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    Plenarprotokoll 11/154 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 154. Sitzung Bonn, Freitag, den 1. September 1989 Inhalt: Nachruf auf den früheren Bundesminister und langjährigen Vorsitzenden der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion Dr. Heinrich Krone 11625 A Glückwünsche zu den Geburtstagen des Abg. Kalisch, Frau Dr. Timm, Grüner, Dr. Stark (Nürtingen), Leonhart, Schulze (Berlin) und des Vizepräsidenten Stücklen 11625 D Gedenkworte der Präsidentin zum 50. Jahrestag des Zweiten Weltkrieges; Begrüßung polnischer Gäste und des Bundespräsidenten 11626 A, B Tagesordnungspunkt: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung aus Anlaß des 50. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges Dr. Kohl, Bundeskanzler 11626 C Brandt SPD 11633 A Dr. Dregger CDU/CSU 11637 A Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 11640 C Dr. Graf Lambsdorff FDP 11644 B Wüppesahl fraktionslos 11647 C Jahn SPD (Erklärung nach § 31 GO) 11649 B Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 11649 C Namentliche Abstimmung 11650 A Nächste Sitzung 11651 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 11653 A Anlage 2 Schriftliche Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Hirsch und Dr. -Ing. Laermann (alle FDP) zur Abstimmung über die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 11/5114 und 5117 11653* D Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Seesing (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5114 11654* A Deutscher Bundestag — l 1. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. September 1989 11625 154. Sitzung Bonn, den 1. September 1989 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 01. 09. 89 * Frau Beer DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Frau Berger (Berlin) CDU/CSU 01. 09. 89 Böhm (Melsungen) CDU/CSU 01. 09. 89 Börnsen (Ritterhude) SPD 01. 09. 89 Dr. Briefs DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 01. 09. 89 * Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU 01. 09. 89 Clemens CDU/CSU 01.09.89 Frau Conrad SPD 01. 09. 89 Dr. Daniels (Regensburg) DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Frau Fischer CDU/CSU 01. 09. 89 Frau Fuchs (Verl) SPD 01. 09. 89 Frau Garbe DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Gattermann FDP 01.09.89 Genscher FDP 01.09.89 Graf SPD 01.09.89 Haack (Extertal) SPD 01. 09. 89 Frhr. Heereman von CDU/CSU 01. 09. 89 Zuydtwyck Heimann SPD 01.09.89 Frau Hensel DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Hoss DIE 01.09.89 GRÜNEN Frau Hürland-Büning CDU/CSU 01. 09. 89 Hüser DIE 01.09.89 GRÜNEN Jaunich SPD 01.09.89 Jungmann (Wittmoldt) SPD 01. 09. 89 Frau Kelly DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Klein (Dieburg) SPD 01. 09. 89 Klose SPD 01.09.89 Kretkowski SPD 01.09.89 Kroll-Schlüter CDU/CSU 01.09.89 Leonhart SPD 01.09.89 Lüder FDP 01.09.89 Maaß CDU/CSU 01.09.89 Meyer SPD 01.09.89 Möllemann FDP 01.09.89 Dr. Müller CDU/CSU 01. 09. 89 * Frau Nickels DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Niegel CDU/CSU 01. 09. 89 * Dr. Nöbel SPD 01. 09. 89 Pfuhl SPD 01. 09. 89 * Dr. Pick SPD 01. 09. 89 Regenspurger CDU/CSU 01.09.89 Reuschenbach SPD 01.09.89 Dr. Rüttgers CDU/CSU 01. 09. 89 Frau Saibold DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Dr. Scheer SPD 01. 09. 89 Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Frau Schilling DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Dr. Schöfberger SPD 01. 09. 89 Seehofer CDU/CSU 01.09.89 Stobbe SPD 01.09.89 Stratmann DIE 01.09.89 GRÜNEN Such DIE 01.09.89 GRÜNEN Frau Terborg SPD 01. 09. 89 Tietjen SPD 01.09.89 Dr. Todenhöfer CDU/CSU 01. 09. 89 Uldall CDU/CSU 01.09.89 Vogt (Düren) CDU/CSU 01. 09. 89 Voigt (Frankfurt) SPD 01. 09. 89 Frau Dr. Vollmer DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Vosen SPD 01.09.89 Frau Walz FDP 01. 09. 89 Wartenberg (Berlin) SPD 01. 09. 89 Dr. von Wartenberg CDU/CSU 01. 09. 89 Westphal SPD 01.09.89 Dr. Wieczorek SPD 01. 09. 89 Frau Wilms-Kegel DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Wissmann CDU/CSU 01.09.89 Frau Würfel FDP 01. 09. 89 Zierer CDU/CSU 01.09.89 Dr. Zimmermann CDU/CSU 01. 09. 89 * tür die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Schriftliche Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Hirsch und Dr.-Ing. Laermann (alle FDP) zur Abstimmung über die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 11/5114 und 11/5117 Die Unterzeichner werden keinem der beiden Entschließungsanträge zustimmen, weil sie damit ihr Bedauern zum Ausdruck bringen wollen, daß es anläßlich des Gedenkens an den 1. September 1939 nicht gelungen ist, eine gemeinsame Erklärung aller Fraktionen zu verabschieden. Dann hätte lieber auf Entschließungen ganz verzichtet werden sollen. 11654 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. September 1989 Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Seesing (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entschliefungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5114 Die Bundesrepublik Deutschland kann und darf keine Gebietsansprüche gegen die Volksrepublik Polen erheben. Die Grenzen eines wiedervereinigten Deutschlands mit Polen werden aber erst in einer Friedensordnung festgelegt, die die Teilung Europas beendet. Dabei geht es darum, das friedfertige Zusammenleben des deutschen und des polnischen Volkes auf immer zu sichern. Ich befürchte, daß der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/5114 diesem Ziel nicht dient, sondern die Konfrontation zwischen Menschen unterschiedlicher Auffassung fördern soll. Er könnte mehr Unfrieden als Frieden schaffen. Deswegen muß ich diesen Antrag ablehnen.
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    Rede von Willy Brandt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht ist es zuviel verlangt, sollte einem zu den schwierigen Daten unserer jüngeren Geschichte immer noch Neues einfallen. Das Feld ist einigermaßen abgeschritten. Dabei wäre es verwunderlich — verwunderlich und bedenklich zugleich —, wenn es nicht über weite Strecken Übereinstimmung mit dem gäbe, was der Bundeskanzler hier vorgetragen hat. Vielleicht kommt es nicht immer auf neue Deutungen dessen an, was hinter uns liegt. Es gibt ja wohl Wahrheiten und Einsichten, die nicht oft genug in Erinnerung gerufen werden können, dies gerade in einem Zeitabschnitt, in dem sich zwischen den Teilen Europas so viel ändert, wie wir es gegenwärtig erleben.
    Ich finde es im ganzen ermutigend, daß bei allem sonstigen Wandel jenes doppelte Nein lebendig geblieben ist, das uns Ältere zusammenführte, als nach 1945 unser staatliches Notdach zu errichten war. Ich meine mit dem doppelten Nein das „Nie wieder" zu deutscher Schuld an Überfällen, kriegerischer Verwüstung oder gar Völkermord und das andere „Nie wieder" zur Knebelung des eigenen Volkes und zu dessen Selbstentmündigung. Das Versprechen und die Entschlossenheit — übrigens gemeinsam mit für die DDR-Verantwortlichen bekundet, von mir selbst in Erfurt mit dem Ministerratsvorsitzenden der DDR —, von deutschem Boden nie mehr Krieg ausgehen zu lassen, sollten richtig verstanden werden, nämlich als Ausdruck eines geläuterten Friedenswillens. Doch wir sollten uns auch dabei nicht überschätzen. Die anderen würden sich wohl zu schützen wissen, sollte in der Mitte Europas noch einmal jemand auf extreme Weise verrückt spielen wollen.
    Es läßt sich verstehen, meine Damen und Herren, daß nachwachsende Generationen auch bei uns mit Tagen, die an nationale Schande und europäisches Unglück erinnern, nicht besonders viel im Sinn haben. Der zeitliche Abstand fällt ins Gewicht. Wer jetzt 60 ist, war 10, als der Krieg begann, von dem hier gesprochen wird. Zu den Wahlen gehen jetzt junge Frauen und Männer, die eben geboren waren, als unsereins mit anderen heftig um die Ostverträge stritt. Ich denke, die Jüngeren möchten wissen, was die Zukunft bringt, ob die aufregenden Veränderungen im anderen Teil Europas das eigentliche Ende der Nachkriegszeit bedeuten und was dies für Deutschland besagen mag; doch wohl jedenfalls nicht eine neue Vorkriegszeit an Stelle der zu Ende gehenden Nachkriegszeit.
    Auch wenn ein paar Jahre — nein, ganz genau sind es noch etwas weniger als zwei Jahre — vergangen sind, ist in unser aller frischer Erinnerung, daß für die beiden militärisch mächtigsten Staaten der Welt zu Papier gebracht wurde: Ein mit Nuklearwaffen geführter Krieg kann nicht gewonnen und darf nicht geführt werden. Aus solcher Einsicht hat sich logisch ergeben, ernsthaft darüber nachzudenken, wie für unseren Teil der Welt und überhaupt zwischen West und Ost gemeinsame Sicherheit dauerhaft und zuverlässig verwirklicht werden kann.
    Es ist ja gewaltig, was sich über den großen Krieg hinaus in der Welt, nicht zuletzt in der Welt der Technik, verändert hat. Die 50 Jahre, die dem Jahr 1939 vorausgegangen waren, hatten es auch schon in sich. Das sind — man muß es sich klarmachen — die Jahre ab 1889, kurz bevor Bismarck ausschied. Das waren einmal 50 Jahre bis 1939, und dann begann die Periode, über die wir heute sprechen.
    Nun, gegen Ende des Jahrtausends, erleben wir den Griff in den Weltraum, das weltweite Fernsehen — das es ja sehr bald geben wird, das es fast schon gibt —, die wirkliche wirtschaftliche Umwälzung durch Mikrochips, zugleich das Bemühen um die Bändigung unvorstellbarer Zerstörungskraft; und die politische Weisheit bleibt gegenüber der Technik, wie man seit langem erfährt, im Rückstand.
    Hoffentlich haben wir in der Bundesrepublik Deutschland nicht die Augen davor verschlossen, daß in den letzten Jahrzehnten bei Konflikten in anderen Teilen der Welt an die 20 Millionen Menschen — eher mehr denn weniger — umgekommen sind. Wir sollten in dieser Stunde gewiß an das Leid denken, das den Menschen im Nahen Osten schon so lange zugefügt wird und das sie sich selbst zufügen, und daran, daß in Afghanistan, in Kambodscha und anderswo immer noch geschossen wird.
    Ich meine, wir dürfen auch den massenhaften, vermeidbaren Tod durch Hunger, Seuchen und Mangel an sauberem Wasser nicht aus den Augen verlieren, nicht die gefahrvolle Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen.
    Aber ich gebe zu: Gesicherter Frieden in Europa — das wäre ein wichtiger Baustein für eine menschenfreundlichere Welt. Aber es bedarf dann zugleich großer zusätzlicher Anstrengungen, um internationale Einrichtungen so auszubauen, daß moderne Erkenntnisse dem Überleben und Wohlergehen der Menschheit wirksam dienstbar gemacht werden können.
    Erfahrungen der Völker lassen sich weniger leicht vermitteln, als es schon manch einer an seinem Schreibtisch unterstellt hatte. Doch mag ich jenen erlauchten Geistern nicht folgen, die uns Menschen überhaupt die Fähigkeit absprechen, aus der Geschichte zu lernen. Zu hoch würde allerdings auch ich diese Fähigkeit nicht ansetzen wollen. Doch auf einem möglichst wahrhaftigen Umgang mit historischen Fakten sollte man mit Nachdruck bestehen. Ich sage „möglichst" nur deshalb, weil wir uns der Begrenztheit dessen klar sein sollten, was sich als zweifelsfrei feststellen läßt.
    Der geschichtlichen Wahrhaftigkeit wird — um ein wieder aktuell gewordenes Beispiel zu nennen — nicht gerecht, wer Stalin ins Feld führt, um Hitler zu entlasten

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    oder gar zu rechtfertigen. Was zur Verurteilung des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 zu erklären ist, hat das Präsidium der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vorbehaltlos und unmißverständlich zum Ausdruck gebracht.
    Im ubrigen: Nicht irgendwie und durch irgendwen hat der Zweite Weltkrieg begonnen, auch nicht nur im



    Brandt
    mißbrauchten deutschen Namen. Über Kurzsichtigkeiten vieler der Beteiligten nach 1918 — ich denke nicht nur an Versailles — läßt sich viel sagen. Eindeutig bleibt, auf 1939 bezogen, die hitlerdeutsche Schuld. Der neue Krieg unter dem Deutschland selbst so schwer leiden sollte, war schon vor dem Pakt vom 23. August 1939 geplant, vorbereitet, gewollt und hätte sich allenfalls durch vorweggenommene allseitige Kapitulation vermeiden lassen.
    Gelegentlich liest man, auch Polen sei 1939 nicht demokratisch regiert worden, was wohl stimmt, bloß hier nichts zur Sache tut. Wenn damit die Begründung einhergeht, Polen sei gar nicht überfallen, allenfalls mit einem Gegenangriff überzogen worden, so darf man das nicht durchgehen lassen. Es ist verbürgt, daß der sogenannte Führer vor seinen Generälen prahlte, er werde für die Rechtfertigung des Angriffs sorgen — wörtlich — , „gleichgültig, ob glaubhaft".
    Zu den hausgemachten, damals zu Hause gemachten Vorwänden gehörte ein fingierter Angriff auf den Sender Gleiwitz, nicht so weit entfernt von jenem damals kaum bekannten Ort namens Auschwitz, dessen Verbindung mit fabrikmäßigem Massenmord vor allem an den unzähligen jüdischen Opfern des Rassenwahns viele nie mehr haben abschütteln können. Jener Ort hat uns, die gebrannten Kinder der Menschheit, gelehrt, daß die Hölle auf Erden geschaffen werden kann; sie wurde geschaffen.
    Ich denke, die meisten werden es so empfinden wie ich, daß man den israelischen Verteidigungsminister versteht, der gestern an der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem sagte, für das größte Verbrechen in der neuzeitlichen Geschichte könne es Entschuldigung und Vergeben nicht geben.
    Daß es, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, für das eigene Volk so enden würde — keine Familie ohne Tote, Millionen ihrer Behausung in den zerbombten Städten beraubt, weitere Millionen ohne die alte Heimat und in der neuen Spaltung — , all das hat sich kaum einer vorstellen können, als es an jenem Freitag dem 1. September 1939 begann.
    Ich lebte, wie man weithin weiß, als von den Nazis Ausgebürgerter in nordeuropäischer Umgebung. Dort hoffte man — auch das gehört zur Erfahrung unserer Zeit — , neutral durch den Konflikt der Großmächte hindurchkommen zu können. Aber man war nicht sicher, wie ernst es werden würde.
    Am Sonntag, dem 3. September — ich hatte in der Redaktion die Aufgabe, während die anderen meinten, zu Hause bleiben zu können, englische Nachrichten zu hören; es gab eine Sondersitzung des britischen Unterhauses — , als die englische und französischen Kriegserklärungen vorlagen, kommentierte das Extrablatt der Zeitung, für die ich tätig war, es müsse sich erst noch zeigen, ob der Nervenkrieg eine neue Phase erreicht oder wirklich ein neuer Weltkrieg begonnen habe — September 1939.
    Aus Berlin und von der Wasserkante hörte ich — so bestätigen es ja die gedruckten Berichte seitdem vielfach: Über Deutschland legte sich in jenen Septembertagen eine lastende Stille; kein Jubel wie im August 1914, in jenem August 1914, als das europäische Ur-Unheil dieses Jahrhunderts begann; keine Blumen
    auf den Gewehrläufen, keine winkenden Bräute, nicht die angeberischen Sprüche auf den Eisenbahnwaggons, auch gottlob kein Segnen der Waffen und keine Flucht in den Krieg als Befreiung aus dem bürgerlichen Alltag.
    Ich erinnere hieran nicht als einer der Älteren, um etwas zu verniedlichen. Ich erinnere jedoch an die heimliche Furcht, die seit der sogenannten Machtergreifung nur noch selten aus den Herzen der Deutschen gewichen war — ob Gegner oder Anhänger des Regimes. Auch bei vielen aus der ja nicht kleinen zweiten Schicht bestimmte sie die Stunden des Katzenjammers nach den hochgejubelten Siegen.
    An jenem 1. September hofften die Naziführer mit ihrem Anhang, daß die Westmächte klein beigeben und sich trotz Polen arrangieren würden. Die plumpe Rechnung ging nicht auf. Die Mehrheit der Deutschen dürfte, anders als die bösen Wunschdenker an der Spitze, mit einer dumpfen, halb gelähmten Gewißheit verstanden haben, daß die Herrschaft des Todes mit letztem Ernst eingesetzt hatte. Man ahnte, daß Millionen nicht heimkehren würden. Daher das Schweigen, das Zeitgenossen ein bleiernes genannt haben.
    Gewiß, dies wurde in den ersten Kriegsjahren verdrängt und vergessen, doch nicht von allen. Es war in den Herzen der vielen, die schon früh einen der Ihren verloren. In den Lagern und Zuchthäusern ließ sich dieses Schweigen ohnehin nicht überspielen. Nach Stalingrad und El Alamain kehrte es allgemein und verstärkt wieder, und es nahm jenes entsetzliche Schweigen voraus, das sich nach 1945 über die Trümmer des Reiches legte, über die Ruinen Europas, vor allem auch der Sowjetunion. Es blieb, bei einigen nachdrücklicher als bei anderen, das Schweigen der Trauer, der Scham, der Mitschuld, jedenfalls der Mitverantwortung für das Schicksal anderer und vor dem eigenen Volk.
    Nicht notwendigerweise hat es so kommen müssen, wie es 1933 und 1939 gekommen ist. Nicht erst in den lebensgefährlichen Schriften des Untergrunds, nein, schon in den Aufrufen aus der Zeit der zu Ende gehenden Weimarer Republik war gewarnt worden, daß Hitler Krieg bedeute. Mit dieser Einsicht bin ich politisch erwachsen geworden. Aber ich habe nicht vergessen, daß vielen als Empfehlung erschien, was auf die anderen abschreckend wirkte.
    Die meisten, auch im Ausland, meinten, die Warnungen seien übertrieben. Durch linksintellektuelle Aufgeregtheit oder was als solche empfunden wurde, mochten sich nationalbürgerliche Grundinstinkte nicht anfechten lassen. Doch auch, wenn man nicht hatte hören wollen, daß X zu Y führe, in Wahrheit hörte man es doch. Man wollte es nicht glauben und fürchtete es dennoch.
    Da waren natürlich auch jene, die sich aufführten, als fürchteten sie nichts auf der Welt, schon gar nicht Gott. Die wollten Krieg, nicht bloß Krieg, sondern einen solchen, dessen maßlose Erniedrigung ihnen nichts ausmachte. Was sie wollten, hätte man auch damals wissen können. Doch denen, die es wußten und sagten, ging es nicht gut.
    Eine selbstkritische Frage drängt sich mir allerdings auch hier auf: Wenn man die Warnung vor dem, wo-



    Brandt
    hin NS-Herrschaft führen würde, buchstäblich und ganz ernst genommen hätte, wären dann nicht viel größere Risiken angemessen gewesen, um das deutsche und europäische Unheil abwenden zu helfen? Auch als klar war, daß Hitlers Krieg nur noch zu verlieren war, hätte sich beträchtliche menschliche und materielle Substanz vor der Vernichtung bewahren lassen.
    Die große Lehre jener Zeit lautet aus meiner Sicht: Wo die Freiheit nicht beizeiten mit großem Einsatz verteidigt wird, ist sie nur um den Preis schrecklich hoher Opfer zurückzugewinnen. Ein mündiges Volk darf die Macht nicht in die Hände von Verrückten und Verbrechern fallen lassen.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Das ist die eine Lehre. Zu ihr gehört, den Nachwachsenden nahezubringen, daß dies auch sie — über ohnehin nicht zu übersehende materielle Folgen hinaus — noch mit angeht. Sie lehnen es zu Recht ab, sich Verantwortung oder gar Schuld vererben zu lassen. Zu Recht lehnen sie das ab. Doch es geht nicht mehr um unser, es geht um ihr Leben. Nur wer begriffen hat, was damals geschah, wird sich gegen die Lähmung der Vernunft und die Aggression der Dummheit zu schützen wissen, wird auch die Kraft finden, die Gefahr des Krieges, so es an ihm liegt, immer von neuem abwehren zu helfen.
    Ich bleibe der Meinung: Der Bruch mit der bösen Vergangenheit hätte vor vierzig Jahren deutlicher ausfallen sollen. Ich sage ebenso deutlich: Der Idealismus großer Teile der damals jungen Generation ist schrecklich mißbraucht worden. Die Opferbereitschaft hart bedrängter einfacher Menschen ist nicht hinreichend gewürdigt worden. Sie, sowohl die aus Idealismus engagierten Jungen wie die vielen, nicht zuletzt die Frauen in den Bombennächten, hätten in der rückwärts gewandten Wertung besser wegkommen müssen, als sie unter den Bedingungen restaurativer Besatzungsdemokratie weggekommen sind, etwa im Vergleich zu manchen vermeintlichen Rechtswahrern und anderen Textdeutern, zumal den Propagandisten des Krieges nach außen und im Innern.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Ich darf hier hinzufügen, meine Damen und Herren: Wer noch immer oder wieder bei den Zerstörern Europas Anleihen macht, der fügt dem eigenen Volk Schaden zu. Aber auf leicht angebräunte Spatzen mit Kanonen zu schießen, das ergibt auch keinen Sinn.

    (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

    Es wäre verwunderlich, um nicht zu sagen: verdächtig, wenn sich wie anderswo in Europa nicht auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland gelegentlich Leute zu Wort meldeten, die mit nationalistischen Ladenhütern aufwarten. Nur: Konzessionen darf man ihnen nicht machen.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Die eigentliche Antwort auf rückwärts gewandte Versuchungen, die andere große Lehre — eine hatte ich genannt — , heißt aus meiner Sicht: mit noch größerer Hingabe für Europa arbeiten, ohne damit ver-
    staubte Vorstellungen von deutscher Führung zu verbinden.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

    Die europäische Einigung — ich nehme voll auf, was der Bundeskanzler hierzu gesagt hat — bildete ein Kernstück in den Vorstellungen des deutschen Widerstandes, so auch des Kreisauer Kreises um den Grafen Moltke. Nebenbei gesagt, Herr Bundeskanzler, sind wir uns auch sicherlich einig, daß wir gelegentlich in Gefahr sind, den Widerstand der deutschen Arbeiterbewegung seit 1933

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und bei Abgeordneten der FDP)

    nicht gleichermaßen zu würdigen wie das, was hinterher mit so großem Einsatz gewagt worden ist.
    Die deutschen Sozialdemokraten hatten übrigens die Vereinigten Staaten von Europa schon 1925 in ihr Programm geschrieben. Seit 1950 haben auf dem Wege zur westeuropäischen Gemeinschaft bedeutende Fortschritte erzielt werden können, und das ist gut. Inzwischen ist es Zeit, an Gesamteuropa zu denken. Daß sich diese Aufgabe stellen werde und wir den mittel-, ost- und südosteuropäischen Nachbarn nicht den Rücken zuwenden dürften, sagte ich meiner Partei vor über 25 Jahren, als sie mich an ihre Spitze berief: hier in Godesberg, Anfang 1964. Wir haben es beim Bemühen um Normalisierung im Ost-West-Bereich nicht vergessen.
    Ein faszinierender Prozeß der Neugestaltung führt uns nun dem größeren Europa näher. Aber: Ohne Widersprüche und Rückschläge wird es auch weiterhin nicht abgehen. Ich denke mir, Staaten auf Rädern wird die künftige europäische Hausordnung nicht vorsehen

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

    und keine Vertreibung und keine Trennmauer — schon gar nicht zwischen Angehörigen ein und derselben Nation —, auch nicht Regierungen, die von ein paar Dutzend Divisionen abhängiger sind als von der Verständigung mit dem eigenen Volk.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wie immer: Wer das ganze Europa in den Blick faßt, kommt jedenfalls um Deutschland nicht herum.
    Mit dem Warschauer Vertrag vom Dezember 1970 wie mit dem voraufgegangenen Moskauer Vertrag haben wir die Kette des Unrechts durchbrechen, der Vernunft eine neue Chance geben, menschliche Erleichterungen fördern wollen. Mir war bewußt, daß sich die Siegermächte auf Grenzen verständigt hatten, die über ursprüngliche polnische Forderungen und Erwartungen hinausgingen. Mir war zum anderen bekannt, daß ein konservativer Nazi-Gegner wie Carl Goerdeler, der langjährige Leipziger Oberbürgermeister, und ein Sozialdemokrat wie Ernst Reuter, damals Oberbürgermeister von Magdeburg, vorausgesagt hatten, was Hitlers Krieg für die Ostgrenze bedeuten würde. Das kam nicht wie ein Blitz vom Himmel. Es gibt im übrigen nicht den geringsten Zweifel daran, daß unser erster Bundeskanzler auch



    Brandt
    hinsichtlich der früheren preußisch-deutschen Ostgebiete keinen Illusionen anhing. Schon er wußte, daß uns in der weiten Welt keine Regierung in Grenzforderungen unterstützen würde. Und es wäre mehr als peinlich, wenn man bei uns den Eindruck aufkommen ließe, es bedürfte russischer Truppen, um Polens Grenze gegen deutsche Ansprüche zu sichern.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Wer — im Gegensatz zum Geist des Warschauer Vertrages — die Grenzen in Frage stellt, statt sie durchlässig, wirklich durchlässig machen zu helfen, der gefährdet den Zusammenhalt und die Chancen neuen Zusammenhalts zwischen den Deutschen, wo sie heute leben.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

    Was unser Bundespräsident dieser Tage dem polnischen Staatsoberhaupt geschrieben hat, sollte nicht nur unser aller Würdigung, sondern auch unser aller Zustimmung finden können.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Im übrigen verweise ich — mehr als pflichtgemäß — auf den Entschließungsantrag der sozialdemokratischen Fraktion dieses Hauses.
    Leider, Herr Bundeskanzler, war in diesem Sommer hier und da der Eindruck entstanden, von London und Paris, sogar von Washington sei der Weg nach Warschau kürzer als der von Bonn. Das polnische Volk und seine Regierung — das gilt gleichermaßen für Ungarn und für die anderen Länder, in denen die Prozesse der Erneuerung langsamer anlaufen — sollten spüren, daß wir uns ihnen in Solidarität verbunden fühlen.
    Bei dieser Gelegenheit, Herr Bundeskanzler, möchte ich eine kleine praktische Begebenheit erwähnen: Ich erinnere mich daran, daß Anfang der 80er Jahre die Post es den Hilfsbereiten ermöglicht hatte, Pakete ohne Porto nach Polen zu schicken. — Es muß ja nicht gleich Portofreiheit sein. Aber wenn ich höre — ich habe mich gestern bei den zuständigen Stellen vergewissert — , daß man jetzt, wo es ernster ist, die individuelle Hilfe erschwert — das Porto ist nämlich erhöht worden — , dann verstehe ich das nicht. Es ist überhaupt nicht verständlich, daß ein 10 kg schweres Paket, das, sagen wir einmal, einen Wert von 50 DM hat, mit 30,50 DM Porto auf den Weg zu bringen ist. Da muß sich eine vernünftigere Regelung finden lassen.

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Ich will im übrigen, wo es um größere Dinge geht, nicht unterstellen, daß die polnische Seite nur Wünsche vorbringt, die leicht zu befriedigen sind; das glaube ich nicht. Der Gedanke, die Kommission der Europäischen Gemeinschaft in die Hilfe für Polen einzuschalten, war gut. Von uns wird Zusätzliches erwartet; das weiß hier jeder.
    Wo es nach vorn führt und solide ist, werden wir uns große Mühe geben müssen. Selbsthilfe und europäische Unterstützung müssen wirksam ineinandergreifen, und zwar so, daß nicht neue drückende Abhängigkeiten entstehen.
    Ich will offen meinem Empfinden Ausdruck geben - das möchte ich zum Schluß sagen — , daß eine Zeit zu Ende geht, eine Zeit, in der es sich in unserem Verhältnis zum anderen deutschen Staat vor allem darum handelte, durch vielerlei kleine Schritte den Zusammenhalt der getrennten Familien und damit der Nation wahren zu helfen.
    Was jetzt im Zusammenhang mit dem demokratischen Aufbruch im anderen Teil Europas auf die Tagesordnung gerät, wird mit neuen Risiken verbunden sein, schon deshalb, weil es ein historisch zu belegendes und höchst vielfältig gefächertes, keineswegs erst durch den Hitler-Krieg belebtes Interesse der europäischen Nachbarn und der halbeuropäischen Mächte daran gibt, was aus Deutschland wird.
    Der Wunsch, das Verlangen der Deutschen nach Selbstbestimmung wurde in den Westverträgen bestätigt und ist durch die Ostverträge nicht untergegangen; sie bleiben Pfeiler unserer Politik. In welcher staatlichen Form auch immer dies in Zukunft seinen Niederschlag finden wird, mag offenbleiben. Entscheidend ist, daß heute und morgen die Deutschen in den beiden Staaten ihrer Verantwortung für den Frieden und die europäische Zukunft gerecht werden. Wir sind nicht die Vormünder der Landsleute in der DDR. Wir haben ihnen nichts vorzuschreiben, dürfen ihnen freilich auch nichts verbauen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

    Ich habe vor mir einen Brief liegen — ich habe ihn nicht selber bekommen, sondern jemand hat ihn mir gestern gegeben — , einen Brief von einer Dame aus dem westlichen Sachsen, in dem sie von den Menschen schreibt, die Angst haben, daß das Leben an ihnen vorbeigehe, und in dem sie schreibt: Keiner hungert; aber jeder hungert nach etwas Besserem.
    Dies ist nicht das einzige bedrückende Zeugnis dessen, was die Menschen dort beschäftigt und uns mit angeht. Das Bewußtsein unserer Menschen hier, in der Bundesrepublik, wachzuhalten, daß die Nachbarn im anderen Teil Deutschlands zwar das kürzere Los gezogen, aber den Krieg nicht mehr als wir verloren haben, bleibt ein Gebot der Stunde.

    (Lebhafter Beifall bei allen Fraktionen)

    Und daß eine effiziente und unbürokratische Hilfe für bedrängte, in unverschuldete Not geratene Landsleute ein Gebot unserer Selbstachtung bleibt, sollte keiner weiteren Worte bedürfen.
    Ich möchte für meine politischen Freunde — und sicher nicht nur für diese — Dank sagen an alle nichtamtlichen und amtlichen Personen und Stellen, die nachbarliche und humanitäre Hilfe leisten und dabei auf störende Publizität verzichten.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Jede Generation muß wohl von neuem lernen, was Albert Schweitzer die Ehrfurcht vor dem Leben genannt hat. Die Lebensliebe ist das große Geschenk, das den Überlebenden zuteil wurde. Wir haben sie weiterzugeben wie die Einsicht, die ich vor vielen Jah-



    Brandt
    ren — lange ist's her — auf die Formel zu bringen versuchte, daß Krieg die ultima irratio, Frieden jedoch die ultima ratio der Menschheit sei.
    Um Lebensliebe und Freiheitswillen zu bitten, das ist, wie ich es verstehe, die Pflicht, die uns die Erinnerung an den September 1939 vermittelt.

    (Anhaltender, lebhafter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Beifall bei der CDU/ CSU und der FDP)



Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Abgeordnete Herr Dr. Dregger.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Dr. Alfred Dregger


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU/CSU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion begrüßt die Regierungserklärung, die der Herr Bundeskanzler vorgetragen hat, und unterstützt sie.
    Wir danken auch Ihnen, Herr Kollege Brandt, für Ihren Beitrag, den wir in manchen, auch wichtigen, Passagen unterstützen, wenn auch nicht in allen.
    Bei dem Versuch gestern, eine gemeinsame Entschließung zustande zu bringen, hat die Grenzfrage nach unserem Eindruck eine etwas übermäßige Rolle gespielt. Es war der Wunsch der SPD.
    Deswegen muß ich einige wenige Bemerkungen zur Grenzfrage machen, obwohl ich das ursprünglich nicht vorhatte.
    Wir müssen von der Tatsache ausgehen, daß Deutschland geteilt ist. Die Bundesrepublik Deutschland, der westliche Teilstaat Deutschlands, hat keine gemeinsame Grenze mit der Volksrepublik Polen und kann daher keinen Grenzregelungsvertrag mit Polen schließen. Der westdeutsche Teilstaat ist auch nicht befugt, über ostdeutsches Gebiet zu verfügen. Was würden wir sagen, wenn ein ostdeutscher Teilstaat über westdeutsches Gebiet verfügen würde?

    (Zurufe von der SPD und den GRÜNEN)

    Eine Grenzregelung zwischen Deutschland und Polen kann nur ein wiedervereinigtes Deutschland treffen, das durch die Wiedervereinigung zu einem Nachbarn Polens wird. Ich bin überzeugt, daß dieser Friedensvertrag frei zustande kommen wird, weil für Polen wie Deutsche die Freiheitsfrage wichtiger ist als jede Grenzfrage und weil Polen und Deutsche wissen, daß sie ihr nationales Ziel der Selbstbestimmung nur gemeinsam verwirklichen können.
    Was die Bundesrepublik Deutschland in dieser Situation tun konnte, ist geschehen durch den Warschauer Vertrag unter Ihrer Kanzlerschaft, Herr Kollege Brandt, dessen Kernsatz lautet: „Die Bundesrepublik Deutschland und die Volksrepublik Polen haben gegeneinander keinerlei Gebietsansprüche und werden solche auch in Zukunft nicht erheben."

    (Dr. Lippelt [Hannover] [GRÜNE]: Und was macht Ihr Gesamtdeutschland?)

    Der damit vereinbarte Gewaltverzicht gilt für jetzt und für alle Zukunft, meine Damen und Herren.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Jetzt, in dieser politischen Situation, geht es nicht um zum Teil geregelte und zum anderen Teil nicht aktuelle Grenzfragen; es geht jetzt um innere Reformen in der DDR und Polen. Es geht um Freiheit und Demokratie in Ost- und Mitteleuropa.
    Zu beidem müssen wir in der DDR und in Polen aktive Unterstützung leisten. Sobald die neue polnische Regierung gebildet ist und die Vorbereitungen zu tragfähigen Abkommen mit Polen getroffen sind, wird der Bundeskanzler nach Warschau reisen. Anders als 1975 muß deutsche Hilfe für Polen diesmal zum Erfolg führen, meine Damen und Herren.
    Schließlich geht es drittens um Aussöhnung zwischen Polen und Deutschen. Viele Politiker haben dazu beigetragen: in diesen Tagen Norbert Blüm durch seinen Besuch in Polen und Lech Walesa, der in Kürze hier in Bonn seinen Besuch machen wird.
    Deswegen möchte ich bitten, meine Damen und Herren, daß wir alle daran mitwirken, daß wir nicht durch überflüssige und unzeitgemäße Grenzdiskussionen Verwirrungen entstehen lassen.

    (Frau Matthäus-Maier [SPD]: Das ist wohl richtig!)

    Ich meine, wenigstens an diesem Tag sollte nicht der Parteienstreit, sondern die gemeinsame Aufgabe der deutschen Demokraten im Vordergrund stehen.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Nun ein Rückblick auf die Katastrophe von vor 50 Jahren und die Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind. Der deutsche Angriff auf Polen hat den Zweiten Weltkrieg ausgelöst, der für Europa zur schlimmsten Katastrophe seiner Geschichte wurde. Wer diese Zeit bewußt miterlebt hat oder von ihren Folgen besonders getroffen ist, wird nicht nur an diesem Tage nach den Ursachen und danach fragen, was wir tun müssen, damit sich eine ähnliche Katastrophe nicht wiederholt.
    Bewahrung des Friedens, Sicherung der Freiheitsrechte der Menschen und eine Friedensordnung für Europa gehören denn auch zu den großen Themen, die den Deutschen Bundestag von der ersten Legislaturperiode an immer wieder beschäftigt haben.
    Zunächst ein Blick zurück. Es war Hitler, der, nachdem er die Macht in Deutschland an sich gerissen hatte, den Zweiten Weltkrieg entfesselte. Und es war Stalin, der das durch den Pakt mit Hitler ermöglicht hat.

    (Frau Dr. Däubler-Gmelin [SPD]: Es ist doch wirklich nicht zu fassen!)

    Aber auch die alten Führungsmächte und die alten Führungsschichten Europas, von rühmlichen Ausnahmen abgesehen, hatten es nicht vermocht, eine gerechte und menschenwürdige Friedensordnung für Europa zu schaffen und zu erhalten. Manches, was zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges beitrug, hatte schon am Zustandekommen des Ersten Weltkrieges mitgewirkt: Nationalismus und Chauvinismus, die das Gegenteil von wahrem Patriotismus sind — denn wer sein Volk liebt, führt es nicht in einen Krieg —, Maßlosigkeit und Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Völkern sowie hybride Überschätzung der eigenen Art und Stärke und mangelnde Einsicht in die sich ständig steigernde Zerstörungsgewalt moderner Kriegstechnik, die den Versuch, politische Ziele mit



    Dr. Dregger
    militärischen Mitteln zu erreichen, zur Sinnlosigkeit werden läßt. Verhängnisvoll wirkte sich eine mit größtem Raffinement geübte Lügenpropaganda aus, die es den meisten Menschen unmöglich machte, Wahrheit und Unwahrheit voneinander zu unterscheiden.
    Zu dem Krieg an den Fronten, dem schon im Ersten Weltkrieg Millionen von Soldaten zum Opfer gefallen waren, kamen im Zweiten Weltkrieg neue Dimensionen: der grausame Luftkrieg gegen die Zivilbevölkerung, d. h. gegen Frauen, Kinder und Greise, und die nicht weniger grausame Vertreibung der Zivilbevölkerung, d. h. ebenfalls von Frauen, Kindern und Greisen, von Millionen von Menschen aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat. Schändlicher noch als alles andere waren aber die schrecklichen Ausrottungsmorde, die im Schatten des Kriegsgeschehens und unter dessen Tarnung vor allem an den Juden Europas verübt wurden.
    Wenn man nach den tieferen Ursachen dieser furchtbaren Geschehnisse forscht, so mag es unterschiedliche Antworten geben; nicht jeder wird dieselbe geben. Ich sehe die tiefste Ursache in der Abkehr von Gott. Ohne diese Bindung verliert der Mensch seine einzigartige Würde, seine Gottebenbildlichkeit, was ihn leicht zum Werkzeug wahnhafter Ideologien werden läßt.
    Die Väter unseres Grundgesetzes haben aus ihren Erfahrungen und Erkenntnissen den Kernsatz unserer Verfassung entwickelt. Er lautet — ich zitiere ihn —:
    Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
    Das, meine Damen und Herren, ist die Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Die Würde des Menschen heißt die Würde jedes Menschen, die Würde jedes einzelnen Menschen, ohne Rücksicht auf Rasse oder Klasse. Haben wir, hat die Welt aus dem gelernt, was von 1914 bis 1945 im „zweiten Dreißigjährigen Krieg" , wie Raymond Aron ihn bezeichnet hat, geschehen ist?
    In Europa folgte nach 1945 dem heißen der kalte Krieg. Nicht Zusammenarbeit in einer Friedensordnung, sondern Antagonismus der Systeme und ideologische Konfrontation bei gegenseitiger militärischer Abschreckung vor allem durch atomare Waffen waren die bestimmenden Faktoren. Zwar schweigen die Waffen — sie müssen schweigen, weil ein Krieg mit den Waffen unserer Zeit alles zerstören würde, was Menschen geschaffen haben und was wir bis heute bewahren konnten — , aber der Nichtkrieg bedeutet noch nicht Frieden; denn Friede ist mehr als Abwesenheit von Krieg, Friede ist auch mehr als das Gleichgewicht des Schreckens. Friede ist eine Ordnung des Rechts, die die Macht begrenzt und legitimiert. Friede ist eine Ordnung, die eine moralische Grundlage hat, die — so formulieren wir es heute — auf den Menschenrechten und dem Selbstbestimmungsrecht der Völker beruht.
    Zum Frieden gehört aber auch der Rückhalt des einzelnen Menschen in seiner Gruppe und in seiner Nation, die ihm Heimat ist, auch geistige und kulturelle Heimat, in der er Geborgenheit findet. Nation und Demokratie haben einen gemeinsamen Ursprung. Die Ereignisse in Polen, in Ungarn, im Baltikum, in der sowjetischen Moldaurepublik zeigen die Aktualität dieser Feststellung.
    Auch für uns Deutsche ist die Nation eine Kraft, die dazu beitragen wird, die DDR für die Demokratie reif zu machen. Das Fehlen der Demokratie, der persönlichen Freiheit und des daraus erwachsenden Wohlstands der breiten Schichten in der DDR ist ja das einzige, was Mitteldeutschland und Westdeutschland voneinander unterscheidet. Wenn diese Unterschiede wegfallen — sie werden wegfallen, weil sich auch die DDR den Entwicklungen in Osteuropa nicht entziehen kann und weil die Menschen in der DDR es satt sind, das länger zu ertragen, was drüben als Sozialismus bezeichnet wird — , dann ist auch die staatliche Einheit der deutschen Nation nicht mehr aufzuhalten.
    Meine Damen und Herren, das wissen auch die Machthaber in der DDR. Sie und ihre Fürsprecher östlich und westlich der Teilungsgrenze warnen daher vor einer Destabilisierung der DDR durch Reformen. Wir wünschen einen friedlichen Wandel. Wir wissen: Destabilisierend ist auf Dauer nicht die Freiheit, sondern die Unterdrückung.

    (Beifall bei der CDU/CSU)

    Auf Freiheit kann nicht verzichtet werden; als Vertreter ohne Vollmacht für andere kann man das schon gar nicht. Wer selbst die Freiheit in Übermaß genießt wie wir, sollte sich hüten, seinen Landsleuten in der DDR einen Verzicht oder Teilverzicht auf Freiheit zu empfehlen.

    (Büchner [Speyer] [SPD]: Was ist ein „Übermaß an Freiheit"?)

    Das wäre nicht nur unmoralisch, sondern auch unwirksam. Nein, die Geschichte wird vor der DDR, diesem „künstlichen Gebilde", wie de Gaulle es einmal genannt hat, nicht haltmachen, und das ist gut so.
    Meine Damen und Herren, 44 Jahre nach Kriegsende steht der große gesamteuropäische Friedensschluß noch aus. Wie können wir zusammen mit unseren europäischen Nachbarn und mit den beiden Weltmächten den Zustand des Nichtkriegs in einen Zustand des Friedens überführen, wie können wir eine Friedensordnung, die ohne Mauern und Stacheldraht bestehen kann, die den kulturellen Zusammenhängen und dem Willen der Völker Rechnung trägt, schaffen? Das ist die große Aufgabe, die, bisher nicht erfüllt, mahnend und fordernd vor uns steht.
    Sind die jetzt bestehenden Paktsysteme, sind die jetzt dominierenden Mächte fähig, Frieden zu schließen?

    (Vorsitz: Vizepräsident Stücklen)

    In früheren Jahrhunderten sind Europa große Friedensschlüsse gelungen. Sie waren groß, weil in ihnen nicht nur die Sieger, sondern auch die Besiegten zu Garanten der wiederhergestellten Ordnung gemacht wurden. So war es 1648 im Westfälischen Frieden von Minster und Osnabrück, durch den — darin sehe ich das Besondere an diesem Frieden — das gegenseitige



    Dr. Dregger
    Verzeihen und die Versöhnung ausdrücklich zum Vertragsgegenstand gemacht wurden. Verzeihen und Versöhnen, das ist ein christliches Gebot. Kann das Europa auch in unserer Zeit den Frieden bringen?
    Auch am Ende der napoleonischen Ära stand ein Vertrags- und Versöhnungsfrieden. Das besiegte Frankreich wurde in seiner territorialen Integrität nicht angetastet. Es wurde als gleichberechtigter Partner an den Friedensverhandlungen beteiligt und übernahm wieder seine alte Rolle im Konzert der Mächte, wie man es damals nannte.
    Das Gegenbeispiel ist der Versailler Vertrag von 1919, bei dem sich die Siegermächte nicht damit begnügten, dem Besiegten Gebietsverluste und sinnlose Reparationslasten aufzuerlegen. Die Sieger demütigten den Besiegten zusätzlich, indem sie ihn von den Verhandlungen ausschlossen und ihm die alleinige Schuld am Kriegsausbruch zuwiesen.
    Am Ende des Zweiten Weltkriegs kam eine Friedensordnung in Europa schon deshalb nicht zustande, weil die Allianz der Siegermächte an dem fundamentalen Gegensatz zwischen freiheitlicher Demokratie und kommunistischer Diktatur zerbrach. Nur der gemeinsam geführte Krieg gegen Hitler-Deutschland hatte diesen Gegensatz für wenige Jahre überdecken können.
    Wenn auch das gesamteuropäische Friedenswerk noch aussteht: Es ist manches geschehen, und es geschieht manches, was diesen Friedensschluß vorbereitet. Westlich der Teilungsgrenze ist eine Friedensordnung entstanden, die aus Feinden gute Nachbarn, Freunde und Verbündete gemacht hat. Was im Westen Europas gelungen ist, kann in manchem Modell für eine gesamteuropäische Friedensordnung sein.
    In den bilateralen und multilateralen Verträgen, die wir mit der Sowjetunion, mit Polen und anderen abgeschlossen haben, ist Gewalt als Mittel der Politik endgültig, vorbehaltlos und glaubhaft ausgeschlossen. Abrüstungspolitik ist zu einem wichtigen Faktor der Außen- und Sicherheitspolitik geworden. Die militärische Strategie — zumindest die der NATO — hat einen grundlegenden Wandel im Vergleich zu den beiden Weltkriegen durchgemacht. Es geht nicht mehr darum, den Gegner zu vernichten — eine Strategie, die ihren höchsten Triumph im Zweiten Weltkrieg feierte — , sondern es geht darum, den Gegner vom Krieg abzuhalten und, wenn das mißlingen sollte, so schnell wie möglich die Kampfhandlungen zu beenden und den Frieden wiederherzustellen.
    Östlich der Teilungsgrenze wächst die Erkenntnis, daß auch das dortige System, das sich Sozialismus nennt, seine Zukunft nicht auf Militärmacht, auf Unterdrückung der Menschen und auf Isolation von der übrigen Welt gründen kann.
    Die Gemeinsame Erklärung des Bundeskanzlers und des sowjetischen Staats- und Parteichefs Gorbatschow vom 13. Juni in Bonn hat neue Perspektiven aufgezeigt. Es heißt dort — ich zitiere —:
    Die Bundesrepublik Deutschland und die Sowjetunion betrachten es als vorrangige Aufgabe ihrer Politik, an die geschichtlich gewachsenen europäischen Traditionen anzuknüpfen und so zur
    Überwindung der Trennung Europas beizutragen. Sie sind entschlossen, gemeinsam an Vorstellungen zu arbeiten, wie dieses Ziel durch den Aufbau eines Europas des Friedens und der Zusammenarbeit — einer europäischen Friedensordnung oder des gemeinsamen Europäischen Hauses — , in dem auch die USA und Kanada ihren Platz haben, erreicht werden kann.
    Ich beglückwünsche Sie, Herr Bundeskanzler, zu dieser Gemeinsamen Erklärung, die — ebenso wie Ihr Erfolg auf dem NATO-Gipfel in Brüssel kurz zuvor — deutlich gemacht hat, daß die Bundesrepublik Deutschland heute in der internationalen Politik ein Element des Friedens, der Stabilität und der internationalen Zusammenarbeit ist. Das 50 Jahre nach Ausbruch des Zweiten Weltkrieges feststellen zu können ist für mich eine persönliche Genugtuung.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Diese Feststellung ehrt unser Volk, unseren Staat, sie ehrt den Deutschen Bundestag, sie ehrt den Bundeskanzler und seinen Außenminister, dem wir bei dieser Gelegenheit unsere besten Genesungswünsche aussprechen,

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    und sie ehrt auch alle diejenigen, die Vorgänger im Amt des Bundeskanzlers oder Außenministers gewesen sind, Herr Kollege Brandt.
    Wie kann die in der gemeinsamen Erklärung genannte „gesamteuropäische Friedensordnung" aussehen? Die Völker Europas allein können sie nicht schaffen. Wir leben nicht mehr in einem europäischen, sondern in einem Weltmächtesystem, in dem die USA und die Sowjetunion dominieren. Beide Weltmächte sind Staatenunionen, wenn auch höchst unterschiedlicher Art. Beide sind notwendige Partner einer gesamteuropäischen Friedensordnung, also sowohl die Sowjetunion als auch die USA sind notwendige Partner einer gesamteuropäischen Friedensordnung.
    Der dritte Partner sollte das vereinigte Europa sein, das zwischen den USA und der Sowjetunion liegt, d. h. das Europa von Polen bis Portugal, das zur Zeit geteilt ist und aus Mittelmächten und Kleinstaaten besteht. Dieses vereinigte Europa in der Mitte könnte zur friedenserhaltenden Mitte zwischen den Weltmächten werden. Es könnte ihnen ersparen, mitten in Europa, d. h. in Deutschland, einander hochgerüstet gegenüberzustehen. Es könnte sie dadurch von Lasten befreien, die für sie immer größer werden. Dieses Ziel, das mir vorschwebt, ist Sache eines Entwicklungsprozesses, der zum Ziel führen kann. Der Sowjetunion kommt dabei eine besonders wichtige Rolle zu. Je mehr die Sowjetunion das Selbstbestimmungsrecht ihrer Nachbarvölker, z. B. der Polen, anerkennt, um so enger kann und muß unsere und des ganzen Westens Zusammenarbeit mit der Sowjetunion werden.
    Wenn die von Gorbatschow eingeleitete Entwicklung nicht gestoppt wird, dann wird auch die Sowjet-



    Dr. Dregger
    union erkennen, daß eine gesamteuropäische Friedensordnung, in der die Völker und Nationen ohne Furcht und Zwang unter Wahrung ihrer Eigenständigkeit miteinander leben können, auch für sie die bessere Alternative zur jetzigen Teilung Europas ist.
    Im Zeichen der Einheit und Freiheit Europas werden auch Polen und Deutsche zueinander finden, wie nach dem Kriege Franzosen und Deutsche zueinander gefunden haben. Was den Ausgleich im Osten schwieriger macht als im Westen, ist die Tatsache, daß im Osten nicht nur Grenzen verschoben, sondern auch Millionen Menschen aus ihrer seit Jahrhunderten angestammten Heimat vertrieben wurden. Hier wurde schweres Unrecht, das vorausgegangen war, mit schwerem Unrecht vergolten. Es traf auf beiden Seiten Millionen Unschuldiger. Polen und Deutsche müssen die Schwierigkeiten, die sich aus dieser historischen Last ergeben, gemeinsam meistern. Das kann nicht einseitig, und es kann nur auf der Grundlage der geschichtlichen Wahrheit geschehen, unter Berücksichtigung des geltenden Rechts und in dem Bewußtsein, daß Polen und Deutsche nur gemeinsam eine gute Zukunft haben können.
    Bei allem Schlimmen, das Polen und Deutsche erlitten und sich gegenseitig zugefügt haben, sie müssen nach vorne blicken. Polen und Deutsche waren seit Anbeginn ihrer Geschichte Nachbarn. Sie müssen wieder gute Nachbarn werden.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

    Dazu kann vielleicht die Erkenntnis beitragen, daß Stalin mit der Westverschiebung Polens auch die Absicht verfolgte, Deutsche und Polen auf Dauer zu Todfeinden zu machen, um sie beide besser beherrschen zu können. Diesen Wunsch Stalins dürfen Polen und Deutsche nicht erfüllen. Wir dürfen nicht Todfeinde sein.

    (Beifall bei der CDU/CSU und bei Abgeordneten der FDP)

    Dazu kann auch die Erkenntnis beitragen, daß unsere gemeinsame Geschichte nicht nur über Jahrhunderte hinweg von guter Nachbarschaft getragen war, sondern daß Polen und Deutsche als Völker der Mitte auch unter ähnlichen Schicksalsschlägen zu leiden hatten. Die Teilungen sind dafür ein Beispiel.
    Wichtiger noch ist die Tatsache, daß Polen und Deutsche gemeinsame Zukunftsinteressen haben. Gemeinsam ist unser Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung. Wir werden ihn nicht als Gegner, sondern nur als Partner verwirklichen können.
    Da das so ist, liegt eine Politik der Versöhnung nicht nur im europäischen, sondern auch im nationalen Interesse sowohl der Polen als auch der Deutschen. Politik der Versöhnung, was heißt das? Es heißt, daß alles Gegenwärtige und Zukünftige — auf die Vergangenheit haben wir leider keinen Einfluß mehr — einvernehmlich geregelt werden muß. Das gilt für die Grenzfragen ebenso wie für die Nachbarschaft und das Zusammenleben.
    Meine Damen und Herren, das, was als Aufgabe vor uns steht, vor Polen, Deutschen, Russen, vor allen Europäern und vor den Amerikanern, ist so groß, daß sie es ohne die Kräfte des Herzens, des Geistes und
    des Glaubens nicht erfüllen können. Es geht ja um nicht weniger als um eine gemeinsame friedliche Zukunft, um eine Zukunft ohne Haß, ohne Angst, ohne Willkür und ohne Gewalt, um ein versöhntes, einiges und freies Europa, das mit beiden Weltmächten zusammenarbeitet, und in der Mitte Europas um ein einiges und freies Deutschland.
    Das ist die Perspektive, die mir vor Augen steht, wenn ich an den Tag vor 50 Jahren zurückdenke, den ich als 18jähriger erlebt habe. Die Vision einer gesamteuropäischen Friedensordnung bewegt gewiß nicht nur meine Fraktion. Ich glaube, daß wir uns in der Zielsetzung in diesem Hause zumindest nahe sind. Es mag Unterschiede in der Beurteilung der Wege geben, die zu diesem Ziel führen, nicht aber in dem Wunsch, dieses Ziel zu erreichen. Tun wir daher alles, was in unseren Kräften steht, damit die gesamteuropäische Friedensordnung, wie ich sie erläutert habe, Wirklichkeit wird. Sie ist gewiß ein gutes Ziel. Es steht nicht nur in Übereinstimmung mit den Zukunftshoffnungen der Menschheit, sondern es dient vor allem ganz unmittelbar den Menschen, die von Teilung, Gegnerschaft und Unterdrückung betroffen sind.
    Danke schön.

    (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)