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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 11/154 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 154. Sitzung Bonn, Freitag, den 1. September 1989 Inhalt: Nachruf auf den früheren Bundesminister und langjährigen Vorsitzenden der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion Dr. Heinrich Krone 11625 A Glückwünsche zu den Geburtstagen des Abg. Kalisch, Frau Dr. Timm, Grüner, Dr. Stark (Nürtingen), Leonhart, Schulze (Berlin) und des Vizepräsidenten Stücklen 11625 D Gedenkworte der Präsidentin zum 50. Jahrestag des Zweiten Weltkrieges; Begrüßung polnischer Gäste und des Bundespräsidenten 11626 A, B Tagesordnungspunkt: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung aus Anlaß des 50. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges Dr. Kohl, Bundeskanzler 11626 C Brandt SPD 11633 A Dr. Dregger CDU/CSU 11637 A Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 11640 C Dr. Graf Lambsdorff FDP 11644 B Wüppesahl fraktionslos 11647 C Jahn SPD (Erklärung nach § 31 GO) 11649 B Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 11649 C Namentliche Abstimmung 11650 A Nächste Sitzung 11651 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 11653 A Anlage 2 Schriftliche Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Hirsch und Dr. -Ing. Laermann (alle FDP) zur Abstimmung über die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 11/5114 und 5117 11653* D Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Seesing (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5114 11654* A Deutscher Bundestag — l 1. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. September 1989 11625 154. Sitzung Bonn, den 1. September 1989 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 01. 09. 89 * Frau Beer DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Frau Berger (Berlin) CDU/CSU 01. 09. 89 Böhm (Melsungen) CDU/CSU 01. 09. 89 Börnsen (Ritterhude) SPD 01. 09. 89 Dr. Briefs DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 01. 09. 89 * Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU 01. 09. 89 Clemens CDU/CSU 01.09.89 Frau Conrad SPD 01. 09. 89 Dr. Daniels (Regensburg) DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Frau Fischer CDU/CSU 01. 09. 89 Frau Fuchs (Verl) SPD 01. 09. 89 Frau Garbe DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Gattermann FDP 01.09.89 Genscher FDP 01.09.89 Graf SPD 01.09.89 Haack (Extertal) SPD 01. 09. 89 Frhr. Heereman von CDU/CSU 01. 09. 89 Zuydtwyck Heimann SPD 01.09.89 Frau Hensel DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Hoss DIE 01.09.89 GRÜNEN Frau Hürland-Büning CDU/CSU 01. 09. 89 Hüser DIE 01.09.89 GRÜNEN Jaunich SPD 01.09.89 Jungmann (Wittmoldt) SPD 01. 09. 89 Frau Kelly DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Klein (Dieburg) SPD 01. 09. 89 Klose SPD 01.09.89 Kretkowski SPD 01.09.89 Kroll-Schlüter CDU/CSU 01.09.89 Leonhart SPD 01.09.89 Lüder FDP 01.09.89 Maaß CDU/CSU 01.09.89 Meyer SPD 01.09.89 Möllemann FDP 01.09.89 Dr. Müller CDU/CSU 01. 09. 89 * Frau Nickels DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Niegel CDU/CSU 01. 09. 89 * Dr. Nöbel SPD 01. 09. 89 Pfuhl SPD 01. 09. 89 * Dr. Pick SPD 01. 09. 89 Regenspurger CDU/CSU 01.09.89 Reuschenbach SPD 01.09.89 Dr. Rüttgers CDU/CSU 01. 09. 89 Frau Saibold DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Dr. Scheer SPD 01. 09. 89 Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Frau Schilling DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Dr. Schöfberger SPD 01. 09. 89 Seehofer CDU/CSU 01.09.89 Stobbe SPD 01.09.89 Stratmann DIE 01.09.89 GRÜNEN Such DIE 01.09.89 GRÜNEN Frau Terborg SPD 01. 09. 89 Tietjen SPD 01.09.89 Dr. Todenhöfer CDU/CSU 01. 09. 89 Uldall CDU/CSU 01.09.89 Vogt (Düren) CDU/CSU 01. 09. 89 Voigt (Frankfurt) SPD 01. 09. 89 Frau Dr. Vollmer DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Vosen SPD 01.09.89 Frau Walz FDP 01. 09. 89 Wartenberg (Berlin) SPD 01. 09. 89 Dr. von Wartenberg CDU/CSU 01. 09. 89 Westphal SPD 01.09.89 Dr. Wieczorek SPD 01. 09. 89 Frau Wilms-Kegel DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Wissmann CDU/CSU 01.09.89 Frau Würfel FDP 01. 09. 89 Zierer CDU/CSU 01.09.89 Dr. Zimmermann CDU/CSU 01. 09. 89 * tür die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Schriftliche Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Hirsch und Dr.-Ing. Laermann (alle FDP) zur Abstimmung über die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 11/5114 und 11/5117 Die Unterzeichner werden keinem der beiden Entschließungsanträge zustimmen, weil sie damit ihr Bedauern zum Ausdruck bringen wollen, daß es anläßlich des Gedenkens an den 1. September 1939 nicht gelungen ist, eine gemeinsame Erklärung aller Fraktionen zu verabschieden. Dann hätte lieber auf Entschließungen ganz verzichtet werden sollen. 11654 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. September 1989 Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Seesing (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entschliefungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5114 Die Bundesrepublik Deutschland kann und darf keine Gebietsansprüche gegen die Volksrepublik Polen erheben. Die Grenzen eines wiedervereinigten Deutschlands mit Polen werden aber erst in einer Friedensordnung festgelegt, die die Teilung Europas beendet. Dabei geht es darum, das friedfertige Zusammenleben des deutschen und des polnischen Volkes auf immer zu sichern. Ich befürchte, daß der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/5114 diesem Ziel nicht dient, sondern die Konfrontation zwischen Menschen unterschiedlicher Auffassung fördern soll. Er könnte mehr Unfrieden als Frieden schaffen. Deswegen muß ich diesen Antrag ablehnen.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Dr. Helmut Lippelt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn wir uns heute des 1. September 1939 erinnern, so soll zu Beginn über die Inszenierung gesprochen werden, mit der damals versucht wurde, den deutschen Überfall auf Polen zu legitimieren. Denn nur zu sagen, damals sei der Zweite Weltkrieg ausgebrochen, wie es in vielen Geschichtsbüchern zu lesen ist und wie es leider auch in der Einladung zu dieser Sitzung steht, verdeckt die Wahrheit. Da am Anfang oft schlaglichtartig der Charakter des Ganzen sichtbar wird, sei dieser Anfang hier kurz in Erinnerung gerufen.
    Es waren SS-Sonderkommandos, die, teils in polnischen Uniformen, teils in Räuberzivil verkleidet, in der Nacht zum 1. September das Zollhaus Hohenlinden und den Sender Gleiwitz überfielen, herumschossen, antrainierte polnische Kommandos brüllten und im Sender einen polnischen Aufruf verlasen. „Konserven", so die zynische Redeweise, wurden von einem SS-Spezialkommando geliefert. Es handelte sich dabei um betäubte KZ-Insassen, die vor Ort erschossen und dann zurückgelassen wurden, um der Weltöffentlichkeit hinterher als polnische Insurgenten präsentiert zu werden. Das war die Eigeninszenierung, auf die hin dann „ab 5.45 Uhr zurückgeschossen wurde".
    Das Detail am Anfang enthüllt den mörderischen Charakter des NS-Regimes, das 1933 von deutschen Wählern und Wählerinnen ins Amt gewählt und im Amt gehalten wurde von der Gesellschaft und ihren Institutionen, die nur teils brutal gleichgeschaltet worden waren, teils aber auch bereit und willig sich selbst gleichgeschaltet hatten. Da ist keine Verharmlosung und keine Relativierung möglich.



    Dr. Lippelt (Hannover)

    Kein Zweiter Weltkrieg brach aus. Ein Eroberungs-
    und Ausrottungskrieg wurde angezettelt. Kein noch so verbrecherischer Hitler-Stalin-Pakt kann die Schuld auf mehrere Schultern verlagern. Zu deutlich waren die Rollen aufgeteilt zwischen dem seinen Kampf planenden deutschen Aggressor und dem die Situation zu eigenen Zwecken ausnutzenden sowjetischen Diktator.
    Mörderisch wie der Anfang war der Verlauf dieses Krieges. Deshalb muß, wer vom 50. Jahrestag jener Aggression spricht, vor allem sprechen von Auschwitz, Chmelno, Majdanek, Treblinka, Belzec und Sobibor, den Stätten des geplanten technisierten Massenmords. Hier vollzog sich als ein Teil unserer Geschichte, an den es zu erinnern gilt, ein Absturz der Menschheit in einen Zustand des Barbarischen, den zu benennen unsere Sprache versagt.
    Der Versuch, das zu historisieren — vor wenigen Jahren von einigen deutschen Historikern unternommen — , läuft auf die Entlastung von politischer Verantwortung der Gesellschaft und des Regimes hinaus. Wir danken dem Bundespräsidenten, daß er dem jüngsten Historikerstreit ein Ende gesetzt hat mit seinem Wort von der Singularität von Auschwitz.
    Aber eine Anstrengung, wie sie die Gruppe „Memorial" heute in der Sowjetunion unternimmt, hat es in der Bundesrepublik nicht gegeben. „Memorial" vergleicht Stalin und den Stalinismus mit Hitler und dem Nationalsozialismus, um die moralische und politische Verantwortung der am System Beteiligten einzuklagen, gerade nicht, um die Betroffenen daraus zu entlassen.
    Von Kollektivschuld kann hier und dort nicht geredet werden. Aber nur von Hitler und seinen nationalsozialistischen Machthabern zu reden, wie es der Bundeskanzler getan hat, geht auch nicht. Treffend bleibt der von Hannah Arendt geprägte Begriff der organisierten Schuld, einer Schuld, in die fast die gesamte Gesellschaft verwickelt wurde.
    Lange bevor die KZs der deutschen Massenvernichtung weit entrückt an den Ostgrenzen Polens errichtet wurden, standen in allen Regionen Deutschlands schon die übrigen KZs. Im Laufe des Krieges erhielt fast jeder größere deutsche Industriestandort seine Außenstelle eines KZ. Viele wußten es, viele sahen es, aber die meisten wollten die Entwürdigung des Mitmenschen nicht wahrhaben.
    Es war die deutsche Chemie, die Zyklon B in die Vernichtungslager lieferte, und es war die Deutsche Reichsbahn, die trotz aller Luftangriffe ihre Transporte von Menschen quer durch Europa in jene Lager abwickelte. Es war — auch das muß gesagt werden — die kämpfende Truppe, die den Vernichtungslagern die Zeitspanne für ihr Morden verschaffte. Auch das muß gesagt werden, bei allem Respekt vor denen, die meinten, dort ihr Vaterland zu verteidigen, und ihr Leben dabei verloren. Die Massenvernichtung war nur die technische Zuspitzung einer brutalen deutschen Besatzungspolitik in Polen und in den eroberten Teilen der Sowjetunion.
    Wer die Universität Warschau heute betritt, steht vor der Gedenktafel der ermordeten Professoren. Denn die deutsche Besatzung begann mit der Verhaftung und Ermordung der Wissenschaftler der polnischen Universitäten und all derer, die das Regime der Intelligenz zurechnete. Die Besatzungspolitik setzte sich fort mit der täglichen Praxis der Versklavung und Deportation der polnischen Bevölkerung zur Zwangsarbeit nach Deutschland.
    Parallel dazu begann die Germanisierung des Bodens: Im sogenannten Wartheland änderte sich durch die Deportation und die Vernichtung von Polen und Juden sowie durch die Ansiedlung von Deutschen das Verhältnis zwischen polnischer und deutscher Einwohnerschaft drastisch.
    Um nur ein Beispiel zu nennen: An der Ostgrenze Polens, im Gebiet um Zamosc wurden mehr als 100 000 polnische und ukrainische Bauern vertrieben, um hier eine deutsche Siedlungsinsel zwischen der Warthe und der zur Besiedlung vorgesehenen Krim zu schaffen. 80 bis 85 % Polen seien nach Sibirien abzuschieben; 15 % galten als eindeutschungsfähig. So Ministerialbürokraten unter der Federführung der SS im Generalplan Ost.
    Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Erlauben Sie mir, ein paar Worte zu dem Raum anzufügen, in dem sich diese menschheitsgeschichtliche Katastrophe vollzog. Jene KZs der Vernichtung und Ausrottung standen in jenem Grenzraum Ostmitteleuropas, der für das deutsche historisch-politische Bewußtsein weit entrückt und relativ konturlos ist und in dem sich doch eine Kultur eigener Prägung entwickelt hat, die Kultur des Zusammenlebens verschiedener Völker, Sprachen und Kulturen.
    Der polnische Nobelpreisträger Czeslaw Milosz hat sie am Beispiel seiner Heimatstadt Wilna beschrieben. Ich zitiere:
    Sie liegt in einem Land der Wälder, Seen und Bäche, wohlgeborgen in einem Talkessel. Der Reisende sieht sie unerwartet hinter dem Wald auftauchen, die Türme von mehreren Dutzend Kirchen, die von italienischen Künstlern im Barockstil erbaut wurden, stechen mit ihrem hellen Weiß und Gold von der Schwärze der Tannen ab ... Rings um dehnt sich eine verträumte Provinz Europas aus, und deren Bewohner, die polnisch-litauisch und weißrussisch oder in einem Gemisch dieser Sprachen redeten, bewahrten viele Sitten und Gewohnheiten, die sonst nirgendsmehr erhalten sind ...
    Italienische Architektur und Naher Osten berührten und mischten sich in Wilna. In den engen Gassen des Judenviertels sah man durch die Fenster Judenfamilien am Freitagabend im Kerzenschein beim Mahle sitzen. In den alten Synagogen ertönten die Worte der hebräischen Propheten. Hier war eines der bedeutendsten Zentren jüdischer Literatur und jüdischer Studien in ganz Europa ...
    Ich spreche
    — so sagt Milosz —
    von der Vergangenheit, denn heute ist diese Stadt meiner Kindheit verschüttet wie Pompeji von der Lava. Die meisten Einwohner wurden von den Nazis hingemordet und von den Russen nach



    Dr. Lippelt (Hannover)

    Sibirien verschleppt oder nach Westen in die von den Deutschen geräumten Plätze überführt.
    Was Milosz hier beschreibt, was andere wie Bruno Schulz aus Drohobycz in Galizien und Günter Grass aus Danzig geschildert haben, hat Johannes Bobrowski in seinen Erinnerungsbildern von Königsberg und Tilsit beschworen: die Nachbarschaft und das Zusammenleben der verschiedensten Sprachen und Kulturen zerstört durch die Nazis.
    Ein weiteres Beispiel, diesmal aus dem südlichen Teil dieses Raumes, der Bukowina mit ihrer Hauptstadt Czernowitz, im 19. Jahrhundert östlichste Provinz der Donaumonarchie mit einem Fünftel jüdischer Einwohner. Dort erreichte Nathan Birnbaum auf der zionistischen Sprachkonferenz 1908, daß Jiddisch neben Hebräisch zur zweiten Nationalsprache des jüdischen Volkes erklärt wurde — Jiddisch, das doch eine eigenständige, eigengeprägte Entwicklung aus dem Mittelhochdeutsch war. Natürlich bezog sich die jüdische Bevölkerung der Bukowina auf den größeren deutschsprachigen Kulturraum.
    Aus dem deutschen Gymnasium in Czernowitz gingen ein Wirtschaftswissenschaftler und ein Dichter hervor, die zu den größten dieses Jahrhunderts gezählt werden müssen: Joseph Schumpeter, dessen Lebensweg über Wien, über deutsche Universitäten in das Exil nach Harvard ging und dessen Bücher nach 1945 zu uns zurückkehrten, und Paul Celan, dessen Tragödie darin bestand, daß er an die Sprache der Mörder seines Volkes gekettet war.
    Herr Präsident, meine Damen und Herren, ich spreche hier über die Katastrophe dieses europäischen Raums Ostmitteleuropa, weil ich denke, daß wir uns von einer nationalstaatlichen und nationalgeschichtlichen Betrachtungsweise lösen müssen.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Eine solche spricht von verlorenen Gebieten Ostdeutschlands, von einem nach Westen verschobenen Polen, von der Sowjetunion als zunächst Opfer einer Aggression, dann aber Gewinner eines Krieges.
    Aber der Raum Ostmitteleuropa hatte eben diese eigene Prägung durch historisch gewachsenes Zusammenleben verschiedener Kulturen, Sprachen und Völker. Sie lebten in einer oft prekären Balance. Aber diese stabilisierte sich doch, unter anderem durch die Minderheitenschutzverträge, die im Anschluß an die Pariser Friedenskonferenz die Alliierten Polen, die Tschechoslowakei, Rumänien zu schließen veranlaßten. Hier entwickelten sich Elemente eines fortschrittlichen Minderheitenrechts.
    Wie wichtig die Entwicklung solcher Kultur des Zusammenlebens auch als Vorbild für andere Regionen gewesen wäre, wird uns heute bewußt, wenn wir uns einsetzen für die türkische Minderheit in Bulgarien, die kurdische in der Türkei, im Irak und Iran. Aber da ist nichts mehr, worauf wir verweisen könnten als Vorbild. Die Kultur dieses Zusammenlebens wurde brutal ausgelöscht.
    Leid kann nicht mit anderem Leid aufgewogen werden, Verbrechen gegen die Menschheit können nicht mit dem Hinweis auf andere Verbrechen relativiert werden. Die Katastrophe Ostdeutschlands, die Leiden
    der Schlesier, der Ostpreußen und Pommern auf der Flucht stehen uns seit den vor 40 Jahren von Theodor Schieder und anderen Historikern gesammelten und jetzt wiederaufgelegten Dokumenten der deutschen Vertreibung eindringlich vor Augen. Aber es dürfen auch nicht Ursache und Wirkung verwechselt werden.
    Der heute vor 50 Jahren von der deutschen Führung in verbrecherischer Absicht begonnene Vernichtungskrieg darf nicht mehr — ich sagte es — von nationalstaatlicher Sicht aus betrachtet werden. Er muß als singuläre Menschheitskatastrophe begriffen werden. Und über sie führt kein Weg zurück zu nationalstaatlichem Gerangel um verlorene Gebiete.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Und gerade weil wir uns anschicken, die engen Grenzen des nationalen zugunsten eines europäischen Bewußtseins zu überwinden, muß uns zuerst und vor allem die Zerstörung Ostmitteleuropas vor Augen stehen.
    Was gilt es 50 Jahre nach dieser Katastrophe zu tun? Welche politischen Aufgaben sind jetzt zu formulieren? „Versöhnung" , so denke ich, ist ein weit über das Politische hinausweisendes Wort. Ich habe Schwierigkeiten, es zu gebrauchen. Johannes Bobrowski spricht von „Nachbarschaft" . Die Selbstverständlichkeit ehrlich gelebter Nachbarschaft wieder neu zu begründen, das allerdings können wir uns wohl vornehmen. Am Anspruch auf Frieden als gelebte Nachbarschaft gemessen, hat allerdings unsere Regierung in diesem Jahre versagt.

    (Frau Schulte [Hameln] [SPD]: Ja! — Frau Oesterle-Schwerin [GRÜNE]: Allerdings!)

    Die 50-DM-Pauschale zur Abschreckung polnischer Touristen, das Ausbleiben der Warschau-Reise des Bundeskanzlers, die erneute Infragestellung der polnischen Westgrenze durch den Finanzminister, die Reaktion des CSU-Generalsekretärs auf die Nichtregistrierung des Kulturvereins der Deutschen in Oppeln, aber auch die Schließung des Polen-Marktes in Berlin, die ja nicht von der Bundesregierung zu verantworten ist, alle diese Reaktionen haben eines gemeinsam: eine beunruhigende Geschichtsvergessenheit.
    Denn wer zum Beispiel von Bayern aus deutsche Minderheitenpolitik in Polen meint treiben zu müssen, der sollte die Tradition kennen, in der solche Politik steht. Sie beginnt mit der Germanisierungspolitik der preußischen Regierung Ende des 19. Jahrhunderts, wurde fortgesetzt in der von nationalistischen Vorbehalten gegen den polnischen Staat getragenen Politik der Weimarer Republik und mündete in den Mißbrauch der Minderheiten durch das faschistische Deutschland zum Schüren der Vorkriegsstimmung. Diese Vorgeschichte erklärt, warum das wiedererstandene Polen nach 1945 nur noch „deutschstämmige" Polen akzeptieren wollte und keine organisierte Minderheit wieder. Auch über diese Fragen — das sei hinzugefügt — mag in Zukunft wieder gesprochen werden können, aber doch erst dann, wenn



    Dr. Lippelt (Hannover)

    kein Minister einer deutschen Regierung die Grenzfrage weiterhin für offen erklärt.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Dagegen scheinen sich die deutsche Diplomatie und die Bundesregierung die Frage kaum gestellt zu haben, wie denn nach dem grundlegenden Vertrag von 1970, dessen Abschluß das historische Verdienst von, vor allen anderen, Willy Brandt ist, nun in der Praxis die deutsch-polnischen Beziehungen zu gestalten seien. Es ist ihnen nichts Besseres eingefallen, als bruchlos bei der Polenpolitik der Weimarer Republik anzuknüpfen. Offenhalten der Grenzfrage, Minderheitenfrage, Ausnutzung von Finanz- und Währungsschwierigkeiten bestimmten nämlich auch damals das Bild einer von deutschnationalem Ressentiment diktierten Politik gegenüber Polen. Sie war dadurch gekennzeichnet, daß Stresemann auf dem Höhepunkt seiner politischen Erfolge mit Locarno und dem Eintritt Deutschlands in den Völkerbund eben gerade Polen die Anerkennung seiner Westgrenzen verweigerte. Das von polnischer Seite geforderte Ost-Locarno fand nicht statt. Das Verhältnis Deutschlands zu Polen war nie als Verhältnis zwischen Gleichberechtigten gedacht, sondern immer von der Arroganz dessen bestimmt, der sich auf Dauer stärker fühlte.
    Deshalb brauchen wir heute ein politisches Verhalten gegenüber Polen und gegenüber den Reformbewegungen in Osteuropa, das mit den überkommenen Mustern völlig bricht und dem historischen Moment gerecht wird. Wir brauchen eine Politik, die davon ausgeht, daß Osteuropa für die Entwicklung eines ganzen Europa nicht weniger bedeutsam ist als Westeuropa.
    Wir brauchen eine radikale Friedenspolitik, die die Mittel, die bisher zur Aufrechterhaltung der militärischen Abschreckung vergeudet wurden, für die Gestaltung einer gemeinsamen europäischen Zukunft freisetzt. Zur gemeinsamen Sicherheit bedarf es nicht mehr der militärischen, sondern der politischen Stabilisierung und der Stabilisierung des ökologischen Gleichgewichts. Solches Umdenken ist jetzt möglich geworden.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Denn in Polen, das sich 1791 als erstes europäisches Land eine Verfassung schrieb, welche die Prinzipien der Gewaltenteilung und der religiösen Toleranz verankerte, wurde in den letzten Jahren Demokratie von unten beginnend wieder erstritten. Zum 200. Jubiläum der Französischen Revolution hat diese Bewegung dem Gedanken der Demokratie weltweit neue Legitimation verliehen. Wir wollen Lech Walesa und Tadeusz Mazowiecki stellvertretend für die gesamte demokratische Bewegung hier nicht nur beglückwünschen. Wir müssen und können auch zu ihrem weiteren Erfolg beitragen. Wie dies geschehen könnte, will ich skizzieren, wenn auch sehr unvollkommen.
    Erstens. Es darf gegenüber Polen keine offen gehaltenen Grenzfragen mehr geben.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Wer sich gegen eine solch klare politische Haltung auf
    den verfassungsrechtlichen Vorbehalt der endgültigen Regelung durch einen Friedensvertrag beruft,
    steht in der Pflicht, mit allem Nachdruck auf einen Friedensvertrag zu drängen und dieses Thema sofort auf die Tagesordnung der nächsten KSZE-Konferenz zu setzen. Sonst, Herr Dregger, wird Ihr permanenter Hinweis auf den Friedensvertrag nur als eine peinliche Ausflucht eines verkappten Revanchismus verstanden.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Freiheit kann sich nur in anerkannten Grenzen verwirklichen. Freiheit vor Grenzen erhärtet genau den Verdacht, daß Grenzen von zweitrangiger Wichtigkeit wären.
    Wir sind dem Bundespräsidenten dafür dankbar, daß er die polnische Westgrenze in seiner Botschaft an den Staatspräsidenten Jaruzelski nochmals bestätigt hat. Heute stünde es dem Bundestag gut an, durch eine Resolution, die wir eingebracht haben, diese Geste aufzunehmen.
    Daß wir das hohe Amt des Bundespräsidenten auf diese Weise in die tagespolitische Auseinandersetzung zögen, vermögen wir nicht zu erkennen. Denn hier geht es nicht um Tagespolitik, sondern um ein diesem Jahrestag wie der historischen Situation angemessenes Zeichen der gewählten Abgeordneten unserer Demokratie. Der polnische Staatspräsident hat durch seinen Sprecher auf die Botschaft geantwortet, jetzt müßten erst Taten folgen. Der Bundestag wäre heute eigentlich dazu aufgerufen.

    (Dr. Ehmke [Bonn] [SPD]: Richtig!)

    Zweitens. Wir sollten das von der Gewerkschaft Solidarität vorgeschlagene Reformprogramm nachdrücklich unterstützen und die erhofften Hilfestellungen geben. Denn so richtig es ist, daß die tiefe polnische Wirtschafts- und Finanzkrise das Fiasko des Systems zentraler Planwirtschaft darstellt, richtig ist auch, daß Polen auch heute noch unter den Folgen der Zerstörung seiner Gesellschaft unter deutscher Besatzung leidet. Eine ganze Generation liquidierter Intelligenz ist nicht so schnell zu ersetzen.
    Drittens. Zumindest eine zivilrechtliche Entschädigung für Deportation und Zwangsarbeit kann von diesem Bundestag im nächsten Haushalt endlich beschlossen werden. Die GRÜNEN fordern das seit langem.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Viertens. Der Kapitaldienst für die polnischen Altkredite sollte in großem Maße umgeleitet werden in Umweltfonds, die im Lande stehenbleiben, die aber von Umweltverbänden grenzübergreifend verwaltet werden. Denn auch die Umweltprobleme sind grenzübergreifend.
    Fünftens. Man sage nicht, all dies sei nicht finanzierbar. In den nächsten Monaten möchte die Bundesregierung vom Bundestag einen Militärhaushalt von 55 Milliarden beschlossen haben. Ohne jetzt in eine Rüstungskontroll- und Abrüstungsdebatte einzutreten, das Prinzip ist doch nicht zu bestreiten: Jede dort gekürzte Milliarde, in dem hier vorgeschlagenen Sinne ausgegeben, bringt ein Vielfaches an politi-



    Dr. Lippelt (Hannover)

    scher Stabilität. Und diese Ausgaben setzen sich auch nicht jedes Jahr fort wie die Militärausgaben.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)

    Sechstens. Sich solcherart aus überholten Militärdoktrinen zu lösen, wäre ein Beitrag zum Frieden. Ganz nutzen können wir die bestehenden Friedensmöglichkeiten aber nur dann, wenn wir selber das Vertrauen der anderen in unsere Friedensfähigkeit stärken. Angesichts einer Militärtechnik, die immer mehr auf Waffen des „dual use" setzt, ist eine Verankerung des Atomwaffenverzichts im Grundgesetz notwendig. Meine Fraktion hat deshalb mit dem Datum des 1. September 1989 einen Formulierungsvorschlag für einen entsprechenden Artikel des Grundgesetzes eingebracht. Auch das würde ja zu Ehrlichkeit im nachbarschaftlichen Verhältnis verhelfen.
    Siebtens. Angesichts dessen, was der Bundesregierung in diesem Jahr gelang, nämlich der Gorbatschow-Besuch, und dessen, worin sie so sehr versagte, dem nicht zustande gekommenen WarschauBesuch, muß auch ganz klar sein, daß Polenpolitik immer eingebettet sein muß in eine allgemeine Politik gegenüber den osteuropäischen Staaten, insbesondere der Sowjetunion. Aber es gilt auch umgekehrt: Es darf keine privilegierte Entwicklung der deutschsowjetischen Beziehungen ohne gleichzeitige Entwicklung der deutsch-polnischen geben. Rapallo — damit möchte ich schließen — muß endgültig aus dem Vorrat politischer Ideen in Deutschland gestrichen werden.

    (Beifall bei den GRÜNEN und der SPD)



Rede von Richard Stücklen
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CSU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CSU)
Das Wort hat der Herr Abgeordnete Graf Lambsdorff.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Graf Otto Lambsdorff


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (FDP)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (FDP)

    Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! Herr Kollege Brandt hat vorhin schon daran erinnert: Als heute vor 50 Jahren deutsche Soldaten in Polen einmarschierten, als Hitler das größte Völkermorden der Weltgeschichte begann, da gab es im Deutschen Reich keine Kriegsbegeisterung, es gab aber auch nicht sehr viel Widerspruch. Alle Zeitzeugen stimmen wohl mit dem überein, was Ulrich von Hassell am 1. September 1939 in sein Tagebuch schrieb: „Auf der Straße wenig Menschen, nur offizielle Begeisterung der Absperrung. " — Tatsächlich: Die Deutschen waren in ihrer Mehrheit, in ihrer großen Mehrheit bedrückt, der Jubel blieb aus. Die Mächtigen sahen es voller Enttäuschung.
    Ich sage das hier nicht, um unser Volk, um die Deutschen jener Jahre von aller Mitverantwortung für das zu befreien, was damals schon an Schrecklichem geschehen war und sich nun noch viel schrecklicher fortsetzen sollte. Denn es ist auch wahr, es ist leider wahr, was ein anderer über den Kriegsausbruch 1939 geschrieben hat:
    Selbst wenn die Deutschen den Lügen ihrer Führer nicht geglaubt hätten,
    — so Golo Mann —
    sie hätten trotzdem gehorcht und jeder die ihm angewiesene Arbeit getan. Dahin war es nach sechs Jahren immer tiefer krallender Nazi-Herrschaft gekommen: Ein einziger konnte befehlen,
    was er wollte, 75 Millionen Menschen folgten nach, sie gehorchten ohne Freude, sie glaubten ohne Freude.
    Soweit Golo Mann.
    Die Zustandsbeschreibung ist deprimierend. Sie ist besonders deprimierend für alle von uns, die das bewußt miterlebt haben. Ich selber gehöre dazu und habe es nicht vergessen, auch nicht, wie sich fehlende Freude bei vielen doch noch ein Jahr später einstellte, als Frankreich besiegt zu sein schien. Wie alle Erfolge der Nazis war auch dies nur ein Scheinerfolg, und er führte uns, er führte Europa, er führte die Welt Jahr für Jahr in immer tiefere Katastrophen.
    Aber dies, so meine ich, müssen wir an diesem Tag in aller Nüchternheit sagen: Nicht das Jahr 1945 brachte die Katastrophe, wie so oft gesagt worden ist. Sie hatte bei uns schon zwölf Jahre vorher eingesetzt. Für fast alle Völker dieses Kontinents zog sie an dem Tage herauf, an den wir uns heute erinnern.
    Viele Deutsche haben es damals geahnt, heute vor 50 Jahren. Aber das ganze Ausmaß dessen, was nun in deutschem Namen seinen Anfang nahm, haben sich nur die allerwenigsten vorstellen können; auch die wenigen nicht, die sich nun erst recht zum Widerstand aufgerufen sahen. Auch ihrer müssen und wollen wir heute gedenken. Denn aus welchen Lagern sie auch kamen, sie waren die Vorbilder, auf die sich Deutschland moralisch berufen konnte, als sechs Jahre danach ein neuer Beginn, ein anderer Beginn versucht wurde.
    Wir sollten an diesem Tage sehen: Die immer wieder erhobene Frage: Wie konnte es geschehen? ist keine Frage, die an den 1. September 1939 anknüpfen kann. Sie gehört zu einem früheren Datum, zum 30. Januar 1933.

    (Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der GRÜNEN)

    Der Beginn des Zweiten Weltkrieges war die ebenso brutale wie folgerichtige Konsequenz einer Gewaltpolitik, die mit der Verfolgung und Ermordung von politisch Andersdenkenden und mit Judenpogromen begonnen hatte und mit der Einverleibung Osterreichs unter dem Deckmantel einer Heim-insReich-Bewegung sowie der Annexion der Tschechoslowakei noch lange nicht befriedigt war. Diese Politik, wenn man sie denn so bezeichnen will, war nie zu befriedigen, nur — wie Herr Brandt gesagt hat — durch allseitige Kapitulation.
    Jeder, der es nur gewollt hätte, hätte es nachlesen und also wissen können. Hitler hatte niemanden über seine Pläne im unklaren gelassen. Zu lange hatte man es nicht wissen und nicht glauben wollen, nicht in Deutschland und auch nicht in den beschwichtigenden Demokratien Westeuropas. Ich schiebe nichts auf andere ab, wenn ich darauf hinweise.
    Anders als über die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg — der Herr Bundeskanzler hat es in seiner Regierungserklärung gesagt — hat es nie — und zu Recht — eine ernstzunehmende Historikerdebatte über die Schuld am Kriegsausbruch 1939 gegeben. Nicht nur die deutsche Generation, die damals er-



    Dr. Graf Lambsdorff
    wachsen war, auch die Nachgeborenen müssen damit leben. Es war allein deutsche Schuld und deutsche Verantwortung. Daran ändert auch die Tatsache nichts, daß erst der Hitler-Stalin-Pakt den Weg zum Kriegsbeginn am 1. September 1939 frei machte.
    Wir kennen den Ausgang: über 50 Millionen Tote, gefallen, ermordet, erschlagen, auf Schlachtfeldern, in Konzentrationslagern, in Bombenangriffen, schließlich bei der Vertreibung umgekommen; ein zerstörtes Europa, ein geteiltes Europa, das gerade jetzt in Ansätzen versucht, auch ideologische und machtpolitische Grenzen zu überwinden, die damals geschaffen wurden; ein verwüstetes, geteiltes und amputiertes Deutschland und das schauerliche Wissen um Grausamkeiten, die im deutschen Namen an anderen begangen wurden.
    Niemand von uns, der die Namen Auschwitz oder Majdanek hört, kann so weiterleben, als ob dies alles nicht geschehen wäre. Dieser Krieg und das, was in ihm geschehen ist, hat nicht nur das Bewußtsein meiner Generation und der noch Älteren für immer geprägt.
    Keiner — auch das sei gesagt — kann immer nur an das Schreckliche denken. Aber bewußt oder unbewußt läßt diese Zeit unserer Geschichte auch die Nachdenklichen unter denen nicht in Ruhe, die selber nichts mehr davon gespürt haben. Der Frieden, der Wohlstand, die politische Freiheit, die äußere Unbeschwertheit werden dann nicht mehr als Selbstverständlichkeit empfunden, sondern als ein kostbares Geschenk, das nicht vom Himmel gefallen ist, für das man arbeiten, das man täglich neu erwerben, das man verteidigen muß.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

    Polen war das erste Opfer jenes Krieges. Es ist vielleicht das am schwersten getroffene geblieben. Ich habe hier keine Geschichte zu rekapitulieren. Aber immer noch gellt mir die Stimme des Diktators über das Radio ins Ohr, als er seinem sogenannten Reichstag vor 50 Jahren verkündete, nun werde zurückgeschossen. Sie haben recht, Herr Lippelt: Schon das eine Lüge am ersten Tag eines Krieges, in dem allein 6 Millionen Polen, davon 5 Millionen Zivilisten, ums Leben gebracht wurden. Wir wissen heute, daß diesem Einmarsch deutscher Soldaten, denen die Vernichtungskommandos der SS auf dem Fuß folgten, ein zynischer, ein hinterhältiger Pakt zweier Gewaltherrscher vorausgegangen war, der das kleine Land zum vierten Mal zerteilte und sein Schicksal für immer zu besiegeln schien.
    Es ist gut, daß darüber heute offen auch in der Sowjetunion gesprochen wird. Geschichtliche Verantwortlichkeit ist unteilbar. Erst dort, wo man sich zu ihr bekennt, wird der Grund gelegt, aus der Geschichte zu lernen, die richtigen Konsequenzen zu ziehen, aus Trauer und Scham etwas Neues aufzubauen. Vielleicht geschieht das nun auch in der Sowjetunion, die es als eine Siegermacht des Krieges, als eine Weltmacht damit sicher viel schwerer hat als wir. Ich habe hohen Respekt vor diesem Prozeß der Selbstbesinnung in einem Land, das nicht nach einem verlorenen
    Krieg von außen zur Selbstbesinnung gezwungen wird.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    In der Bundesrepublik haben wir uns darum bemüht. Wir haben gezeigt, daß man aus der Vergangenheit lernen kann — vielleicht, Herr Brandt, nicht genug; aber etwas doch. Freilich darf das Bemühen darum nicht aufhören, auch nicht die politische Auseinandersetzung mit denen, die niemals etwas lernen wollen. Es ist beschämend, daß es heute wieder Anlaß zu solcher Bemerkung gibt, zum Hinweis auf eine Gruppierung, deren Anwesenheit in unseren Parlamenten Liberale bedrückt.
    Und ich sage auch: Ich habe nicht überhört, Herr Brandt, daß Sie gesagt haben: „Nicht mit Kanonen schießen und vor allem keine Konzessionen machen; die angebräunten Spatzen." — Das klingt mir zu harmlos. Man hört überall, das gebe es doch in allen westlichen Demokratien und allen Parlamenten. Ich sage aus meiner Überzeugung: Das mag und darf es vielleicht überall geben — aber nicht bei uns in der Bundesrepublik Deutschland.

    (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und den GRÜNEN)

    Ich weiß, daß diese Überzeugung ad absurdum geführt werden kann — leider.
    Herr Präsident, meine Damen und Herren, Hugo von Hofmannsthal hat 1912 in einem gänzlich anderen Zusammenhang eine Zeile geschrieben, die mich oft beschäftigt hat. Sie lautet: „Wir trauen nicht den Schlachten, die wir schlagen." Von solchem Gefühl waren manche deutsche Soldaten wohl bereits in Polen ergriffen, als sie merkten, für wen und für was sie sich schlugen. Es gibt bewegende Zeugnisse dafür. Und später, als der Eroberungswahn bis nach Moskau und darüber hinaus greifen wollte, haben immer mehr erfaßt, was ihnen befohlen wurde. Sie haben diese Schlachten eben dennoch geschlagen, bis zum bitteren Ende.
    Ich selber habe — wenn Sie diese persönliche Bemerkung erlauben — noch bis zum auch für mich persönlich bitteren Ende mitgekämpft. Wir gingen mit 17 Jahren freiwillig in diesen Krieg, der doch schon verloren war und der für uns verlorengehen mußte, wenn die richtige Sache gewinnen sollte.
    Warum, so habe ich mich oft gefragt — und nicht ich allein, sondern mit vielen Freunden aus damaliger Zeit zusammen — , haben wir uns damals so und nicht anders verhalten? Warum war der Widerstand nur bei so wenigen? Es waren doch keine fanatischen Nationalsozialisten, die sich zu Millionen opfern ließen. Die meisten taten es sicher, weil sie gar nicht anders konnten. Aber das war es wohl längst nicht allein.
    Millionen haben mitgeholfen, die Existenz jenes pervertierten Reiches zu verlängern, und zwar in dem für frühere Generationen, aber eben unter ganz anderen Verhältnissen selbstverständlichen Glauben, es gehe darum, Deutschland vor seinen Feinden schützen zu müssen — trotz Hitler. So haben viele damals gedacht, obwohl die wirklichen Feinde Deutschlands



    Dr. Graf Lambsdorff
    in Deutschland selber saßen und den Krieg nicht beenden wollten, weil das ihr eigenes Ende bedeutete.
    Nach 1945 hat es jeder verstanden, nach und nach wenigstens; damals nur sehr wenige.
    Um so größer ist unser Respekt vor denen, die das Richtige zur rechten Zeit taten. Die Namen derer, die sich auflehnten, haben Bestand und bleiben in unserer dankbaren Erinnerung. Die Namen der Feldmarschälle jenes unseligen Mannes sind, anders als sonst in deutscher Vergangenheit, fast alle vergangen und verweht. Und Stalingrad ist vielleicht der Schlachtenname des Zweiten Weltkrieges, der jedem Deutschen etwas bedeutet — ein Symbol für den Untergang des Reiches, aber auch für den Untergang des Frevlers.
    50 Jahre nach Kriegsbeginn, 40 Jahre nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland sind neue Generationen herangewachsen. Sie können den düstersten Abschnitt deutscher Geschichte nur schwer begreifen. Wir, die wir ihn erlebt haben, können Erklärungen anbieten; Entschuldigungen nicht: Und selbst jede Erklärung versagt vor den Untaten, die damals verübt worden sind.
    Bei allen Unvollkommenheiten dessen, was seither in der Bundesrepublik Deutschland geschehen ist, dürfen wir aber sagen: Es gibt wohl ein paar Unverbesserliche, aber nichts verbindet diesen Staat mehr mit jener Zeit vor 50 Jahren, außer mahnender Erinnerung.
    Es kommt nicht so sehr darauf an, ob der eine von uns die kollektive, der andere die individualistische Komponente in unserer Gesellschaftsordnung gern stärker ausgebaut sähe. Das sind gewiß wichtige Fragen, aber sie berühren nicht die moralische Qualität unseres Staates.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)

    Viel entscheidender ist, daß die Bundesrepublik Deutschland seit ihrem Bestehen dafür gearbeitet hat, ein guter Nachbar zu werden und zu sein, nach Osten und nach Westen. Im westlichen Bündnis haben wir über 40 Jahre Frieden in Europa mit bewahrt und mit gesichert. Wir haben das Vertrauen nicht enttäuscht, das die einstigen Kriegsgegner dem besiegten Volk entgegenbrachten. Wir werden es auch künftig nicht enttäuschen.
    Und im Osten weiß man, wie sehr diese Bundesrepublik zur Verständigung zwischen den Blöcken und den Bündnissen beigetragen hat, nicht erst seit dem Beginn dieses Jahrzehnts.
    Bei aller gerechtfertigten oder ungerechtfertigten Kritik im einzelnen: Die Bundesrepublik ist der freiheitlichste, der sozialste, der mit dem höchsten Wohlstand bedachte Staat, der je auf deutschem Boden existiert hat. Wir wollen uns anstrengen, daß es dabei bleibt.
    Dazu, wie es heute ist, gehört freilich auch die fortwährende Teilung des Landes, gehören die Unfreiheit und miserablen Lebensbedingungen der Deutschen in der DDR. Sie sind in diesen Wochen auf dramatische Weise wieder in unser Bewußtsein gerückt worden. Wie gerne würden wir helfen, wenn wir es nur könnten.
    Es liegt nicht in der Macht der Bundesrepublik, die Verhältnisse in der DDR zu ändern. Es liegt in der Macht der Verantwortlichen dort, und sie rühren sich nicht. Dabei verkennen wir nicht die Fortschritte in den innerdeutschen Beziehungen, die in den vergangenen Jahren erzielt wurden; den gestiegenen Reiseverkehr auch in westliche Richtung, den Kulturaustausch, die Wissenschaftlerkontakte und erste Zusammenarbeit im Umweltschutz. Da ist viel geschehen, nicht gegen die Regierung der DDR, sondern mit ihr zusammen und für Deutsche in Ost und West.
    Aber dies ändert nichts daran, daß scheibchenweise gereichte Erleichterungen eben nicht ausreichen, daß der Ruf nach mehr Freiheit gerade unter jungen Menschen nicht verstummt, unter solchen jungen Menschen, die Freiheit selber noch nie gekannt haben. Die Führung der SED scheint heute nicht bereit zu sein, solche Hoffnungen zu erfüllen.
    Wir müssen in aller Nüchternheit sagen, so schmerzlich und so unbefriedigend es ist: Auch die Bundesregierung, auch dieses Parlament werden an diesen Zuständen in der DDR nichts ändern können. Was wir können und was wir tun ist die beständige Aufforderung an die Verantwortlichen in der DDR, sich endlich auf den Gezeitenwechsel einzustellen, der längst ihre Verbündeten in Osteuropa erfaßt hat. Wir raten dem SED-Politbüro dringend, nach Moskau, nach Warschau und nach Budapest zu sehen und sich nicht länger dem Wind der Veränderungen zu verschließen, der von dort in den östlichen Teil Deutschlands weht. Ein Land wie die DDR wird nicht immer abseits stehen können, wenn ringsherum die Welt in Bewegung gerät.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD und der GRÜNEN)

    Was wir tun können und was wir tun müssen, ist eine tatkräftigere Unterstützung, auch ökonomische Unterstützung, aufgeschlossener Politik in Osteuropa, damit Reformbemühungen dort wirklich dauerhaften Erfolg haben. Das gilt zu allererst für Polen, das unsere Hilfe wie kein anderes Land auf diesem Kontinent braucht.
    Gerade heute muß es gesagt werden: Wir wissen, daß unser Verhältnis zu Polen eine besondere Qualität hat und eine besondere Sensibilität erfordert. Beide Völker haben sich vor und nach 1939 Schlimmes angetan; aber keiner sollte mehr aufrechnen, niemand eine gespenstische Diskussion über polnische Westgrenzen führen. Deutsche und polnische Katholiken haben in ihrer gemeinsamen Erklärung vom 8. August dieses Jahres dafür erneut ein richtiges Zeichen gesetzt.

    (Beifall bei FDP, der CDU/CSU, der SPD und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Der Brief des Bundespräsidenten an den polnischen Staatspräsidenten bringt eine Auffassung so eindrucksvoll zum Ausdruck, wie ich sie für meine
    Deutscher Bundestag — 11 Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. September 1989 11647
    Dr. Graf Lambsdorff
    Freunde, für die FDP, hier heute nicht besser formulieren könnte.

    (Beifall bei der FDP, der SPD und bei Abgeordneten der CDU/CSU und der GRÜNEN)

    Aber, meine Damen und Herren, ich sage auch: Für jeden Ostpreußen, für jeden Schlesier, für jeden Pommern, aber doch auch für jeden Deutschen ist das eine schmerzliche Feststellung.

    (Dr. Vogel [SPD]: Richtig!)

    Wer aber die nach dem Zweiten Weltkrieg in Europa entstandenen Grenzen in Frage stellt, der stellt den Frieden in Europa in Frage. Das darf nicht sein!

    (Beifall bei der FDP und der SPD)

    Lassen Sie mich eine persönliche Bemerkung einflechten, die von meinen Freunden geteilt wird: Ich finde es der Würde dieses Tages, der Würde dieser Veranstaltung und dieser Diskussion nicht angemessen, daß wir um Entschließungen rangeln. Wir hätten auf Entschließungen verzichten sollen.

    (Lebhafter Beifall bei der FDP und der CDU/ CSU)

    Herr Präsident, meine Damen und Herren! Wir bitten um Versöhnung. Polen hilft auch uns, hilft unseren Bemühungen um mehr Freiheit überall, wenn es seinen Weg der Reformen weitergehen kann. Die Bundesregierung darf das nicht geringschätzen, wenn sie die materielle Unterstützung Polens beschließt.
    Solange in der DDR nicht mehr Freiheit einzieht, werden auch wir nicht sagen dürfen: Wir hätten in Deutschland die Folgen des Krieges, der vor 50 Jahren begonnen hat, überwunden; denn so lange haben wir Deutschen sie nicht überwunden, solange gilt das, was Herr Brandt angedeutet hat, daß die eine Hälfte der Deutschen den Krieg verloren hat und die andere offensichtlich nicht. Wir setzen auf Freiheit auch dort, und wir lassen auch nicht ab, Herr Lippelt, von der nationalen Einheit unseres Volkes.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und bei Abgeordneten der SPD)

    In diesen 50 Jahren ist Deutschland, ist Europa um- und umgepflügt worden. Zwischen dem Rhein und dem Baltikum ist nichts mehr wie es damals war. Der Verursacher des Zweiten Weltkriegs hat der Sowjetunion den Weg bis zur Elbe geöffnet und Ost- und Mitteleuropa so in eine Gesellschaftsordnung gezwungen, die jahrzehntelang mit Stalinismus identifiziert werden mußte. Deutsche haben das auch im eigenen Lande hinnehmen und ertragen müssen. Deshalb haben wir uns in der Bundesrepublik mit unserer Vertragspolitik bemüht, die schlimmsten Auswirkungen der europäischen, der deutschen Teilung zu mildern. Jetzt, seit ein paar Jahren sprechen alle Anzeichen dafür, daß sich das Gesicht Europas ein weiteres Mal und auf friedliche Weise verändern könnte. Im Westen, in der Europäischen Gemeinschaft, die wir wollen und zu der wir untrennbar gehören, fallen die Grenzen. Der Osten gerät in Bewegungen. Wer hätte vor fünf Jahren auch nur davon geträumt, was wir heute täglich mit erregter Anteilnahme in der UdSSR, in Polen und in Ungarn verfolgen?
    Beide Seiten rücken einander näher. Vielleicht geht die Nachkriegszeit nun wirklich zu Ende, auch für die Deutschen in beiden Teilen der Nation. Nur ein freies, nur ein friedliches Europa wird uns unser nationales Ziel erreichen lassen: Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland.

    (Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und der SPD)