicht.
    Wolfgang Mischnick hat eben ein wichtiges Argument angesprochen. Es nützt uns überhaupt nichts, meine Damen und Herren, wenn die notwendigen Mittel bereitgestellt werden, während in der Bürokra-



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    tie vor Ort — es gibt viele solcher Beispiele — das Thema in einer Weise behandelt wird, wie es in der großen Aufbruchsituation des Wohnungsbaus in der Bundesrepublik in den frühen 50er Jahren unmöglich gewesen wäre.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wir haben mit der Verkürzung der Abschreibungsdauer für Mietwohnungen die Bedingungen für private Bauherren verbessert. Wir haben beschlossen, den Bau preiswerter Wohnungen für einkommensschwache Haushalte zu verstärken. Die Mittel — der Bundesfinanzminister hat es gestern eingehend dargelegt; ich kann es mit einem Satz bewenden lassen — sind wesentlich erhöht worden. Wir streben für das Jahr 1990 den Bau von insgesamt rund 300 000 Wohnungen an, darunter rund 100 000 Sozialwohnungen.
    Meine Damen und Herren, ich sage das Folgende auf einen Zwischenruf von Ihrer Seite hin. Ich bin davon überzeugt, daß die anstehenden Probleme auf dem Wohnungsmarkt weder allein über den freien Markt noch allein mit Hilfe des sozialen Wohnungsbaus gelöst werden können. Beides gehört zusammen. Das sollte die Konsequenz sein, die wir in dieser Hinsicht ziehen.
    Meine Damen und Herren, die sehr guten Wirtschaftsdaten hängen auch mit der Verflechtung der deutschen Volkswirtschaft mit dem Ausland und mit den Weltmärkten zusammen, die sich in einer guten Weise entwickeln konnten. Unbestreitbar ist, daß die jeweilige Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik darüber entscheidet, ob Wachstum und Beschäftigung nur für kurze Zeit erreicht werden oder ob es zu einer langfristigen Entwicklung kommt. Wir haben das Menschenmögliche getan, um mit Blick auf eine langfristige Sicherung unsere Gesellschaft auf die 90er Jahre und die Zeit danach vorzubereiten.
    Herr Kollege Vogel, ein Grund dafür, daß wir uns beim Fitmachen unserer Republik schwergetan haben, lag darin, daß wegen früherer Versäumnisse einschneidende Maßnahmen und Reformen notwendig waren. Ich räume ein, daß wir in der Kürze der Zeit und der Dringlichkeit mancher Entscheidungen auch Fehler gemacht haben. Ich muß akzeptieren, daß Sie als Oppositionsführer uns diese Fehler auch vorhalten. Ich muß dafür geradestehen, und ich tue es selbstverständlich.
    Aber wir haben diese Reformen in Angriff genommen, um Zukunft zu sichern. Und ich finde schon, daß es in diese Debatte gehört, daß seitens der Opposition auch ein klärendes Wort zu den vielen Vorwürfen etwa in bezug auf die Gesundheitsreform gesagt wird, zur Reform der gesetzlichen Krankenversicherung und zu allem, was damit zusammenhängt.
    Norbert Blüm hat viel Prügel einstecken müssen; ich natürlich mit ihm. Das gehört zum Amt des Regierungschefs. Aber Sie sollten doch hier einmal ans Pult gehen und zugeben: Nach rasanten Steigerungen in den letzten Jahren blieben die Beitragssätze in der gesetzlichen Krankenversicherung vom 1. Januar 1989 an stabil. Sie sollten doch ein Wort zu dem lauten Streit und zu der Demagogie sagen, die umgegangen sind: Das Instrument der Festbeträge zeigt Wirkung.
    Am Arzneimittelmarkt ist ein Preiswettbewerb eingetreten, noch ehe es die Festbeträge gab. Nach den jetzt laufenden Erhebungen zeigt sich, daß die Pharmahersteller auf breiter Front mit Preissenkungen reagiert haben. Was ist vorher alles zu hören gewesen? Es ist doch einfach wahr, und es zeigt sich doch jeden Tag überall in der Republik, daß wir überhöhte Arzneimittelpreise hatten, und zwar zu Lasten aller Beitragszahler. Das ist doch einfach die Wahrheit.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Ich will ein anderes Reformwerk ansprechen. Ich meine die Konsequenzen, die wir aus der erkennbaren Überalterung unserer Bevölkerung ziehen müssen. Meine Damen und Herren, ich will ausdrücklich für die Bundesregierung sagen, daß wir gerade wegen der absehbaren Schwierigkeiten, die aus der demographischen Entwicklung folgen, es begrüßen, daß sich die Fraktionen der CDU/CSU, der FDP und der SPD auf einen gemeinsamen Entwurf des Rentenreformgesetzes verständigt haben. Wie Sie wissen, haben wir den gewünschten und notwendigen Kabinettsbeschluß gefaßt. Ich glaube, das ist ein anderes Feld, bei dem wir alles tun sollten, um parteipolitische Auseinandersetzungen zu vermeiden.
    Es geht um die Sicherung des Lebensabends einer Generation vor allem jetzt und heute, die in ihrem Leben genug Aufregung und Heimsuchung erlebt hat und die unsere besondere Zuneigung auch verdient.
    Als Drittes — davon war ja schon die Rede — werden wir in wenigen Monaten ab 1. Januar 1990, die dritte Stufe der Steuerreform haben. Meine Damen und Herren, daß Sie mit Ihren Steuerreformplänen in Europa alleinstehen, zeigt Ihnen ein Blick auf Ihre sozialistischen Bruderparteien. Die Reden, die hierzu von Ihnen gehalten werden, wären in Österreich völlig unverständlich; sie wären in anderen Ländern völlig unverständlich.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP — Widerspruch bei der SPD)

    Herr Abgeordneter Vogel, weil ja in der Parteigeschichte, der großen Parteigeschichte — ich sage das ohne jeden Soupçon — der deutschen Sozialdemokratie der Austro-Marxismus zu früheren Zeiten eine befruchtende Wirkung hatte, lassen Sie doch einmal die steuerpolitischen Überlegungen Ihrer österreichischen Genossen auf sich wirken!

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich glaube, das käme unserer Volkswirtschaft insgesamt zugute.
    Ich will auf dieses Lied, das Sie angestimmt haben, nicht mehr eingehen — zumal ja jeder weiß, daß es einfach falsch ist —, daß hier über steuerliche Umverteilung die Reichen reicher oder die Armen ärmer geworden sind oder noch werden.

    (Widerspruch bei der SPD — Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Denken Sie einmal darüber nach, was Ihr Vorbild Thatcher macht!)

    — Meine Damen und Herren, was soll's denn, wenn
    Sie sich im Brustton der Überzeugung hier herstellen
    und den ganzen Saal anreden und sagen, wir alle ver-



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    dienen zu viel, und dann werden wir noch mit der Steuer belohnt? Sie wissen so gut wie ich — das Beispiel des Scheiterns des Kommunismus, des Sozialismus in anderen Teilen Europas zeigt es Ihnen doch —, daß Sie natürlich, wenn Sie Leistung bestrafen, auch keine Leistung erreichen werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Neid ist ein miserables Mittel im Privatleben und ein miserables Mittel in der Politik. Das hat sich in der Geschichte immer wieder gezeigt.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Wenn wir jetzt weiter denken, an die Zeit nach 1992 in der Europäischen Gemeinschaft, an die großen Auseinandersetzungen in der Konkurrenz mit den großen Wirtschaftszentren in den USA, in Kanada in den beginnenden 90er Jahren, im kommenden Jahrhundert, und wenn wir die Entwicklung im Fernen Osten sehen, hier aber so tun, als könnten wir Weltexportland Nummer 1 sein und gleichzeitig Bedingungen im Lande zulassen, die wirtschaftliches Denken und wirtschaftliches Handeln unmöglich machen, wird klar, daß wir unser Ziel nicht erreichen werden. Das muß der Bürger sehr klar und deutlich wissen.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Erlauben Sie mir noch ein kurzes Wort zu dem Thema Umweltschutz, das hier — wie ich finde, aus gutem Grund — sehr viel diskutiert wurde. Meine Damen und Herren, Sie können kritisieren, daß wir noch nicht genug tun. Man kann darüber diskutieren, was für die Zeit, die vor uns liegt, alles noch notwendig ist. Aber wenn ich davon ausgehe, daß wir jetzt 32 Milliarden DM in diesem Bereich in der Bundesrepublik ausgeben, daß die öffentliche Hand und die Privatwirtschaft daran etwa zur Hälfte beteiligt sind
    — die Privatwirtschaft übrigens nicht zuletzt deswegen, weil sie mehr oder minder auch gezwungen wurde, solche Entwicklungen zu akzeptieren — , dann finde ich das gegenüber den 20 Milliarden DM im Jahr 1982 eine beachtliche Zahl. Denn wir hatten ja nicht nur das Thema Umweltschutz. Wir mußten etwas tun, um die Ökonomie wieder in Ordnung zu bringen. Wenn jetzt die Steuereinnahmen steigen, wenn wir mehr Möglichkeiten haben, werden wir
    — und das sage ich mit Bedacht — auch für die vor uns liegende Zeit der nächsten Jahre immer wieder darüber diskutieren müssen, was auf diesem Feld geschieht.
    Den Erhalt der Schöpfung — Herr Kollege Vogel, Sie haben freundlicherweise die Überschrift meiner Regierungserklärung von 1987 zitiert — finde ich sehr gut. Das entspricht genau unserer Meinung.
    Was heißt, wir machen nichts? Meine Damen und Herren, das meiste, was wir in den ersten Jahren tun mußten, mußten wir doch deswegen tun, weil Sie nichts getan haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Meine Damen und Herren, ich habe doch als Führer
    der Opposition in diesem Hause die Großfeuerungsanlagen-Verordnung nicht verhindert. Es war doch Ihr eigenes Unvermögen, das durchzusetzen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Widerspruch bei der SPD)

    Warum haben Sie denn eigentlich beim KatalysatorAuto nichts gemacht? Ich kann Sie nur immer wieder fragen. Meine beiden Vorgänger, Willy Brandt und Helmut Schmidt, hatten doch 1972 und 1974 die Gelegenheit zu handeln, als Japan und Amerika gehandelt haben. Sie haben das doch nicht getan!

    (Dr. Vogel [SPD): Was haben Sie denn damals dazu getan?)

    Wer hat denn meinen Vorgänger beispielsweise daran gehindert, auf einem der Weltwirtschaftsgipfel die Frage des Regenwaldes und die entscheidenden Fragen der globalen ökologischen Gefährdung auf die Tagesordnung zu setzen? Ich war es doch, meine Damen und Herren,

    (Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Nach ein paar Monaten haben Sie es kapiert!)

    der bei meinem ersten Weltwirtschaftsgipfel in den USA, noch eher mitleidig belächelt, den Umweltschutz zum Thema gemacht und das mühsam durchgesetzt hat. Es gab doch zu Ihrer Zeit genug Leute mit großer internationaler Reputation, die dieses Thema zu ihrem Thema hätten machen können.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Ich will es kurz sagen: Die Bundesregierung ist fest entschlossen, auf diesem Weg weiter voranzugehen. Wir wissen sehr genau — und ich sage das jetzt einmal aus meiner Überzeugung aus vielen Jahrzehnten politischer Tätigkeit —, daß unser Denken und unsere Überzeugung, die die Grundlagen der Sozialen Marktwirtschaft betreffen, heute bedeuten, daß wir die Entwicklung Sozialer Marktwirtschaft auch zu einer ökologisch-ökonomischen Balance hin vorantreiben müssen. Ich füge auch hinzu — Herr Vogel, das habe ich wohl aus Ihrer Rede mitgenommen — , da gibt es kein Patentrezept. Das, was Sie denken, und das, was wir dazu denken — wir führen auf unserem Parteitag zu diesem Thema eine ganztägige Diskussion —, wird alles zu erwägen sein. Aber es muß dann jemand schließlich die Verantwortung übernehmen. Ich sage Ihnen für diese Bundesregierung, ich sage Ihnen für diese Koalition — da gibt es keine Unterschiede zwischen FDP und CDU/CSU — : Unser Ausgangspunkt ist und bleibt die marktwirtschaftliche Überzeugung: In diesem Feld ist am besten mit den Gesetzmäßigkeiten der Sozialen Marktwirtschaft etwas zu bewirken. Übrigens, wer daran noch Zweifel hat, kann die jetzt wiederum an den Beispielen in Ost-, Mittel- und Südosteuropa überwinden. Diese Gesellschaftssysteme haben doch gerade auch im Bereich des Umweltschutzes in einer dramatischen Weise versagt,

    (Sehr richtig! bei der CDU/CSU)

    weil ihre Wirtschaftsordnung marktwirtschaftliche Möglichkeiten gar nicht eröffnet hat.
    Ein letzter Punkt, meine Damen und Herren. Ich hoffe, daß wir auch hier noch eine wirkliche Gemeinsamkeit finden. Das ist das Thema Kohle. Ich glaube



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    nicht, daß es in Ordnung ist, heute hier zu sprechen, ohne über dieses Thema wenigstens ein paar Sätze zu sagen.
    Sie kennen alle die Problematik. Sie kennen auch die wachsende Ungeduld gleich auf zwei Seiten, einerseits bei den unmittelbar Betroffenen an der Ruhr und an der Saar und ihren Familien; man darf nie denken, es gehe nur um die Kumpels, es sind ja ganze Städte, ganze Gemeinschaften betroffen. Auf der anderen Seite — das füge ich ebenso klar hinzu; das muß man fairerweise aussprechen — gibt es in den revierfernen Gebieten ein durchaus verständliches und steigendes Unbehagen über die Entwicklung unserer Energiekosten. Das ist keine Frage einer Partei; lassen Sie sich das nicht einreden. Wir müssen versuchen, die Betroffenen zusammenzubringen. Ich spreche hier die Gewerkschaften als die Sachwalter der Arbeitnehmer an, weiter die betroffenen Unternehmen, auch die betroffenen Kommunen und lokalen Gemeinschaften, ferner die bergbaufördernden und die revierfernen Länder und die Bundesregierung. Ich bin voll und ganz einverstanden, sie zusammenzubringen. Ich beteilige mich an diesem Versuch.
    In den letzten Jahren hat sich ein Preisverfall auf den internationalen Energiemärkten eingestellt, der die Schwierigkeiten drastisch steigert. Es hat keinen Sinn, die Grundtatsachen der ökonomischen Entwicklung in diesem Feld in Protestveranstaltungen zu verschweigen.
    In dieser schwierigen Lage haben wir — die Bundesregierung mit Unterstützung der Koalitionsparteien — nachhaltig unseren Beitrag geleistet. Von 1983 bis 1988 wurden rund 33 Milliarden DM für die deutsche Steinkohle aufgewendet. Weil in diesem Saal in anderen Bereichen so viele Vergleiche aus dem Haushalt gezogen werden, soll diese Zahl fairerweise hier wenigstens auch einmal genannt werden. Allein in diesem Jahr werden es rund 10 Milliarden DM sein. Nie zuvor sind Mittel in vergleichbarer Größe für die Kohle zur Verfügung gestellt worden.
    Wir haben jetzt mit allen Beteiligten Gespräche geführt mit dem Ziel, sowohl den laufenden Jahrhundertvertrag bis 1995 zu stabilisieren als auch, was wirklich überfällig ist, zu einem längerfristigen Konzept zu kommen. Meine Damen und Herren, wenn wir klug beraten sind, versuchen wir, gemeinsam das Notwendige zu tun.
    In einem Gespräch mit den Ministerpräsidenten der Bergbauländer am 24. August bei mir im Kanzleramt ist es gelungen, Einvernehmen über die jetzt notwendigen Schritte zu erzielen. Danach kann festgehalten werden, daß wir für die weitere Verwirklichung des Jahrhundertvertrages tragfähige Voraussetzungen geschaffen haben. Die notwendigen Einzelheiten werden jetzt in der Novelle zum Verstromungsgesetz festgelegt.
    Wir haben nach langen Diskussionen eine Sachverständigen-Kommission eingesetzt, die, ich denke, bis Februar, spätestens Anfang März ihr Konzept vorlegen wird. Ich will klar und deutlich sagen, was meine Position, die Position der Bundesregierung ist. Diese Kommission ist nicht eingesetzt worden, wie das gelegentlich in der Politik geschieht, um ein Problem sozusagen unter den Tisch zu kehren. Ich erhoffe und erwarte von dieser Kommission, in der praktisch alle beteiligten Kreise vertreten sind, daß ohne jedes taktische Kalkül das auf den Tisch kommt, was denkbare Modelle sind. Ich sage bewußt „Modelle" , weil ich mir sehr wohl vorstellen kann, daß eine solche Kommission nicht zu einem gemeinsamen Beschluß kommt, was ich eigentlich hoffe, sondern daß auch unterschiedliche Meinungen möglich sind, also die der Mehrheit und der Minderheit.
    Mein Ziel ist, daß wir dann möglichst rasch in einer ebenso offenen, fairen wie vielleicht auch sehr schwierigen Diskussion unsere Entscheidungen herausarbeiten. Ich will hier eindeutig zusichern: Es ist nicht die Absicht der Bundesregierung, das Thema nach der Vorlage des Kommissionsberichtes zu vertagen. Wir brauchen natürlich Zeit für vernünftige Gespräche. Aber das Thema soll auf keinen Fall zu einem späteren Zeitpunkt behandelt werden. Es gibt ja Termine im Jahre 1990 in Nordrhein-Westfalen und anderswo und auch im Bund, die diesen Verdacht erregen könnten. Nicht die Termine, die ich eben beiläufig erwähnt habe, bestimmen das Zeitmaß unserer Entscheidung.
    Für mich geht es darum — ich sage das einmal durchaus emotional — , daß wir angesichts der weltweiten Entwicklung im Energiesektor, auch angesichts der zunehmenden Vorbehalte gegen Kohlefeuerung — das haben wir heute schon angesprochen — eine Regelung finden, die den Menschen gerecht wird. Blicken wir auf 40 Jahre Bundesrepublik Deutschland zurück. Man muß sich erinnern, daß am Anfang der wirtschaftliche Wiederaufbau stand. Beschäftigen Sie sich einmal näher und intensiv mit dem Thema. Stellen Sie sich vor, wie die Kohleförderung im Juni 1945 war; damals betraf das nicht das Saarland, aber die Ruhr. Stellen Sie sich vor, was dort auf dem Höhepunkt der Demontage in den Wintern 1946 und 1947 geschehen ist. Ein Teil der Initialzündung für den Wiederaufbau der deutschen Wirtschaft ist von der Förderung der Kohle ausgegangen, des einzigen Rohstoffs, der in unserem Land vorhanden war. Es gibt deshalb über die rein materielle Betrachtung hinaus — ich sage das mit Bedacht und Bewußtsein — eine, wie ich finde, Dankesschuld an eine Region, die damals für unser Land außerordentlich viel geleistet hat.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

    Meine Damen und Herren, wir werden in den nächsten Wochen in den zuständigen Ausschüssen und dann noch einmal in einer abschließenden Generaldebatte die Haushaltsberatung fortführen. Wir — die Bundesregierung — werden Kritik hören; das gehört sich so. Wir werden stolze Erfolge vorweisen können; das gehört sich auch. Wir müssen Ihre Kritik ertragen und Sie unsere Erfolgsbilanz. Ich halte das für eine richtige und gerechte Arbeitsteilung.

    (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Meine Bitte zum Abschluß ist ganz einfach — ich greife damit wirklich nicht die Autorität des Parlaments an und auch nicht in sie ein daß Sie unge-
    11750 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 156. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 5 September 1989
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    achtet der Probleme, die wir im eigenen Land haben, und ungeachtet der notwendigen Auseinandersetzung über den richtigen Weg vielleicht gerade in diesem Augenblick, in diesem geschichtlichen Augenblick nicht vergessen, daß auf uns, auf die Deutschen, vor allem auf die Deutschen im freien Teil unseres Vaterlandes, in der Bundesrepublik, eine historische Verantwortung zukommt, daß wir also bei allem Streit und aller Auseinandersetzung diese Verantwortung nicht vergessen.

    (Langanhaltender, lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)