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ID1115600200

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    Plenarprotokoll 11/156 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 156. Sitzung Bonn, Dienstag, den 5. September 1989 Inhalt: Erweiterung der Tagesordnung 11715A Tagesordnungspunkt 1 (Fortsetzung): a) Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Feststellung des Bundeshaushaltsplans für das Haushaltsjahr 1990 (Haushaltsgesetz 1990) (Drucksache 11/5000) b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung Der Finanzplan des Bundes 1990 bis 1993 (Drucksache 11/5001) Dr. Vogel SPD 11715B Rühe CDU/CSU 11723 D Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE 11733 C Mischnick FDP 11736 C Dr. Kohl, Bundeskanzler 11739C Dr. Schmude SPD 11750A Lintner CDU/CSU 11754 B Frau Frieß GRÜNE 11756 C Hoppe FDP 11758C Büchler (Hof) SPD 11760B Dr. Knabe GRÜNE 11762 D Frau Dr. Wilms, Bundesminister BMB . . 11763 C Kühbacher SPD 11765C Dr. Stoltenberg, Bundesminister BMVg . . 11769A Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 11772 B Dr. Rose CDU/CSU 11773 D Frau Dr. Adam-Schwaetzer, Staatsminister AA 11776D Dr. Hauchler SPD 11778C Wilz CDU/CSU 11781C Dr. Mechtersheimer GRÜNE 11783 B Frau Seiler-Albring FDP 11784 C Müntefering SPD 11786 D Pesch CDU/CSU 11788D Frau Teubner GRÜNE 11791C Dr. Hitschler FDP 11792 D Frau Hasselfeldt, Bundesminister BMBau . 11794B Conradi SPD 11797D Frau Odendahl SPD 11799C Frau Männle CDU/CSU 11803 A Wetzel GRÜNE 11804 D Neuhausen FDP 11806A Daweke CDU/CSU 11806D Möllemann, Bundesminister BMBW . . . 11807D Oostergetelo SPD 11810B Eigen CDU/CSU 11814 D Frau Flinner GRÜNE 11817 C Bredehorn FDP 11819 A Daubertshäuser SPD 11821 C Fischer (Hamburg) CDU/CSU 11824 A II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 156. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 5. September 1989 Frau Rock GRÜNE 11826 D Zywietz FDP 11828B Haar SPD 11831A Zusatztagesordnungspunkt: Erste Beratung des von den Abgeordneten Susset, Michels, Eigen, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Paintner, Heinrich, Bredehorn und der Fraktion der FDP eingebrachten Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Gesetzes zur Durchführung der Gemeinsamen Marktorganisationen (MOG) (Drucksache 11/5124) 11821B Nächste Sitzung 11832D Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten . .11833* A Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 156. Sitzung. Bonn, Dienstag, den 5. September 1989 11715 156. Sitzung Bonn, den 5. September 1989 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 07. 09. 89* Frau Berger (Berlin) CDU/CSU 07. 09. 89 Büchner (Speyer) SPD 07. 09. 89* Dr. Daniels (Regensburg) GRÜNE 05. 09. 89 Eich GRÜNE 07.09.89 Frau Eid GRÜNE 07. 09. 89 * * * Frau Fischer CDU/CSU 07. 09. 89* * * Frau Garbe GRÜNE 05. 09. 89 Frau Geiger CDU/CSU 07. 09. 89* * * Genscher FDP 07.09.89 Haack (Extertal) SPD 05. 09. 89 Heimann SPD 05.09.89 Frau Hensel GRÜNE 05. 09. 89 Dr. Holtz SPD 07. 09. 89* * * Frau Hürland-Büning CDU/CSU 07. 09. 89 Dr. Hüsch CDU/CSU 05. 09. 89 Hüser GRÜNE 05.09.89 Ibrügger SPD 05. 09. 89 * * Jaunich SPD 05.09.89 Klein (Dieburg) SPD 07. 09. 89 Dr. Klejdzinski SPD 07. 09. 89 * * * Dr. Kreile CDU/CSU 07. 09. 89 Kreuzeder GRÜNE 05.09.89 Anlage zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Lippold (Offenbach) CDU/CSU 07. 09. 89 Frau Luuk SPD 07. 09. 89* * * Lüder FDP 07.09.89 Magin CDU/CSU 07.09.89 Meyer SPD 05.09.89 Dr. Müller CDU/CSU 07. 09. 89 * Frau Nickels GRÜNE 05. 09. 89 Dr. Nöbel SPD 07. 09. 89 Poß SPD 05.09.89 Regenspurger CDU/CSU 07.09.89 Frau Saibold GRÜNE 05. 09. 89 Dr. Scheer SPD 07. 09. 89 Schulze (Berlin) CDU/CSU 07. 09. 89 Dr. Stercken CDU/CSU 07. 09. 89 * * * Stratmann GRÜNE 05.09.89 Such GRÜNE 05.09.89 Tietjen SPD 07.09.89 Vahlberg SPD 07.09.89 Frau Dr. Vollmer GRÜNE 05. 09. 89 Westphal SPD 07.09.89 Wolfgramm (Göttingen) FDP 07. 09. 89* * * Dr. Wulff CDU/CSU 07. 09. 89* * * * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates * * für die Teilnahme an Sitzungen der Nordatlantischen Versammlung * * * für die Teilnahme an der Jahreskonferenz der Interparlamentarischen Union
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    Rede von Dr. Hans-Jochen Vogel


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Zunächst, meine Damen und Herren, einen wunderschönen guten Morgen.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD — Zurufe von der SPD, der CDU/CSU und der FDP: Guten Morgen! — Guten Morgen, Herr Oberlehrer!)

    — Na also, so geht das doch auch. Es muß ja nicht immer gleich ganz spitz zugehen.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das kommt schon noch!)

    — Das kommt schon noch, ja.
    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Haushaltsberatung gibt Anlaß und Gelegenheit zum Disput über den Zustand unserer Republik, über die Aufgaben, vor denen wir stehen, und über die unterschiedlichen Konzepte zur Lösung dieser Aufgaben. Soweit es dabei um den Haushalt im engeren Sinne geht, haben sich Frau Kollegin Matthäus-Maier und die Kollegen Wieczorek und Esters bereits gestern geäußert. Ich freue mich, daß der allgemeine Eindruck heute ist: Wir als Opposition in der Offensive und diese Bundesregierung in der Verteidigung.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Friedmann [CDU/ CSU]: Wo haben Sie das denn gelesen? Stand das im „Vorwärts"?)

    Zu den einzelnen Sachbereichen werden sich die Kolleginnen und Kollegen im weiteren Verlauf dieser Debatte noch äußern.
    Ich möchte mich heute morgen mit einigen mehr grundsätzlichen Fragen beschäftigen und hoffe, daß es über diese Fragen insbesondere mit Ihnen, Herr Bundeskanzler, zu einem wirklichen Dialog kommt.
    Wir spüren seit geraumer Zeit: Die politischen Strukturen der Bundesrepublik sind in Bewegung; die Parteienformation, die mehrere Jahrzehnte lang die politische Entwicklung unseres Landes geprägt hat, ist zunächst durch das Hinzutreten der GRÜNEN verändert worden, und zwar nachhaltig. Neuerdings zieht eine Partei, die sich in anmaßender und irreführender Weise den Namen „Republikaner" zugelegt hat, Stimmen auf sich,

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Das ist ausnahmsweise richtig!)

    Stimmen, von denen sich bislang nur sagen läßt, daß sie überwiegend Protest gegen tatsächliche oder angenommene Gefährdungen, nur in geringerem Umfang jedoch Zustimmung zu den rechtsextremistischen Vorstellungen der Anführer dieser Partei zum Ausdruck bringen.



    Dr. Vogel
    Gleichzeitig nimmt die Zahl der Mitbürgerinnen und Mitbürger zu, die sich von Wahl zu Wahl neu entscheiden. Dabei spielen auch die Grenzen zwischen den sogenannten — in Anführungszeichen — Lagern, wenn diese Lager denn je existiert haben, keine Rolle.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Schon wieder richtig!)

    — Na wunderbar, schon zweimal Zustimmung von Herrn Bötsch.

    (Zurufe von der CDU/CSU: „Bööötsch"!)

    — Ach, „Bööötsch". Wenn sich die Aussprachefehler nur bei der Betonung zeigen, dann ist es doch eigentlich ein milderer Fall.
    Also, sehr geehrter Herr Bötsch, das alles geschieht nicht in einer Zeit wirtschaftlicher Not. Es geschieht in einer Zeit günstiger wirtschaftlicher Konjunktur, in einer Zeit, in der wohlgemerkt eine Mehrheit — das sagen ja auch Besonnene in Ihren Reihen; für eine wachsende Minderheit gilt das Gegenteil — in immer augenfälligerem Wohlstand lebt. Wenn sich die politischen Strukturen dessenungeachtet ändern, wenn vor allem die Regierung unter solchen Voraussetzungen von Wahl zu Wahl nicht an Zustimmung gewinnt, sondern eher an Zustimmung verliert, dann ist das ein Zeichen dafür, daß einer wachsenden Anzahl unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger die gegenwärtige Politik — das ist für die Bürger natürlich in erster Linie die Regierungspolitik — als Antwort auf ihre Fragen und Bedürfnisse nicht mehr genügt, daß sie die offenkundigen Gegensätze und Widersprüche nicht mehr hinnehmen wollen, daß sie nicht mehr glauben, die bisherigen Grundlinien der Entwicklung könnten weiterhin einfach in die Zukunft verlängert werden.
    Was wir erleben, meine Damen und Herren, ist ein wachsender Protest gegen Ihre zentrale Botschaft, nämlich gegen die Botschaft des „Weiter so",

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    übrigens — das sage ich nicht nur in einer Richtung — auch gegen Inkompetenz und nicht minder gegen den Stil der Politik und die Art und Weise, in der wir uns häufig nicht nur in diesem Hause auseinandersetzen.
    Natürlich steckt darin auch Protest gegen Ungerechtigkeit, gegen krasse Widersprüche und gegen sinnloses Hin und Her. Wie soll denn z. B. ein normaler Mensch verstehen, daß die Verlängerung der Wehrpflicht noch im Februar und März für unverzichtbar erklärt und im April rückgängig gemacht wird? Wie soll er verstehen, daß die Quellensteuer von derselben Regierung zunächst abgelehnt, dann eingeführt und nur vier Monate nach ihrem Inkrafttreten als Monstrum bezeichnet und wieder abgeschafft wird?

    (Dr. Blank [CDU/CSU]: Alles olle Kamellen!)

    Oder wie soll der normale Bürger verstehen, daß der Bau der Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf zunächst als zwingend dargestellt, mit massiven Polizeieinsätzen gegen den Willen großer Teile der Bevölkerung durchgesetzt, dann aber, nachdem 2,5 Milliarden DM sinnlos ausgegeben worden sind, von einem
    Tag auf den anderen als überflüssig eingestellt wird,

    (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Sehr wahr!)

    eingestellt übrigens nicht auf Grund einer Entscheidung der Bundesregierung oder der Bayerischen Staatsregierung, eingestellt auf Grund einer Entscheidung des von mir persönlich hoch respektierten Vorstandsvorsitzenden der VEBA, auf den die Richtlinienkompetenz in Fragen der Energiepolitik offenbar endgültig übergegangen ist,

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    ein Vorgang, der über den konkreten Fall hinaus die in unserer Republik real existierenden Machtverhältnisse in einem bemerkenswerten, nein in einem grellen Licht erscheinen läßt.
    Und es ist doch kraß widersprüchlich und nicht einzusehen, daß die Unternehmensgewinne seit geraumer Zeit steil ansteigen und der Leistungsbilanzüberschuß unseres Landes Jahr für Jahr Rekordhöhen erreicht, 1988 85 Milliarden DM, gleichzeitig aber seit nunmehr sieben Jahren und damit länger als je zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik im Jahresdurchschnitt mehr als zwei Millionen Bürger ohne Arbeit sind, wobei es doch gar nicht darauf ankommt, ob es nun auch infolge statistischer Operationen gerade knapp unter oder gerade knapp über zwei Millionen sind, die keine Arbeit haben. Ein gesellschaftspolitischer Skandal bleibt dieser Widerspruch auf jeden Fall.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Es ist ebensowenig einzusehen, meine ich, daß den Hochverdienenden — fast alle in diesem Haus gehören dazu — ab 1. Januar 1990 jährlich 10 Milliarden DM Steuern nachgelassen und ihnen schon weitere Steuererleichterungen angekündigt werden, gleichzeitig aber dem Bund, den Ländern und trotz Ihrer Behauptungen, Herr Kollege Waigel — denen Herr Rommel als Präsident des Deutschen Städtetages bereits widersprochen hat — , auch den Gemeinden das Geld für dringendste Aufgaben, etwa für die Verstärkung und angemessene Bezahlung des Pflegepersonals oder auch für den Wohnungsbau, fehlt, und das sind die dringendsten Aufgaben.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Es ist auch nicht einzusehen, daß, obgleich die äußere Bedrohung deutlich schwächer geworden ist, die Bundeswehr in ihrer Präsenzstärke und in der Ausstattung mit Großgeräten so belassen wird, als ob wir uns noch mitten im kalten Krieg befänden

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    und auch heute noch damit rechnen müßten, daß wir mit einer Vorwarnzeit von 48 Stunden überfallen werden. Das gilt übrigens auch für die Fortführung der Tiefflugaktivitäten, die ganz ähnlichen Vorstellungen entspringt, oder — und da appelliere ich immer wieder an die Vernunft des ganzen Hauses — für die Beschaffung des Jäger 90, die nach vorsichtigen Schätzungen mindestens 100 Milliarden DM ver-



    Dr. Vogel
    schlingt und die durch nichts — durch nichts! — zu rechtfertigen ist.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Auch an Unrecht, insbesondere an sozialem Unrecht — Unrecht darf nicht mit Neid gleichgesetzt werden; das sage ich vor allem den Anhängern der katholischen Soziallehre — , das die Menschen reizt und verbittert, ist kein Mangel. Wir werden im weiteren Verlauf der Haushaltsdebatte noch darauf zurückkommen und auch darauf, daß sich nicht nur die Langzeitarbeitslosen, sondern auch andere Gruppen unseres Volkes — ich nenne beispielsweise die von Altersarmut Betroffenen — immer mehr aus dem sozialen Konsens ausgegrenzt und — ich sage es allgemein — von der Politik verlassen und im Stich gelassen fühlen.
    Hier erwähne ich als Ursachen der Verbitterung nur die teils verdeckte, teils ganz offene Umschichtung von Einkommen und Vermögen, leider von unten nach oben, mit der Folge, daß die Lohnquote, also der Anteil der Löhne und Gehälter am gesamten Sozialprodukt, mit 67,7 % inzwischen auf den niedrigsten Stand seit 1970 gefallen ist, gleichzeitig aber der Abstand der hohen und höchsten Einkommen gegenüber den Durchschnittseinkommen drastisch auseinandergegangen, drastisch gewachsen ist; oder die sogenannte Gesundheits- und die sogenannte Steuerreform.
    Ich muß einen Gedanken der Frau Kollegin Matthäus-Maier von gestern noch einmal auf greif en. Besonders empörend ist auf steuerlichem Gebiet die unterschiedliche steuerliche Behandlung von Arbeitseinkommen, also von Löhnen und Gehältern, einerseits und von hohen Zinserträgen andererseits. Von dem — davon haben Sie gestern kein Wort widerlegen können, Herr Kollege Waigel —, was ein Arbeitnehmer verdient, wird die Steuer schon im Betrieb auf Heller und Pfennig abgezogen. Natürlich greift das Finanzamt zu, wenn auch nur der geringste Verdacht einer Steuerkürzung auftritt. Ich möchte einmal hören, was passierte, wenn ein Arbeitnehmer sagen würde: Hier gilt das Lohngeheimnis; hier hat das Finanzamt nichts zu suchen.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Wenn dagegen ein Millionär — ich rede nicht von den normalen Sparern, deren Zinsen durch entsprechende Erhöhungen der Freibeträge überhaupt von der Steuerpflicht befreit werden sollen — dem Finanzamt seine Zinseinnahmen verschweigt, dann darf das Finanzamt nach Ihrer famosen Gesetzesänderung bei der Bank des Millionärs noch nicht einmal eine Stichprobe machen. Dies ist ein solcher Widerspruch gegen das normale Rechtsempfinden, daß diese Regelung auf Dauer keinen Bestand haben wird. Das sage ich Ihnen voraus.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Die Finanzämter haben die Macht und die Möglichkeit, heute schon!)

    — Herr Friedmann, ich bitte Sie um alles in der Welt:
    Wie wollen Sie denn den Menschen erklären, daß den
    Finanzämtern bei der Besteuerung der Zinsen die
    Hände gebunden werden und daß sie bei der Lohnsteuer über alle Untersuchungs- und Zugriffsmöglichkeiten verfügen? Das ist doch nicht in Ordnung.

    (Zustimmung bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Ich weiß, Herr Kollege Friedmann, daß Sie ein gerecht denkender Kollege sind. Deswegen werden Sie auf Dauer mit diesem Widerspruch auch nicht zurechtkommen.
    So wichtig diese Fragen auch sind, die Ursachen des Mißbehagens, der Sorge und der Abwendung vieler Menschen von Politik und Parteien liegen tiefer. Sie entspringen unter anderem dem Eindruck, die Parteien verfolgten nur ihre eigenen Interessen, den Parteien gehe es nur noch um ihre Macht und ihren Einfluß. Ohne Schärfe sage ich: Die jüngsten Vorgänge in Niedersachsen sind ja durchaus geeignet, diesen Eindruck zu verstärken, nicht, ihn zu vermindern. Und was man — auch das muß ich leider ansprechen — dieser Tage über Herrn Lummer hört, gehört in dasselbe Kapitel.

    (Zurufe von der CDU/CSU)

    — Ja, gut; nur, hören Sie doch erst einmal zu.

    (Frau Roitzsch [Quickborn] [CDU/CSU]: Warten Sie doch erst einmal ab! — Weitere Zurufe von der CDU/CSU — Gegenrufe von der SPD)

    — Na, darf ich jetzt weiter, mit Erlaubnis von Herrn Bötsch und der ganzen Truppe?

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Ja!)

    Ich frage nur: Was wäre wohl in Bayern oder zur Zeit von Herrn Diepgen in Berlin mit einem kleinen Polizeibeamten passiert, wenn er sich so verhalten hätte, wie Herr Lummer das inzwischen ja schon selber einräumt?

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Jetzt nähern Sie sich wieder einer biblischen Figur!)

    — Das finde ich großartig, daß Sie mich hier mit den Propheten vergleichen.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Nicht mit den Propheten, mit jemand ganz anderem! Ist aber leider unparlamentarisch!)

    Er sagt, ich nähere mich einer biblischen Figur. Er meint, daß wir als Propheten die Wahrheit unter das Volk bringen.

    (Beifall bei der SPD — Zuruf von der CDU/ CSU: Falsche Propheten!)

    Das war ein guter Zwischenruf Meister Bötsch, ausgezeichnet! Für Sie wüßte ich auch eine biblische Figur. Aber darüber reden wir dann später.

    (Gerster [Mainz] [CDU/CSU]: Sie sind eine Trauerfigur!)

    — Sie haben auch schon originellere Einfälle gehabt. Aber es ist noch zu früh.
    Die Ursachen der Abwendung wurzeln jedoch vor allem in der wachsenden Erkenntnis, daß Grundgegebenheiten, die als unveränderliche Voraussetzungen



    Dr. Vogel
    jeder Politik galten, sich wandeln und weithin nicht mehr zutreffen. Ein überwältigendes Beispiel dafür sind die geradezu revolutionären Veränderungen in Polen, in Ungarn und in der Sowjetunion.
    Wer von uns hätte es noch vor zwei Jahren für möglich gehalten, daß in der Sowjetunion politische Gegensätze im offenen Meinungskampf ausgetragen und Irrtümer und Fehler der Vergangenheit schonungslos eingeräumt, ja — ich erwähne den HitlerStalin-Pakt — schärfstens verurteilt werden? Wer hätte vorausgesehen, daß in Ungarn die kommunistische Partei ihr Machtmonopol preisgibt und die völlige Demokratisierung vorbereitet, möglicherweise sogar unter Namensänderung, und daß in Polen ein nichtkommunistischer Ministerpräsident amtiert, den auch die Mehrheit der kommunistischen Abgeordneten in dieses Amt gewählt hat?
    Wenn je in den letzten Jahren zu Recht von historischen Vorgängen und vom Atem der Geschichte die Rede war, hier handelt es sich um solche Vorgänge, und hier ist dieser Atem der Geschichte zu spüren.

    (Beifall bei der SPD)

    Deshalb möchte ich allen, die diese Entwicklung in Gang gesetzt, die sie beharrlich und mit großer Nervenstärke vorangebracht haben, auch an und von dieser Stelle aus danken und sie zugleich ermutigen und ihren Völkern und ihnen nicht nur unsere Sympathie, sondern auch unsere Bereitschaft zur tätigen Hilfe zum Ausdruck bringen.

    (Beifall bei der SPD)

    Das gilt in diesem Augenblick vor allem für Polen und für Ungarn.
    Für Polen müssen dem, was schon bei vielen Gelegenheiten, zuletzt am 1. September, hier in diesem Hause an guten Worten gesagt worden ist, jetzt endlich Taten folgen. Und es zählt jede Woche, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Und Ungarn, so meine ich, hat sich gerade in den letzten Wochen zusätzlich Anspruch auf unsere verständnisvolle Kooperation erworben.

    (Beifall bei der SPD)

    Denen, die in anderen Ländern des Warschauer Pakts noch zögern, die sich gegen Reformen und Veränderungen sträuben, die auf ihre Weise ihrem „Weiter so" huldigen, denen rufe ich zu: Hört auf, euren eigenen Völkern mit Mißtrauen zu begegnen! Hört auf, euch vor euren eigenen Völkern zu fürchten!

    (Beifall bei der SPD)

    Gebt ihnen die Freiheit, selbst zu denken und zu entscheiden, und sagt ihnen die Wahrheit! — Anders kann kein Vertrauen wachsen.
    An die Adresse der DDR-Führung füge ich noch hinzu: Wir respektieren unverändert die Staatlichkeit der DDR und halten an dem fest, was im Grundlagenvertrag vereinbart worden ist; denn wir wissen, meine Damen und Herren, welche Folgen unberechenbare Abläufe im Herzen Europas für die Reformprozesse im Osten und für ganz Europa haben würden. Und nicht wir, sondern die Führung der DDR gefährdet Staat-
    lichkeit und Stabilität, wenn sie weiterhin an dem absoluten Wahrheits- und Machtanspruch einer einzigen Partei festhält

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und bei Abgeordneten der CDU/CSU)

    und wenn sie sich dem Verlangen der Menschen in der DDR nach mehr Demokratie und mehr Selbstbestimmung weiterhin verweigert. Ich bin sicher, es gibt auch in der gegenwärtigen Führung dort nicht wenige, die das nicht anders sehen, die sich darüber im klaren sind, daß die Entwicklung über ihre offiziellen Positionen schon lange hinweggegangen ist. Ich hoffe, diese Kräfte haben die Kraft und den Mut, daraus die richtigen Folgerungen zu ziehen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

    Daß der Strom derer, die der DDR aus eigenem Entschluß den Rücken kehren, ständig anschwillt, ist eine Folge der Hoffnungslosigkeit, die sich der Menschen dort bemächtigt hat. Wir wissen, wenn die Menschen in der DDR auf die gesellschaftlichen Verhältnisse ihres Landes wirklich Einfluß nehmen könnten, würden sie es nicht in so großer Zahl und unter Inkaufnahme so vieler Risiken verlassen. Daß wir denen, die zu uns kommen, helfen, ist ein Gebot der Solidarität. Noch lieber aber würden wir diesen Menschen bei der Öffnung und beim Umbau der Gesellschaft helfen — also bei der Verwirklichung von Glasnost und Perestroika —, in der sie zu Hause sind. Eine solche Hilfe würde ganz große Anstrengungen rechtfertigen, wie sie etwa Herr Biedenkopf in die Debatte geworfen hat.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

    Einstweilen müssen wir gemeinsam alles tun, um denen, die schon da sind oder noch kommen, beizustehen. Wir sind zur Kooperation bereit. Am dringendsten erscheint uns dabei die massive Verstärkung des Wohnungsbaus. Ich füge hinzu: die Verstärkung des Wohnungsbaus für alle Wohnungsuchenden,

    (Beifall bei der SPD)

    für die, die kommen, und für die, die hier auf eine Wohnung warten.
    Wichtig ist außerdem, daß die Übersiedler, die Aussiedler und die Asylbewerber in dieser kritischen Phase nicht gegeneinander ausgespielt und gegeneinander gestellt werden.

    (Beifall bei der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Aus konkretem Anlaß richte ich an alle Beteiligten die Bitte, für die DDR-Bürgerinnen und -Bürger, die in Ungarn noch auf die Ausreise warten, bald eine humanitäre Lösung zu finden. Die Lösung würde sicher erleichtert, wenn auf unserer Seite auf schrille Begleitung und immer neue Sensationsmeldungen verzichtet würde.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Das ist nicht das einzige Beispiel für fundamentale Veränderungen. Es gibt andere Voraussetzungen, die



    Dr. Vogel
    jahrhundertelang, wenn nicht jahrtausendelang als selbstverständlich galten und deshalb kaum Gegenstand der Diskussion oder gar der Reflexion waren. Ich nenne nur vier von ihnen: Kriege seien unvermeidlich. Die Natur sei unzerstörbar, und ihre Ressourcen seien unerschöpflich. Der technische Fortschritt in all seinen Entfaltungen sei unaufhaltsam, notwendig und nützlich. Und schließlich: Die Welt bestehe aus einer Vielzahl von Staaten und Völkern, die völlig souverän und unabhängig voneinander ihr Schicksal bestimmen könnten. Heute erkennen und spüren mehr und mehr Menschen, daß dem nicht so ist und daß deshalb das „Weiter so" nicht nur gefährlich, sondern in einigen Punkten auch tödlich sein könnte. Das sind keine Einbildungen oder, wie Sie, Herr Bundeskanzler, zu sagen pflegen: Horrorszenarien. Es ist die Wahrheit, die mitunter unbequeme, ja schockierende Wahrheit. Wer angesichts dieses tiefgreifenden Umbruchs Orientierung geben will, der muß diese Wahrheit zunächst einmal so konkret wie möglich aussprechen.
    Darum sage ich: Es ist wahr, daß die Menschheit den Krieg als Institution überwinden muß, wenn sie überleben will. Zumindest jeder atomare Krieg würde das Ende der Gattung möglich machen, nein, das Ende der Gattung bedeuten.
    Es ist wahr — wenn noch Zweifel vorhanden gewesen wären, sind sie von unserer Enquete-Kommission unter Vorsitz des Kollegen Schmidbauer, den ich hier besonders hervorheben möchte, ausgeräumt worden — , daß unseren Planeten noch zu Lebzeiten schon Geborener, solcher, die heute schon unter uns sind, eine weltweite Klimakatastrophe ereilen wird, wenn der Energieverbrauch nicht drastisch reduziert wird. Machen wir weiter so wie bisher, dann setzen wir mit der Umwelt auch die Lebensgrundlagen der kommenden Generationen, also der Nachwelt, aufs Spiel. Das tun wir übrigens schon heute. Ich erhebe hier keinen Vorwurf; denn wir wissen uns in der Mitverantwortung. Wir tun das schon heute durch die Anhäufung immer größerer Mengen atomarer Abfälle, die länger strahlen werden, als die uns bewußte bisherige Geschichte der Menschheit gedauert hat. Es ist geradezu bedrückend, wie wir auch in diesem Hause vor diesem Sachverhalt und dieser Herausforderung, für die wir gemeinsam Verantwortung tragen, immer wieder die Augen verschließen.
    Es ist wahr, daß die Völker der Dritten Welt einen nicht geringen Teil unseres Wohlstands und des Wohlstands der übrigen Industriestaaten mit ihrem Hunger und ihrem Elend bezahlen und daß ihr Lebensstandard zurückgeht, während ihre Verschuldung und der Kapitaltransfer in Richtung auf die Industriestaaten weiter zunehmen.
    Es ist wahr, daß die mehr als 2 000 Milliarden DM — das ist ungefähr das achtfache des Volumens des Bundeshaushalts — , die weltweit auch in diesem Jahr für Rüstungszwecke ausgegeben, nein, verschwendet werden, die Sicherheit nicht erhöhen, sondern schon deshalb elementar beeinträchtigen, weil diese Mittel bei der Bekämpfung der Gefahren fehlen, die der Menschheit tatsächlich drohen und die wirklich überlebenswichtig sind.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Kein geringerer als Dwight D. Eisenhower, alliierter Oberbefehlshaber im Zweiten Weltkrieg, später Präsident der Vereinigten Staaten, ein Mann, der wußte, wovon er sprach, hat diesen Zusammenhang schon vor 36 Jahren, im April 1953, so formuliert:
    Jedes Gewehr, das produziert wird, jedes Kriegsschiff, das vom Stapel läuft, und jede Rakete kommt im letzten Sinne einem Diebstahl gleich, begangen an jenen, die Hunger haben, der nicht gestillt wird, an jenen, die frieren und nicht gekleidet werden.
    Heute hätte er wohl noch hinzugefügt: Begangen auch an der Natur, deren Zerstörung mit den für diese Waffen aufgewendeten Mitteln endlich Einhalt geboten werden könnte.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Die Natur sieht überall Selbstverteidigung vor!)

    Es ist wahr, daß wir die technologischen und ökonomischen Prozesse nicht länger dem Selbstlauf überlassen dürfen, wenn wir nicht zu Sklaven dieser Prozesse und schließlich zu ihren Opfern werden wollen. Wir alle haften für die ungewollten Folgen menschlichen Tuns ebenso wie für die Folgen, die gewollt sind und die wir anstreben.
    Es ist schließlich wahr, daß sich die zentralen Herausforderungen nur noch global, also durch eine gemeinsame Anstrengung der Menschheit insgesamt, meistern lassen.
    Die Liste dieser Wahrheiten ließe sich leicht verlängern, etwa um die Tatsache, daß die Frauen nachdrücklicher denn je auf der vollen Gleichstellung bestehen und daß unsere Gesellschaft erst dann zu einem neuen Gleichgewicht finden wird, wenn diese Forderung in vollem Umfang erfüllt sein wird.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich sympathisiere mit allen, die helfen, diese Forderung zu verwirklichen.
    Eine weitere Wahrheit ist, daß wir in mancher Hinsicht — erschrecken Sie nicht, meine Damen und Herren —

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Vor Ihnen erschrekken wir nicht so leicht!)

    — nein, ich zitiere Herrn Geißler; deswegen —

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: So leicht erschrekken wir nicht!)

    — ja, ja, Herr Bötsch — schon längst in einer Gesellschaft kultureller Vielfalt, um es milde auszudrücken, leben.
    Ferner ließe sich erwähnen, daß der Altersaufbau in unserer Bevölkerung ohne die Aussiedler und Übersiedler — bei allen Problemen, die der Zuzug mit sich bringt — nicht besser, sondern schlechter aussähe. Auch das ist ein Faktum und eine Wahrheit.
    Was folgt aus diesen elementaren Veränderungen von Voraussetzungen, auf denen bisher die Politik und weithin auch menschliches Verhalten beruhten? Zunächst, so meine ich, eine Neubestimmung der Begriffe, an denen sich die Politik zu orientieren hat.



    Dr. Vogel
    Wir brauchen eine Neubestimmung des Begriffs der Sicherheit. Weil die eigentlichen Gefahren nicht mehr in Form der herkömmlichen zwischenstaatlichen Konflikte, sondern global drohen, muß Sicherheit künftig in erster Linie politisch, ökonomisch und ökologisch, aber nicht mehr überwiegend und in erster Linie militärisch definiert werden.

    (Beifall bei der SPD)

    Es geht nicht länger darum, Waffen anzuhäufen. Es geht darum, Kriege durch regionale und weltweite Verflechtungen und gegenseitige Abhängigkeiten unmöglich zu machen und Sicherheit im neuen Sinne nicht mehr gegeneinander, sondern weltumspannend miteinander zu gewährleisten.
    Auch der Begriff des Umweltschutzes bedarf der Neubestimmung. Er muß um den Aspekt des Schutzes der Nachwelt und der Erhaltung der Lebensvoraussetzungen nicht nur für die gegenwärtig existierende Generation, sondern auch für die kommenden Generationen oder, wie es Hans Jonas gesagt hat, für die ungeborenen Geschlechter erweitert werden.
    Es geht auch nicht mehr um die Korrektur oder Verhütung einzelner Schäden. Es geht um die Bewahrung der Schöpfung, der uns anvertrauten Schöpfung insgesamt.

    (Beifall bei der SPD — Dr. Bötsch [CDU/ CSU]: Wieder nichts Neues!)

    Ebenso erweitert sich der Begriff der sozialen Frage. Sie ist im nationalen Bereich — auch in unserem eigenen Land — trotz aller Anstrengungen und Fortschritte noch keineswegs endgültig gelöst. Aber heute umfaßt die soziale Frage auch das Mißverhältnis zwischen den Industrienationen, die, materiell betrachtet, immer reicher werden, und den Entwicklungsländern, von denen viele schon wegen der Bevölkerungsexplosion ständig ärmer werden und in ihrer Not — nicht aus Willkür — ihre Umwelt mit weltweiten Folgen zerstören. Das ist die soziale Frage unserer Tage. Sie ist neben die soziale Frage in den einzelnen Ländern getreten, und sie gewinnt wegen ihres globalen Charakters mehr und mehr an Brisanz, weil die Gegensätze zwischen Arm und Reich hier krasser sind, als sie es selbst zu Beginn des Industriezeitalters in der nördlichen Hemisphäre gewesen sind.
    Die Wirtschaftsflüchtlinge aus den Entwicklungsländern, denen bald Umweltflüchtlinge in großer Zahl folgen werden, sind nur Vorboten dessen, was sich weltweit an sozialem Sprengstoff ansammelt, an Sprengstoff, dessen Explosion auch uns in unmittelbare Mitleidenschaft ziehen würde.
    Entscheidend ist daher, daß wir den Begriff der nationalen Souveränität über die regionalen Zusammenschlüsse hinaus schrittweise durch den Begriff der Weltsouveränität ersetzen. Die Vorstellung, die globalen Probleme ließen sich im Nebeneinander von rund 160 souveränen, im Grunde nur sich selbst verantwortlichen Einzelstaaten bewältigen, gehört der Vergangenheit an. Wir sind längst in das Zeitalter der Weltinnenpolitik eingetreten und brauchen deshalb jetzt unter dem Dach der Vereinten Nationen dringend handlungsfähige Institutionen mit weltweiter Zuständigkeit. Nur so können die weltweiten Prozesse im Sinne des friedlichen Überlebens der Menschheit beeinflußt, die weltweit agierenden Finanz- und Wirtschaftskolosse und die immer rascher um den Globus rotierenden Geldbewegungen unter Kontrolle gehalten sowie die notwendigen Ausgleichsmaßnahmen zwischen den Hemisphären, um die es nämlich geht, realisiert werden.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Vogel for world president! — Heiterkeit bei der CDU/CSU)

    — Ja, warum nicht? Warten Sie es einmal ab. Sie jedenfalls nicht, mein Lieber; Sie jedenfalls nicht, Herr Bötsch.

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

    Diese Klärung der Begriffe und die Entwicklung entsprechender Gesamtkonzpete sind wichtig und notwendig. Aber das genügt nicht. Die globalen Dimensionen könnten sogar dazu verleiten, auf nationale Initiativen zu verzichten und zunächst einmal abzuwarten, was auf der globalen Ebene oder anderswo geschieht. Manche geben dieser Versuchung ja allzu gern nach.
    Das ist uns nicht erlaubt. Ganz abgesehen davon, daß wir selbst betroffen sind. Da nirgends auf der Welt so viele Waffen wie auf unserem Territorium angehäuft sind und da unsere eigene Umwelt trotz aller Anstrengungen unverändert existentiell bedroht ist, können wir nicht von anderen fordern, was wir nicht selber tun. Außerdem sind wir die drittstärkste Industrienation der Welt. Unser Sozialprodukt ist größer als das von ganz Lateinamerika einschließlich der Karibik. Jeder einzelne von uns hat für seinen Konsum im Durchschnitt ebensoviel zur Verfügung wie 50 Menschen in Schwarzafrika, und mehr als 80 % des weltweiten Energieaufkommens werden von dem Viertel der Weltbevölkerung verbraucht, das in den Industrieländern lebt. Das heißt auch, in erster Linie tragen wir zur Aufheizung der Weltatmosphäre und zur Schädigung der Ozonschicht bei. Wir dürfen uns schon deshalb nicht auf andere herausreden.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir müssen handeln, und zwar rasch, und wir müssen unseren Mitbürgerinnen und Mitbürgern sagen, daß tiefe Einschnitte, spürbare Einschnitte erforderlich sind.
    Das beginnt auf dem Feld der Sicherheit. Hier ist die Europäische Gemeinschaft ein Beispiel für einen erfolgreich voranschreitenden, jeden Krieg unter den Beteiligten ausschließenden Verflechtungsprozeß. In Gestalt des Helsinki-Prozesses ist ein anderes bündnisübergreifendes Verflechtungsverfahren im Lauf. An seinem Ende muß eine vertraglich normierte, völkerrechtlich verbindliche Friedensordnung für ganz Europa stehen, eine Friedensordnung, der für die Staaten, zwischen denen bislang kein Friedensvertrag besteht, friedensvertragliche Qualität zukommt. Ziele bleiben dabei die völlige Durchlässigkeit der Grenzen, der friedliche Wettbewerb der Systeme und die wachsende Selbstbestimmung der Menschen innerhalb dieser europäischen Friedensordnung. Ebenso muß der Abrüstungsprozeß beschleunigt werden. Zu all dem müssen wir durch eigene Initiativen beitragen.



    Dr. Vogel
    Meine Damen und Herren von der Union, wer statt dessen die europäischen Grenzen und vor allem die polnische Westgrenze, und das ausgerechnet noch zum 50. Jahrestag des Überfalls, erneut zur Diskussion stellt, wer neue Kurzstreckenraketen stationieren und die taktischen Atomwaffen nicht völlig beseitigen will, wer Übungen vorbereitet und zuläßt, in deren Verlauf in Europa und insbesondere in Zentraleuropa 42 Atomwaffen mit einem Vielfachen der Zerstörungskraft der Hiroshima-Bombe eingesetzt werden, und wer dann einen Oberbürgermeister, der sich vernünftigerweise weigert, an so etwas teilzunehmen, noch mit einem strafrechtlichen Ermittlungsverfahren überzieht, nämlich den Oberbürgermeister von Würzburg, der fördert die Sicherheit nicht, der gefährdet die Sicherheit, und zwar in gefährlicher Weise.

    (Beifall bei der SPD und der Abg. Frau Rust [GRÜNE])

    Außerdem ist es hoch an der Zeit, die Bundeswehr an die veränderten politischen Voraussetzungen anzupassen. Mit der Veränderung ihrer Struktur, der Reduzierung ihrer Präsenzstärke und der Modifizierung ihrer Ausrüstung im Rahmen des allgemeinen Abrüstungsprozesses muß jetzt begonnen werden. Und gerade wenn die Nachrichten aus Wien günstig sind, wenn es wahr ist, daß wir schon Mitte nächsten Jahres dort zu einer Vereinbarung kommen, dann sind diese Vorarbeiten besonders dringlich.
    Das alles, was ich da sage, hat übrigens auch nicht zu unterschätzende Bedeutung für das Gelingen des von Michail Gorbatschow in Gang gesetzten Reformprozesses. Wir wünschen auch im eigenen Interesse — und ich nehme an, es ist die Meinung des ganzen Hauses —, daß Gorbatschow Erfolg hat. Die Möglichkeiten, dazu beizutragen, sind bei realistischer Betrachtung begrenzt. Um so wichtiger ist, daß Gorbatschows Abrüstungsinitiativen, an deren Verwirklichung er schon aus Gründen der volkswirtschaftlichen Entlastung interessiert ist, eine konstruktive und rasche Antwort finden. Andernfalls versäumen wir nicht nur eine Chance, sondern wir spielen seinen konservativen Widersachern in seinem eigenen Land unmittelbar in die Hände — und ich glaube, keiner will das.

    (Beifall bei der SPD)

    Noch ein Weiteres sollten, nein, müßten wir auf dem Gebiet der Rüstung unverzüglich ins Werk setzen, nämlich ein vollständiges und umfassendes Verbot aller Waffenexporte in Länder, die nicht der OECD angehören. Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen voraus, Sie kommen aus der Kette der ständigen internationalen Peinlichkeiten erst heraus, wenn Sie sich zu diesem klaren Schritt entschließen.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Beides hat für einzelne Unternehmen und für bestimmte Regionen — auch das muß man sagen — erhebliche Umstellungen zur Folge, auch für die Beschäftigten. Daher muß dieser Prozeß durch flankierende Hilfen des Bundes im Interesse der Arbeitsplätze und der friedlichen Produktivität unterstützt werden.
    Einschneidende, spürbare Maßnahmen sind weiter zur Abwendung der Klimakatastrophe, und hier insbesondere auf dem Feld der Energieeinsparung, notwendig. Nach übereinstimmender Ansicht aller Experten, übrigens auch nach dem einstimmig verabschiedeten Zwischenbericht der Enquete-Kommission des Bundestages, muß der Energieverbrauch in der Bundesrepublik bis zum Jahre 2005 um mindestens 20, und bis 2030 um mindestens 50 % gesenkt werden. Dazu bedarf es veränderter Rahmenbedingungen für den Verkehr, eines beschleunigten Ausbaus des öffentlichen Personennahverkehrs, schrittweiser Verlagerung des Schwerlastverkehrs und des inländischen Flugverkehrs auf die Schiene und großer technischer Anstrengungen, etwa zur Gewinnung alternativer Energien, zur Steigerung des Wirkungsgrades beim Einsatz von Primärenergie und zur Herbeiführung der Serienreife schon entwickelter Motoren, die auf 100 Kilometer nur noch einen Bruchteil der bisherigen Kraftstoffmenge benötigen. Auch muß das Energiewirtschaftsrecht grundlegend erneuert werden. Bei all dem bedarf es koordinierter Initiativen der Europäischen Gemeinschaft.
    Aber alles das genügt nicht: Das Ziel wird sich nur erreichen lassen, wenn auch die marktwirtschaftlichen Kräfte zugunsten der Umwelt mobilisiert werden, das heißt, wenn vor allem das Instrument des Preises eingesetzt wird, wenn also das, was sparsamer verbraucht werden soll, teurer wird. Wir wollen deshalb, daß Wasser, Luft und Boden nicht mehr als Freigüter behandelt werden. Ihre Belastung muß vielmehr auch dann schon als Kostenfaktor in die Betriebsrechnung eingehen, wenn sie sich im Rahmen des umweltrechtlich Erlaubten hält, nicht erst an der Grenze des umweltrechtlich Verbotenen.

    (Beifall bei der SPD)

    Wir wollen außerdem — unter entsprechendem sozialem Ausgleich — einen Teil der Steuerlast vom Lohn, vom Einkommen und vom Unternehmensertrag auf den Verbrauch an Primärenergie verlagern. Dieses Konzept — das zeigt ja auch das Echo auf die gestrige Debatte — hat breite Aufmerksamkeit und sowohl im politischen als auch im wirtschaftlichen Bereich sehr viel grundsätzliche Zustimmung gefunden. Nur die Union hat sich leider bisher, von einzelnen abgesehen, im wesentlichen auf Polemik beschränkt. Das ist zu wenig. Gefordert ist eine Alternative.
    Ein solcher ökologischer Umbau wird übrigens die Wettbewerbsfähigkeit unserer Wirtschaft nicht schwächen, sondern stärken, weil sie dadurch bei der Entwicklung neuer energiesparender Technologien einen zeitlichen Vorsprung gegenüber jeder ausländischen Konkurrenz erhält.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Daß die Entwicklung in diese Richtung geht, ist ja wohl inzwischen unstreitig.
    Energieeinsparung ist auch ein Beitrag zum NordSüd-Ausgleich. Denn wer will, daß sich die Lebensverhältnisse in der südlichen Hemisphäre verbessern, der kann doch von den Entwicklungsländern nicht verlangen, daß sie ihren Energieverbrauch, der heute im Durchschnitt pro Kopf 1/30 des unseren ausmacht — das muß man sich vorstellen: 30 Menschen dort



    Dr. Vogel
    verbrauchen zusammen soviel Energie wie einer bei uns im Durchschnitt allein — —

    (Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Im Süden ist es wärmer! — Frau Matthäus-Maier [SPD]: Oh, Herr Friedmann!)

    — Herr Friedmann, in aller Freundschaft, das ist nicht witzig, dieser Zwischenruf ist peinlich.

    (Beifall bei der SPD)

    Wer das will, der kann doch nicht im Ernst verlangen, daß die Entwicklungsländer und die Menschen ihren Verbrauch auch auf diesem Niveau festschreiben. Sie müssen ihn vielmehr in gewissem Umfang erhöhen und steigern. Das macht aber überproportionale Einsparungen auf seiten der Industrienationen um so dringlicher.
    Geboten ist weiter — da scheint sich eine gewisse Übereinstimmung abzuzeichnen — eine über die bisherigen Vorstellungen hinausgehende Erleichterung der Schuldenlast und eine Veränderung der Weltwirtschaftsordnung, die den Einfluß der Entwicklungsländer gegenüber den Industrienationen stärkt.
    Der Gedanke der Mitbestimmung, den wir in einem bestimmten Bereich praktizieren, der muß auch hier zum Tragen kommen. Es kann und darf auf Dauer kein Weltdirektorium einiger weniger politisch und wirtschaftlich potenter Mächte geben. Das würde keine gute Perspektive sein. Herr Bundeskanzler, die Veranstaltung in Paris am 14. Juli hat in ihrer Separierung zwischen den sieben Industrienationen und den anderen an gesonderten Tischen diesen Eindruck vom Weltdirektorium unterstrichen und bestärkt.
    Es bleibt die gesellschaftliche Einflußnahme auf die technologischen und ökonomischen Prozesse, nicht, Graf Lambsdorff, im Sinne einer bürokratischen Wirtschafts-Technik- oder Wissenschaftsverwaltung, die individuelle Initiativen und Kreativität erstickt, aber im Sinne einer Rückführung der Entscheidungen, die über unser aller Schicksal bestimmen, in den öffentlichen Bereich, für den die demokratischen Regeln gelten und bei denen alle eine Chance haben, am Entscheidungsprozeß mitzuwirken, weil alle im guten wie im schlechten von den Folgen der Entscheidungen betroffen sind. Ich sage voraus, die Gentechnologie ist die nächste Probe aufs Exempel.

    (Beifall bei der SPD)

    Ich möchte, daß die großen Entscheidungen nach breitem Dialog in unserem Volk von diesem Haus, von den politisch Verantwortlichen getroffen werden und nicht von denen, die nur spezielle Interessen, weil das ihre Aufgabe ist, zu vertreten und zu verfolgen haben.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Das alles hat natürlich mit Macht zu tun, mit wirtschaftlicher, geistiger, sozialer und politischer Macht. Diese Macht ist aber vom Bewußtsein der Menschen abhängig. Eben dieses Bewußtsein hat sich in den letzten zwei Jahrzehnten mit zunehmender Beschleunigung verändert. Viele Menschen sträuben sich mehr und mehr dagegen, um materieller Vorteile willen schwere Gefahren für die Gemeinschaft, ja für die Menschheit und die kommenden Generationen in
    Kauf zu nehmen. Nicht wenige erschrecken darüber, daß auch die Zeitstrukturen durch die weltumspannende Gleichzeitigkeit aller Informationen und die rapide Beschleunigung aller Prozesse instabil werden und deshalb das menschliche Maß verlieren. Hand in Hand damit wächst die Einsicht, daß es Werte gibt, die dem „immer mehr", dem „immer größer", dem „immer schneller" vor- und übergeordnet sind, und daß das „immer mehr" keineswegs „immer besser" bedeutet und daß das „weiter so" keine Zukunft mehr ergibt. Diese Einsicht läßt mehr und mehr Menschen — das ist nur zu begrüßen — auch verstärkt nach dem eigentlichen Sinn ihres Daseins fragen.
    Das alles verändert das allgemeine Bewußtsein. Dieser Änderung des Bewußtseins kann keine Macht und keine Struktur, deren Zeit abgelaufen ist, auf Dauer widerstehen, so sehr sie sich auch festkrallt und so sehr sie sich auch verteidigt. Die ökumenische Bewegung für Frieden, Gerechtigkeit und die Bewahrung der Schöpfung, die erstmals seit Jahrhunderten alle christlichen Kirchen und Religionen vereint, zeigt dies genauso an wie die sich in den Gewerkschaften ausbreitende Zukunftsdiskussion, so insbesondere bei der IG Metall, und die Vielzahl von sozialen Bewegungen und Initiativen, die dem Neuen zum Durchbruch verhelfen wollen, zu denen vor allem auch die Frauenbewegung gehört. Es gibt aber auch nicht wenige auf der Unternehmerseite, die über den Tellerrand der eigenen engen Interessen hinausblicken.
    Diese Kräfte gibt es doch nicht nur bei uns. Es gibt sie weltweit. Sie stehen auch hinter den Reformprozessen in der Sowjetunion, in Polen und in Ungarn, auch in Lateinamerika. Wo sie, wie in China, gewaltsam unterdrückt werden, werden sie nur vorübergehend zum Schweigen gebracht, aber nicht ausgetilgt. Das sollten sich auch die merken, die sich eilfertig auf die Seite der Unterdrücker gestellt haben.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    In der Bundesrepublik ist es an uns, dem Neuen, von dem ich gesprochen habe, politische Struktur zu geben und es in politische Wirklichkeit umzusetzen. Wir sind dazu bereit. Unser neues Grundsatzprogramm, das wir im Dezember verabschieden werden, ist eine klare Absage an das „weiter so" und die bisher umfassendste Antwort auf neue Herausforderungen, eine Antwort, die keine absolute Geltung beansprucht, die den Menschen aber auch deshalb Orientierung gibt, weil sie auf Erfahrungen beruht, die die deutsche Sozialdemokratie in mehr als 125 Jahren gesammelt hat. Mit diesem Programm und mit den konkreten Konzepten, die wir bereits vorgelegt haben, fordern wir die mit uns konkurrierenden politischen Kräfte zum Wettstreit heraus. Zu einem Wettstreit, bei dem den Menschen die Wahrheit gesagt wird, etwa die Wahrheit, daß das jetzt Notwendige von jedem Mitbürger und jeder Mitbürgerin einen spürbaren Beitrag und eine Veränderung der eigenen Lebensweise verlangt. Wer dies nicht deutlich und klar sagt, kann die Gefahren, von denen ich gesprochen habe, nicht bannen und nicht überwinden.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Es geht um einen Wettbewerb und einen Wettstreit,
    bei dem auch Irrtümer eingeräumt werden, so wie wir



    Dr. Vogel
    das kürzlich — wie ich das sehe gemeinsam — hinsichtlich der finanziellen Auswirkungen der Kindererziehungszeiten getan haben.
    Ich bin sicher, die Mehrheit, die Sie verloren haben, gibt es schon heute für eine Politik der durchgreifenden Erneuerung und des menschenwürdigen Überlebens.

    (Zuruf von der CDU/CSU)

    Diese Mehrheit wird sich formieren. Natürlich wird es aber auch weiterhin strukturkonservative, ja sogar, Herr Bötsch, reaktionäre Kräfte geben,

    (Zuruf von der CDU/CSU) jedenfalls, solange Sie hier sind,


    (Heiterkeit — Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Dafür unterstützen Sie in Langenselbold die DKP!)

    Kräfte, die sich am Gestrigen und an ihren Privilegien festklammern, Leute, die meinen, es genüge, die technische Modernisierung einfach laufenzulassen, und die im übrigen an den Egoismus des einzelnen appellieren und die zugleich die Angst derer ausbeuten, die jede Veränderung, jede Reform als Anschlag auf ihren Besitzstand und ihre bisherige Lebensweise empfinden. Wie wir gesehen haben, gibt es auch Menschen, die auf starke Sprüche und plumpen Populismus, ja sogar auf neonazistische Parolen hereinfallen, weil ihnen die Komplexität der Verhältnisse und Entwicklungen unheimlich ist, weil hinter dem politischen Tagesstreit die großen Zusammenhänge zu oft nicht sichtbar werden und weil ihnen die vorhandenen Parteien Anlaß zur Kritik und zum Protest geben.
    Ihr noch amtierender Generalsekretär, Herr Bundeskanzler, auf den ich mich wirklich nur sehr ausnahmsweise und in ganz seltenen Fällen beziehe

    (Zuruf des Abg. Rühe [CDU/CSU])

    — Sie sind noch nicht soweit; Sie sind noch nicht gewählt —,

    (Heiterkeit bei der SPD — Dr. Friedmann [CDU/CSU]: Das hängt nicht von der SPD ab!)

    hat diese Zusammenhänge erkannt. Deshalb wollte er Ihre Partei problembewußter, gesprächsoffener und zeitgemäßer erscheinen lassen. Deshalb rüttelte er gelegentlich an konservativen Tabus und störte Ihre Kreise, und deshalb haben Sie ihn entlassen. Wenn Sie es könnten, würden Sie wahrscheinlich auch andere entlassen, die so denken wie er, etwa Frau Süssmuth oder Herrn Fink oder auch noch einige andere. Aber das können Sie nicht.
    Was sagten Sie, Herr Bundeskanzler, über Ihre eigene Partei? Herr Biedenkopf, auch ein früherer Generalsekretär, hat uns vor wenigen Tagen daran erinnert, daß Sie selbst vor nicht allzu langer Zeit die Sorge geäußert haben, die Union sei drauf und dran — ein wörtliches Zitat Biedenkopf/Kohl — zu verkrusten, zu verbonzen und zu überaltern.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Bei Ihnen ist das schon eingetreten!)

    Es ist relativ selten, daß ein Vorsitzender über seine Partei solche Ausführungen macht. Er muß guten Grund haben.

    (Bundeskanzler Dr. Kohl: Doch! Kollege Brandt macht die jeden Tag!)

    — Herr Kollege Kohl, ich fürchte, Ihre Wahrnehmungsfähigkeit bei der Lektüre von Gedrucktem ist eingeschränkt und vermindert, denn ein Vergleich dessen, was Willy Brandt sagt, mit Ihren Äußerungen kann wirklich nur Ihnen einfallen. Ich sehe dafür überhaupt keinen Anknüpfungspunkt.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Bohl [CDU/CSU]: Aber Sie waren schon stärker!)

    Andere in Ihrer Partei, Herr Bundeskanzler, sprechen davon, daß die Union dabei sei, ihre Identität zu verlieren. Ich lasse das einmal auf sich beruhen, ich greife auch das in Ihren Debatten häufig benutzte Stichwort vom christlichen Umgang innerhalb der christlichen Partei nicht auf. Eines aber ist gewiß: Wer so handelt wie Sie, Herr Bundeskanzler, in dieser Sache,

    (Bohl [CDU/CSU]: Sagen Sie einmal etwas über Herrn Lafontaine!)

    der mag etwas von personellen Rankünen und von der Kunst der Selbstverteidigung verstehen. Die Frage jedoch, Herr Bundeskanzler, wofür Sie eigentlich stehen, bleibt offen. Deshalb ist eine von Ihnen geführte und verkörperte Partei zu mehr als dem „Weiter so!", geschweige denn zu grundlegenden Erneuerungen der gesellschaftlichen Strukturen gänzlich außerstande.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Die Mehrheit der Erneuerung wird sich ohne Sie, nein, sie wird sich gegen Sie formieren.

    (Dr. Dregger [CDU/CSU]: Gegen Sie!)

    Und es ist die deutsche Sozialdemokratie, die dieser Mehrheit Struktur und Gestalt geben wird.

    (Lebhafter Beifall bei der SPD)



Rede von Dieter-Julius Cronenberg
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)
Nun hat das Wort der Abgeordnete Rühe.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Volker Rühe


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr Vogel, es war natürlich klar, daß Sie gerne etwas zu den jüngsten Diskussionen in der CDU sagen wollten. Ich muß Ihnen sagen, wenn Ihre damalige Führung Schmidt, Wehner und Brandt jemals ein so offenes klärendes Gespräch geführt hätte, vielleicht hätten sie länger regiert, auf jeden Fall besser regiert, als sie es tatsächlich gemacht haben.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Roth [SPD]: Diesen Vergleich hätte ich nicht herangezogen!)

    Wenn ich heute morgen die „Bild"-Zeitung mit den
    Brandt-Memoiren lese: „So schlimm war Wehner" , so
    kann ich sagen, das ist 25 Jahre her. Wenn bei uns
    einmal drei Tage lang eine offene Aussprache geführt
    wird, dann wird uns das letztlich stärken. Sie sind
    nicht einmal nach 25 Jahren in der Lage, einen



    Rühe
    Schlußstrich unter Ihre Auseinandersetzungen zu ziehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Lieber Herr Vogel, wenn Sie als Parteivorsitzender Klartext mit Herrn Lafontaine, Herrn Momper und Herrn Rau reden, dann können Sie sich auch wieder Sorgen um die CDU machen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Das Bild, das Sie im Sommer als Unwissender, Nichtinformierter über die Kamin- und Schloßgespräche zwischen den GRÜNEN und der SPD abgegeben haben, kann man nicht mit einer neuen Klarsichthülle erledigen, die man anlegt. Da kommt es auf politische Führungskraft an, Herr Vogel.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Solche koalitionsvorbereitenden Gespräche kann man nicht aussitzen, Herr Vogel. Da muß man handeln und Klarheit schaffen.

    (Beifall bei der CDU/CSU — Lachen bei der SPD — Dr. Vogel [SPD]: Aussitzen? Das ist der Schlager des Tages! — Weitere Zurufe von der SPD)