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ID1115401000

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    Plenarprotokoll 11/154 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 154. Sitzung Bonn, Freitag, den 1. September 1989 Inhalt: Nachruf auf den früheren Bundesminister und langjährigen Vorsitzenden der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion Dr. Heinrich Krone 11625 A Glückwünsche zu den Geburtstagen des Abg. Kalisch, Frau Dr. Timm, Grüner, Dr. Stark (Nürtingen), Leonhart, Schulze (Berlin) und des Vizepräsidenten Stücklen 11625 D Gedenkworte der Präsidentin zum 50. Jahrestag des Zweiten Weltkrieges; Begrüßung polnischer Gäste und des Bundespräsidenten 11626 A, B Tagesordnungspunkt: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung aus Anlaß des 50. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges Dr. Kohl, Bundeskanzler 11626 C Brandt SPD 11633 A Dr. Dregger CDU/CSU 11637 A Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 11640 C Dr. Graf Lambsdorff FDP 11644 B Wüppesahl fraktionslos 11647 C Jahn SPD (Erklärung nach § 31 GO) 11649 B Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 11649 C Namentliche Abstimmung 11650 A Nächste Sitzung 11651 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 11653 A Anlage 2 Schriftliche Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Hirsch und Dr. -Ing. Laermann (alle FDP) zur Abstimmung über die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 11/5114 und 5117 11653* D Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Seesing (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5114 11654* A Deutscher Bundestag — l 1. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. September 1989 11625 154. Sitzung Bonn, den 1. September 1989 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 01. 09. 89 * Frau Beer DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Frau Berger (Berlin) CDU/CSU 01. 09. 89 Böhm (Melsungen) CDU/CSU 01. 09. 89 Börnsen (Ritterhude) SPD 01. 09. 89 Dr. Briefs DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 01. 09. 89 * Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU 01. 09. 89 Clemens CDU/CSU 01.09.89 Frau Conrad SPD 01. 09. 89 Dr. Daniels (Regensburg) DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Frau Fischer CDU/CSU 01. 09. 89 Frau Fuchs (Verl) SPD 01. 09. 89 Frau Garbe DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Gattermann FDP 01.09.89 Genscher FDP 01.09.89 Graf SPD 01.09.89 Haack (Extertal) SPD 01. 09. 89 Frhr. Heereman von CDU/CSU 01. 09. 89 Zuydtwyck Heimann SPD 01.09.89 Frau Hensel DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Hoss DIE 01.09.89 GRÜNEN Frau Hürland-Büning CDU/CSU 01. 09. 89 Hüser DIE 01.09.89 GRÜNEN Jaunich SPD 01.09.89 Jungmann (Wittmoldt) SPD 01. 09. 89 Frau Kelly DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Klein (Dieburg) SPD 01. 09. 89 Klose SPD 01.09.89 Kretkowski SPD 01.09.89 Kroll-Schlüter CDU/CSU 01.09.89 Leonhart SPD 01.09.89 Lüder FDP 01.09.89 Maaß CDU/CSU 01.09.89 Meyer SPD 01.09.89 Möllemann FDP 01.09.89 Dr. Müller CDU/CSU 01. 09. 89 * Frau Nickels DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Niegel CDU/CSU 01. 09. 89 * Dr. Nöbel SPD 01. 09. 89 Pfuhl SPD 01. 09. 89 * Dr. Pick SPD 01. 09. 89 Regenspurger CDU/CSU 01.09.89 Reuschenbach SPD 01.09.89 Dr. Rüttgers CDU/CSU 01. 09. 89 Frau Saibold DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Dr. Scheer SPD 01. 09. 89 Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Frau Schilling DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Dr. Schöfberger SPD 01. 09. 89 Seehofer CDU/CSU 01.09.89 Stobbe SPD 01.09.89 Stratmann DIE 01.09.89 GRÜNEN Such DIE 01.09.89 GRÜNEN Frau Terborg SPD 01. 09. 89 Tietjen SPD 01.09.89 Dr. Todenhöfer CDU/CSU 01. 09. 89 Uldall CDU/CSU 01.09.89 Vogt (Düren) CDU/CSU 01. 09. 89 Voigt (Frankfurt) SPD 01. 09. 89 Frau Dr. Vollmer DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Vosen SPD 01.09.89 Frau Walz FDP 01. 09. 89 Wartenberg (Berlin) SPD 01. 09. 89 Dr. von Wartenberg CDU/CSU 01. 09. 89 Westphal SPD 01.09.89 Dr. Wieczorek SPD 01. 09. 89 Frau Wilms-Kegel DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Wissmann CDU/CSU 01.09.89 Frau Würfel FDP 01. 09. 89 Zierer CDU/CSU 01.09.89 Dr. Zimmermann CDU/CSU 01. 09. 89 * tür die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Schriftliche Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Hirsch und Dr.-Ing. Laermann (alle FDP) zur Abstimmung über die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 11/5114 und 11/5117 Die Unterzeichner werden keinem der beiden Entschließungsanträge zustimmen, weil sie damit ihr Bedauern zum Ausdruck bringen wollen, daß es anläßlich des Gedenkens an den 1. September 1939 nicht gelungen ist, eine gemeinsame Erklärung aller Fraktionen zu verabschieden. Dann hätte lieber auf Entschließungen ganz verzichtet werden sollen. 11654 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. September 1989 Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Seesing (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entschliefungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5114 Die Bundesrepublik Deutschland kann und darf keine Gebietsansprüche gegen die Volksrepublik Polen erheben. Die Grenzen eines wiedervereinigten Deutschlands mit Polen werden aber erst in einer Friedensordnung festgelegt, die die Teilung Europas beendet. Dabei geht es darum, das friedfertige Zusammenleben des deutschen und des polnischen Volkes auf immer zu sichern. Ich befürchte, daß der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/5114 diesem Ziel nicht dient, sondern die Konfrontation zwischen Menschen unterschiedlicher Auffassung fördern soll. Er könnte mehr Unfrieden als Frieden schaffen. Deswegen muß ich diesen Antrag ablehnen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Graf Otto Lambsdorff


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Herr Kollege Brandt hat vorhin schon daran erinnert: Als heute vor 50 Jahren deutsche Soldaten in Polen einmarschierten, als Hitler das größte Völkermorden der Weltgeschichte begann, da gab es im Deutschen Reich keine Kriegsbegeisterung, es gab aber auch nicht sehr viel Widerspruch. Alle Zeitzeugen stimmen wohl mit dem überein, was Ulrich von Hassell am 1. September 1939 in sein Tagebuch schrieb: „Auf der Straße wenig Menschen, nur offizielle Begeisterung der Absperrung. " — Tatsächlich: Die Deutschen waren in ihrer Mehrheit, in ihrer großen Mehrheit bedrückt, der Jubel blieb aus. Die Mächtigen sahen es voller Enttäuschung.
    Ich sage das hier nicht, um unser Volk, um die Deutschen jener Jahre von aller Mitverantwortung für das zu befreien, was damals schon an Schrecklichem geschehen war und sich nun noch viel schrecklicher fortsetzen sollte. Denn es ist auch wahr, es ist leider wahr, was ein anderer über den Kriegsausbruch 1939 geschrieben hat:
    Selbst wenn die Deutschen den Lügen ihrer Führer nicht geglaubt hätten,
    — so Golo Mann —
    sie hätten trotzdem gehorcht und jeder die ihm angewiesene Arbeit getan. Dahin war es nach sechs Jahren immer tiefer krallender Nazi-Herrschaft gekommen: Ein einziger konnte befehlen,
    was er wollte, 75 Millionen Menschen folgten nach, sie gehorchten ohne Freude, sie glaubten ohne Freude.
    Soweit Golo Mann.
    Die Zustandsbeschreibung ist deprimierend. Sie ist besonders deprimierend für alle von uns, die das bewußt miterlebt haben. Ich selber gehöre dazu und habe es nicht vergessen, auch nicht, wie sich fehlende Freude bei vielen doch noch ein Jahr später einstellte, als Frankreich besiegt zu sein schien. Wie alle Erfolge der Nazis war auch dies nur ein Scheinerfolg, und er führte uns, er führte Europa, er führte die Welt Jahr für Jahr in immer tiefere Katastrophen.
    Aber dies, so meine ich, müssen wir an diesem Tag in aller Nüchternheit sagen: Nicht das Jahr 1945 brachte die Katastrophe, wie so oft gesagt worden ist. Sie hatte bei uns schon zwölf Jahre vorher eingesetzt. Für fast alle Völker dieses Kontinents zog sie an dem Tage herauf, an den wir uns heute erinnern.
    Viele Deutsche haben es damals geahnt, heute vor 50 Jahren. Aber das ganze Ausmaß dessen, was nun in deutschem Namen seinen Anfang nahm, haben sich nur die allerwenigsten vorstellen können; auch die wenigen nicht, die sich nun erst recht zum Widerstand aufgerufen sahen. Auch ihrer müssen und wollen wir heute gedenken. Denn aus welchen Lagern sie auch kamen, sie waren die Vorbilder, auf die sich Deutschland moralisch berufen konnte, als sechs Jahre danach ein neuer Beginn, ein anderer Beginn versucht wurde.
    Wir sollten an diesem Tage sehen: Die immer wieder erhobene Frage: Wie konnte es geschehen? ist keine Frage, die an den 1. September 1939 anknüpfen kann. Sie gehört zu einem früheren Datum, zum 30. Januar 1933.

    (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der GRÜNEN)

    Der Beginn des Zweiten Weltkrieges war die ebenso brutale wie folgerichtige Konsequenz einer Gewaltpolitik, die mit der Verfolgung und Ermordung von politisch Andersdenkenden und mit Judenpogromen begonnen hatte und mit der Einverleibung Osterreichs unter dem Deckmantel einer Heim-insReich-Bewegung sowie der Annexion der Tschechoslowakei noch lange nicht befriedigt war. Diese Politik, wenn man sie denn so bezeichnen will, war nie zu befriedigen, nur — wie Herr Brandt gesagt hat — durch allseitige Kapitulation.
    Jeder, der es nur gewollt hätte, hätte es nachlesen und also wissen können. Hitler hatte niemanden über seine Pläne im unklaren gelassen. Zu lange hatte man es nicht wissen und nicht glauben wollen, nicht in Deutschland und auch nicht in den beschwichtigenden Demokratien Westeuropas. Ich schiebe nichts auf andere ab, wenn ich darauf hinweise.
    Anders als über die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg — der Herr Bundeskanzler hat es in seiner Regierungserklärung gesagt — hat es nie — und zu Recht — eine ernstzunehmende Historikerdebatte über die Schuld am Kriegsausbruch 1939 gegeben. Nicht nur die deutsche Generation, die damals er-



    Dr. Graf Lambsdorff
    wachsen war, auch die Nachgeborenen müssen damit leben. Es war allein deutsche Schuld und deutsche Verantwortung. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß erst der Hitler-Stalin-Pakt den Weg zum Kriegsbeginn am 1. September 1939 frei machte.
    Wir kennen den Ausgang: über 50 Millionen Tote, gefallen, ermordet, erschlagen, auf Schlachtfeldern, in Konzentrationslagern, in Bombenangriffen, schließlich bei der Vertreibung umgekommen; ein zerstörtes Europa, ein geteiltes Europa, das gerade jetzt in Ansätzen versucht, auch ideologische und machtpolitische Grenzen zu überwinden, die damals geschaffen wurden; ein verwüstetes, geteiltes und amputiertes Deutschland und das schauerliche Wissen um Grausamkeiten, die im deutschen Namen an anderen begangen wurden.
    Niemand von uns, der die Namen Auschwitz oder Majdanek hört, kann so weiterleben, als ob dies alles nicht geschehen wäre. Dieser Krieg und das, was in ihm geschehen ist, hat nicht nur das Bewußtsein meiner Generation und der noch Älteren für immer geprägt.
    Keiner — auch das sei gesagt — kann immer nur an das Schreckliche denken. Aber bewußt oder unbewußt läßt diese Zeit unserer Geschichte auch die Nachdenklichen unter denen nicht in Ruhe, die selber nichts mehr davon gespürt haben. Der Frieden, der Wohlstand, die politische Freiheit, die äußere Unbeschwertheit werden dann nicht mehr als Selbstverständlichkeit empfunden, sondern als ein kostbares Geschenk, das nicht vom Himmel gefallen ist, für das man arbeiten, das man täglich neu erwerben, das man verteidigen muß.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

    Polen war das erste Opfer jenes Krieges. Es ist vielleicht das am schwersten getroffene geblieben. Ich habe hier keine Geschichte zu rekapitulieren. Aber immer noch gellt mir die Stimme des Diktators über das Radio ins Ohr, als er seinem sogenannten Reichstag vor 50 Jahren verkündete, nun werde zurückgeschossen. Sie haben recht, Herr Lippelt: Schon das eine Lüge am ersten Tag eines Krieges, in dem allein 6 Millionen Polen, davon 5 Millionen Zivilisten, ums Leben gebracht wurden. Wir wissen heute, daß diesem Einmarsch deutscher Soldaten, denen die Vernichtungskommandos der SS auf dem Fuß folgten, ein zynischer, ein hinterhältiger Pakt zweier Gewaltherrscher vorausgegangen war, der das kleine Land zum vierten Mal zerteilte und sein Schicksal für immer zu besiegeln schien.
    Es ist gut, daß darüber heute offen auch in der Sowjetunion gesprochen wird. Geschichtliche Verantwortlichkeit ist unteilbar. Erst dort, wo man sich zu ihr bekennt, wird der Grund gelegt, aus der Geschichte zu lernen, die richtigen Konsequenzen zu ziehen, aus Trauer und Scham etwas Neues aufzubauen. Vielleicht geschieht das nun auch in der Sowjetunion, die es als eine Siegermacht des Krieges, als eine Weltmacht damit sicher viel schwerer hat als wir. Ich habe hohen Respekt vor diesem Prozeß der Selbstbesinnung in einem Land, das nicht nach einem verlorenen
    Krieg von außen zur Selbstbesinnung gezwungen wird.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    In der Bundesrepublik haben wir uns darum bemüht. Wir haben gezeigt, daß man aus der Vergangenheit lernen kann — vielleicht, Herr Brandt, nicht genug; aber etwas doch. Freilich darf das Bemühen darum nicht aufhören, auch nicht die politische Auseinandersetzung mit denen, die niemals etwas lernen wollen. Es ist beschämend, daß es heute wieder Anlaß zu solcher Bemerkung gibt, zum Hinweis auf eine Gruppierung, deren Anwesenheit in unseren Parlamenten Liberale bedrückt.
    Und ich sage auch: Ich habe nicht überhört, Herr Brandt, daß Sie gesagt haben: „Nicht mit Kanonen schießen und vor allem keine Konzessionen machen; die angebräunten Spatzen." — Das klingt mir zu harmlos. Man hört überall, das gebe es doch in allen westlichen Demokratien und allen Parlamenten. Ich sage aus meiner Überzeugung: Das mag und darf es vielleicht überall geben — aber nicht bei uns in der Bundesrepublik Deutschland.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und den GRÜNEN)

    Ich weiß, daß diese Überzeugung ad absurdum geführt werden kann — leider.
    Herr Präsident, meine Damen und Herren, Hugo von Hofmannsthal hat 1912 in einem gänzlich anderen Zusammenhang eine Zeile geschrieben, die mich oft beschäftigt hat. Sie lautet: „Wir trauen nicht den Schlachten, die wir schlagen." Von solchem Gefühl waren manche deutsche Soldaten wohl bereits in Polen ergriffen, als sie merkten, für wen und für was sie sich schlugen. Es gibt bewegende Zeugnisse dafür. Und später, als der Eroberungswahn bis nach Moskau und darüber hinaus greifen wollte, haben immer mehr erfaßt, was ihnen befohlen wurde. Sie haben diese Schlachten eben dennoch geschlagen, bis zum bitteren Ende.
    Ich selber habe — wenn Sie diese persönliche Bemerkung erlauben — noch bis zum auch für mich persönlich bitteren Ende mitgekämpft. Wir gingen mit 17 Jahren freiwillig in diesen Krieg, der doch schon verloren war und der für uns verlorengehen mußte, wenn die richtige Sache gewinnen sollte.
    Warum, so habe ich mich oft gefragt — und nicht ich allein, sondern mit vielen Freunden aus damaliger Zeit zusammen — , haben wir uns damals so und nicht anders verhalten? Warum war der Widerstand nur bei so wenigen? Es waren doch keine fanatischen Nationalsozialisten, die sich zu Millionen opfern ließen. Die meisten taten es sicher, weil sie gar nicht anders konnten. Aber das war es wohl längst nicht allein.
    Millionen haben mitgeholfen, die Existenz jenes pervertierten Reiches zu verlängern, und zwar in dem für frühere Generationen, aber eben unter ganz anderen Verhältnissen selbstverständlichen Glauben, es gehe darum, Deutschland vor seinen Feinden schützen zu müssen — trotz Hitler. So haben viele damals gedacht, obwohl die wirklichen Feinde Deutschlands



    Dr. Graf Lambsdorff
    in Deutschland selber saßen und den Krieg nicht beenden wollten, weil das ihr eigenes Ende bedeutete.
    Nach 1945 hat es jeder verstanden, nach und nach wenigstens; damals nur sehr wenige.
    Um so größer ist unser Respekt vor denen, die das Richtige zur rechten Zeit taten. Die Namen derer, die sich auflehnten, haben Bestand und bleiben in unserer dankbaren Erinnerung. Die Namen der Feldmarschälle jenes unseligen Mannes sind, anders als sonst in deutscher Vergangenheit, fast alle vergangen und verweht. Und Stalingrad ist vielleicht der Schlachtenname des Zweiten Weltkrieges, der jedem Deutschen etwas bedeutet — ein Symbol für den Untergang des Reiches, aber auch für den Untergang des Frevlers.
    50 Jahre nach Kriegsbeginn, 40 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland sind neue Generationen herangewachsen. Sie können den düstersten Abschnitt deutscher Geschichte nur schwer begreifen. Wir, die wir ihn erlebt haben, können Erklärungen anbieten; Entschuldigungen nicht: Und selbst jede Erklärung versagt vor den Untaten, die damals verübt worden sind.
    Bei allen Unvollkommenheiten dessen, was seither in der Bundesrepublik Deutschland geschehen ist, dürfen wir aber sagen: Es gibt wohl ein paar Unverbesserliche, aber nichts verbindet diesen Staat mehr mit jener Zeit vor 50 Jahren, außer mahnender Erinnerung.
    Es kommt nicht so sehr darauf an, ob der eine von uns die kollektive, der andere die individualistische Komponente in unserer Gesellschaftsordnung gern stärker ausgebaut sähe. Das sind gewiß wichtige Fragen, aber sie berühren nicht die moralische Qualität unseres Staates.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

    Viel entscheidender ist, daß die Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen dafür gearbeitet hat, ein guter Nachbar zu werden und zu sein, nach Osten und nach Westen. Im westlichen Bündnis haben wir über 40 Jahre Frieden in Europa mit bewahrt und mit gesichert. Wir haben das Vertrauen nicht enttäuscht, das die einstigen Kriegsgegner dem besiegten Volk entgegenbrachten. Wir werden es auch künftig nicht enttäuschen.
    Und im Osten weiß man, wie sehr diese Bundesrepublik zur Verständigung zwischen den Blöcken und den Bündnissen beigetragen hat, nicht erst seit dem Beginn dieses Jahrzehnts.
    Bei aller gerechtfertigten oder ungerechtfertigten Kritik im einzelnen: Die Bundesrepublik ist der freiheitlichste, der sozialste, der mit dem höchsten Wohlstand bedachte Staat, der je auf deutschem Boden existiert hat. Wir wollen uns anstrengen, daß es dabei bleibt.
    Dazu, wie es heute ist, gehört freilich auch die fortwährende Teilung des Landes, gehören die Unfreiheit und miserablen Lebensbedingungen der Deutschen in der DDR. Sie sind in diesen Wochen auf dramatische Weise wieder in unser Bewußtsein gerückt worden. Wie gerne würden wir helfen, wenn wir es nur könnten.
    Es liegt nicht in der Macht der Bundesrepublik, die Verhältnisse in der DDR zu ändern. Es liegt in der Macht der Verantwortlichen dort, und sie rühren sich nicht. Dabei verkennen wir nicht die Fortschritte in den innerdeutschen Beziehungen, die in den vergangenen Jahren erzielt wurden; den gestiegenen Reiseverkehr auch in westliche Richtung, den Kulturaustausch, die Wissenschaftlerkontakte und erste Zusammenarbeit im Umweltschutz. Da ist viel geschehen, nicht gegen die Regierung der DDR, sondern mit ihr zusammen und für Deutsche in Ost und West.
    Aber dies ändert nichts daran, daß scheibchenweise gereichte Erleichterungen eben nicht ausreichen, daß der Ruf nach mehr Freiheit gerade unter jungen Menschen nicht verstummt, unter solchen jungen Menschen, die Freiheit selber noch nie gekannt haben. Die Führung der SED scheint heute nicht bereit zu sein, solche Hoffnungen zu erfüllen.
    Wir müssen in aller Nüchternheit sagen, so schmerzlich und so unbefriedigend es ist: Auch die Bundesregierung, auch dieses Parlament werden an diesen Zuständen in der DDR nichts ändern können. Was wir können und was wir tun ist die beständige Aufforderung an die Verantwortlichen in der DDR, sich endlich auf den Gezeitenwechsel einzustellen, der längst ihre Verbündeten in Osteuropa erfaßt hat. Wir raten dem SED-Politbüro dringend, nach Moskau, nach Warschau und nach Budapest zu sehen und sich nicht länger dem Wind der Veränderungen zu verschließen, der von dort in den östlichen Teil Deutschlands weht. Ein Land wie die DDR wird nicht immer abseits stehen können, wenn ringsherum die Welt in Bewegung gerät.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)

    Was wir tun können und was wir tun müssen, ist eine tatkräftigere Unterstützung, auch ökonomische Unterstützung, aufgeschlossener Politik in Osteuropa, damit Reformbemühungen dort wirklich dauerhaften Erfolg haben. Das gilt zu allererst für Polen, das unsere Hilfe wie kein anderes Land auf diesem Kontinent braucht.
    Gerade heute muß es gesagt werden: Wir wissen, daß unser Verhältnis zu Polen eine besondere Qualität hat und eine besondere Sensibilität erfordert. Beide Völker haben sich vor und nach 1939 Schlimmes angetan; aber keiner sollte mehr aufrechnen, niemand eine gespenstische Diskussion über polnische Westgrenzen führen. Deutsche und polnische Katholiken haben in ihrer gemeinsamen Erklärung vom 8. August dieses Jahres dafür erneut ein richtiges Zeichen gesetzt.

    (Beifall bei FDP, der CDU/CSU, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Der Brief des Bundespräsidenten an den polnischen Staatspräsidenten bringt eine Auffassung so eindrucksvoll zum Ausdruck, wie ich sie für meine
    Deutscher Bundestag — 11 Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. September 1989 11647
    Dr. Graf Lambsdorff
    Freunde, für die FDP, hier heute nicht besser formulieren könnte.

    (Beifall bei der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der GRÜNEN)

    Aber, meine Damen und Herren, ich sage auch: Für jeden Ostpreußen, für jeden Schlesier, für jeden Pommern, aber doch auch für jeden Deutschen ist das eine schmerzliche Feststellung.

    (Dr. Vogel [SPD]: Richtig!)

    Wer aber die nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa entstandenen Grenzen in Frage stellt, der stellt den Frieden in Europa in Frage. Das darf nicht sein!

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Lassen Sie mich eine persönliche Bemerkung einflechten, die von meinen Freunden geteilt wird: Ich finde es der Würde dieses Tages, der Würde dieser Veranstaltung und dieser Diskussion nicht angemessen, daß wir um Entschließungen rangeln. Wir hätten auf Entschließungen verzichten sollen.

    (Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/ CSU)

    Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir bitten um Versöhnung. Polen hilft auch uns, hilft unseren Bemühungen um mehr Freiheit überall, wenn es seinen Weg der Reformen weitergehen kann. Die Bundesregierung darf das nicht geringschätzen, wenn sie die materielle Unterstützung Polens beschließt.
    Solange in der DDR nicht mehr Freiheit einzieht, werden auch wir nicht sagen dürfen: Wir hätten in Deutschland die Folgen des Krieges, der vor 50 Jahren begonnen hat, überwunden; denn so lange haben wir Deutschen sie nicht überwunden, solange gilt das, was Herr Brandt angedeutet hat, daß die eine Hälfte der Deutschen den Krieg verloren hat und die andere offensichtlich nicht. Wir setzen auf Freiheit auch dort, und wir lassen auch nicht ab, Herr Lippelt, von der nationalen Einheit unseres Volkes.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

    In diesen 50 Jahren ist Deutschland, ist Europa um- und umgepflügt worden. Zwischen dem Rhein und dem Baltikum ist nichts mehr wie es damals war. Der Verursacher des Zweiten Weltkriegs hat der Sowjetunion den Weg bis zur Elbe geöffnet und Ost- und Mitteleuropa so in eine Gesellschaftsordnung gezwungen, die jahrzehntelang mit Stalinismus identifiziert werden mußte. Deutsche haben das auch im eigenen Lande hinnehmen und ertragen müssen. Deshalb haben wir uns in der Bundesrepublik mit unserer Vertragspolitik bemüht, die schlimmsten Auswirkungen der europäischen, der deutschen Teilung zu mildern. Jetzt, seit ein paar Jahren sprechen alle Anzeichen dafür, daß sich das Gesicht Europas ein weiteres Mal und auf friedliche Weise verändern könnte. Im Westen, in der Europäischen Gemeinschaft, die wir wollen und zu der wir untrennbar gehören, fallen die Grenzen. Der Osten gerät in Bewegungen. Wer hätte vor fünf Jahren auch nur davon geträumt, was wir heute täglich mit erregter Anteilnahme in der UdSSR, in Polen und in Ungarn verfolgen?
    Beide Seiten rücken einander näher. Vielleicht geht die Nachkriegszeit nun wirklich zu Ende, auch für die Deutschen in beiden Teilen der Nation. Nur ein freies, nur ein friedliches Europa wird uns unser nationales Ziel erreichen lassen: Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Wüppesahl.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Thomas Wüppesahl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (None)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (GRÜNE)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Um an den Vorredner eingangs ein Wort zu verlieren: Herr von Lambsdorff, Sie formulierten, der Würde des Hauses wäre es angemessen, auf Entschließungsanträge bei der heutigen Aussprache zu verzichten. Ich glaube, Sie haben recht, wenn das scheinbar Selbstverständliche, das Minimum, nicht im Vorfeld des heutigen Tages zum Optimum geworden wäre, nämlich die Anerkennung der polnischen Westgrenze durch den Deutschen Bundestag. Ich finde, bereits das zeigt beschämend, auf welch qualitativem Niveau wir uns substantiell im Bereich von Beschlüssen in der Bundesrepublik Deutschland bewegen.
    Es wird auch sprachlich ummantelt, was an Verpflichtungen aus dem, was am 1. September 1939 entstanden ist, auch heute noch für die Bundesrepublik tatsächlich existiert. Es handelt sich um das Land, das die Deutschen ausgebeutet, dessen Infrastruktur sie weitgehend vernichtet, dessen jüdischen Bevölkerungsteil sie fast vollständig ermordet hatten und das sich bis heute noch nicht von dieser Zerstörung erholen konnte. Angesichts dieses Faktums ist es dringend notwendig, das, was wir alles nicht beschlossen haben, in Form von Entschließungsanträgen noch einmal zur Abstimmung zu bringen.
    Das Stückchen „Kanzlerreise", das uns in den letzten Monaten aufgeführt worden ist, wird von einem roten Faden durchzogen: Es muß den Polen dabei gezeigt werden, daß man nicht als einer kommt, der um Vergebung bittet, sondern als einer, der um Hilfe gebeten werden will. Auch dies ist ein Stück Realität Bundesrepublik 1989.
    Ich habe mir den Spaß gemacht, einmal nachzusehen, wie die Definition des Themas, zu dem wir heute sprechen, eigentlich lautet. Es handelt sich um die Formulierung „zum 50. Jahrestag des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs". Nach dem Brockhaus bedeutet „Ausbruch" ein „plötzlicher Beginn, Heftigwerden". Als Erklärung werden Zorn oder Krankheit genannt. Das kommt hier sicherlich nicht in Betracht. Zweite Möglichkeit: Plötzlich gesteigerte oder eintretende Tätigkeit eines Vulkans. — Auch das dürfen wir ausschließen. Dritte Alternative: Gewaltsame Befreiung, Entspringen. — Genau das Gegenteil ist Anlaß der Diskussion heute. Viertens: Angriff eingekesselter Truppen, um die Einschließung in Richtung auf die eigene Front zu durchbrechen. — Auch das ist genau das Gegenteil des Diskussionsanlasses. Fünftens: Ein Ausbruchwein, ein sehr süßer Wein, zu dessen Gewinnung man die Beeren am Stock halb eintrocknen läßt und die jeweils geeigneten ausliest (ausbricht). —
    11648 Deutscher Bundestag — 11 Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. September 1989
    Wüppesahl
    In der Sprache wird häufig genug deutlich, was tatsächlich an Bewußtseinsstand erlangt ist.
    Meine Damen und Herren, ich glaube, es ist sehr deutlich geworden, daß nicht einmal in der Themenwahl klar wird, was heute behandelt werden soll. Jedenfalls ist man von der Bewältigung weit entfernt, weil man noch im Stadium der Verarbeitung befindlich ist. Warum heißt es nicht „Aussprache" oder „Regierungserklärung zum Angriffskrieg Deutschlands" oder „zum Überfall auf Polen"? Dies ist keine Nebensächlichkeit, wie ich denke, sondern dies ist die große Überschrift, zu der wir heute diskutieren, und alle verbalen Bekenntnisse werden relativiert.
    Ich behaupte, es gibt sogar wieder einen großen Teil unserer Bevölkerung, der bei Anlässen dieser Art davon spricht, daß irgendwann Schluß sein muß mit der Vergangenheit; es sei ja so lange her. Diese wahrscheinlich schon wieder als Mehrheit zu quantifizierende Gruppe in der Bevölkerung richtet ihre Antipathien mehr auf diejenigen, die Nachdenklichkeit zeigen, als auf diejenigen, die in der Kontinuität des Anlasses stehen.
    Ich glaube auch, daß immer deutlicher wird, auch bei dem, was wir in den letzten zwei Jahren an Exportproblemen im Rüstungsbereich aus der Bundesrepublik erleben mußten, daß Hitler eigentlich nur ein Ausrutscher gewesen ist: Es ging vorher und nachher weiter.
    Was wir eigentlich am leichtesten hätten lernen müssen, nämlich Friedfertigkeit, ist in diesem Lande scheinbar nicht möglich. Spätestens seit Errichtung der Bundeswehr 1954/55 zeigt es sich: Wir haben viel zuwenig und viel zu viele haben nichts gelernt. Die Option auf die Atombombe besteht, da sich die Bundesrepublik beharrlich weigert, die Zusatzprotokolle zum Atomwaffensperrvertrag zu unterzeichnen und die Laufzeit des Sperrvertrages zu verlängern. Meine Damen und Herren, in der gesamten dreistündigen Diskussion heute vormittag ist der Bezug auf die JetztZeit, auf das, was wir gelernt haben oder auch nicht gelernt haben, meines Erachtens viel zu kurz gekommen. Der Atomwaffensperrvertrag verbietet nicht den Erwerb oder Besitz von Atomwaffen oder deren Herstellung im Auftrag der Bundesrepublik auf dem Territorium eines anderen Staates. Er ermöglicht ohne Vertragsverletzung die Entwicklung weitreichender Trägersysteme auch in der Bundesrepublik, die Atomwaffenforschung und die Entwicklung einzelner Komponenten für Atomwaffen.
    Auf Betreiben der Großen Koalition und hier vor allem — bei aller Würdigung, die heute bereits vorgenommen worden ist, gehört das auch zu der geschichtlichen Entwicklung — des Außenministers Willy Brandt wurde in den Vertrag der Vorbehalt aufgenommen, daß sich die Bundesrepublik an einer Atomstreitmacht im Rahmen einer Europäischen Union mit gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik beteiligen darf. Die Bundesrepublik ist ein Atomwaffenstaat auf Abruf.

    (Dr. Bötsch [CDU/CSU]: Sie sind ein Abgeordneter auf Abruf!)

    Die Forderung: „Nie wieder Krieg! " wird nicht durch
    diese Bundesrepublik erfüllt. Im Gegenteil, auch 1989
    und in den Jahren unmittelbar davor haben wir viele gegenteilige Beweise oder Indizien.
    Die Bundesrepublik ist wieder einer der Hauptwaffenhändler auf der Welt geworden. Deutsche Industrieprodukte „Made in Germany" unterstützen Kriege in der gesamten Welt. Die Reihe skandalöser Exporte allein von Atomtechnologie ist lang. Ich nenne nur beispielhaft:
    Erstens. Im Rahmen der Affäre um die Firma Trans-nuklear Anfang 1988 wollte Ministerpräsident Wallmann nicht ausschließen, daß Plutonium nach Pakistan geliefert worden war.
    Zweitens. Dann wurde bekannt — das sind unangenehme Wahrheiten, meine Damen und Herren, aber es ist so —, daß BRD-Firmen in Argentinien Raketen und — drittens — im Irak und — viertens — in Ägypten Raketenfabriken bauen. Die Bundesrepublik trägt durch diese Atomexporte zur Vermehrung von Atomwaffenstaaten bei und untergräbt damit nicht nur Geist und Buchstaben des Atomwaffensperrvertrages, sondern senkt gleichzeitig die politische Akzeptanzschwelle dafür, daß auch der Bundesrepublik mit Auslaufen des Atomwaffensperrvertrages 1995 der Status eines Atomwaffenstaates zugestanden wird.
    Ich denke, nach diesen Ausführungen ist die vorhin gemachte Bewertung, daß heute vormittag vielleicht ein bißchen zuviel eigenes Schulterklopfen praktiziert worden ist, bereits überdeutlich geworden.
    Aber es kommt noch schlimmer: Statt daß sich dieses Land und seine Bevölkerung angesichts der eigenen Geschichte solcher Handlungen enthält und schämt, werden weiter diejenigen, die als Pazifisten diese zum Teil direkten Kriegsunterstützungsbeiträge kritisieren — erinnert sei nur an Rabta — angeprangert; sie werden wieder öffentlich angegriffen. Nur das schnelle Geld scheint zu zählen.
    Das Gezeter um das Denkmal für den unbekannten Deserteur in Bonn ist einfach ungeheuerlich. Jeder Soldat, der sich diesem Angriffskrieg zu entziehen versuchte oder entzogen hat und dies zum Teil mit seinem Leben bezahlen mußte, war ein kluger Mann und gehört zumindest nachträglich gerade im heutigen Wissen um die Barbarei dessen, wozu auch die Deserteure angehalten werden sollten, geehrt. Statt dessen lesen wir im Pressedienst der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag mit dem Datum von gestern, nicht von irgend jemandem, sondern von dem rechtspolitischen Sprecher der CDU/CSU-Fraktion, des Kollegen Wittmann, daß er der Auffassung ist, daß die Ehrung der Deserteure eine Brüskierung und Verhöhnung derjenigen darstellt, die im Kriege Leib und Leben für das Vaterland einsetzen mußten. Was ist das für ein Geschichtsverständnis! Ich enthalte mich da jeder Wertung.
    Wir lesen hier weiter im Pressedienst der CDU/ CSU-Fraktion, die nicht in der Lage war, im Vorfeld des heutigen Tages das Selbstverständliche in einem Antrag mit zu beschließen, was der Bundespräsident in seinem Brief nach Polen formuliert hatte, daß diejenigen, die als Deserteure ihre Kameraden in schwierigster Lage im Stich gelassen haben, heute nicht als



    Wüppesahl
    Vorbilder — so geht das dann weiter — angesehen werden dürfen.

    (Glocke des Präsidenten)

    — Herr Präsident, ich komme zum Schluß.
    Diese Deserteure haben sich für eine lebensbejahende Zukunft eingesetzt und haben das einzig Vernünftige in der damaligen Situation getan. Statt dessen — Schlußsatz — wird nach wie vor den Opfern des Nationalsozialismus mit schäbigen Almosen, bürokratischem Spießrutenlaufen und anderen Schikanen gezeigt, welche Kontinuität in der Bundesrepublik 1989 herrscht: Ehemalige Soldaten, Wehrmachtsgeneräle und Militärjuristen bekommen Kriegsdenkmäler, Orden und beste Pensionen, ganz zu schweigen von den Ämtern und Würden, in die sie nach dem Wiederaufbau der Bundesrepublik Deutschland gesetzt wurden.
    Meine Damen und Herren, ich würde mich freuen, wenn eine breite Zustimmung zu den Entschließungsanträgen von SPD und GRÜNEN heute zustande käme. Ich werde mich schämen, falls dies nicht möglich ist.

    (Beifall bei den GRÜNEN)