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    Plenarprotokoll 11/154 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 154. Sitzung Bonn, Freitag, den 1. September 1989 Inhalt: Nachruf auf den früheren Bundesminister und langjährigen Vorsitzenden der CDU/ CSU-Bundestagsfraktion Dr. Heinrich Krone 11625 A Glückwünsche zu den Geburtstagen des Abg. Kalisch, Frau Dr. Timm, Grüner, Dr. Stark (Nürtingen), Leonhart, Schulze (Berlin) und des Vizepräsidenten Stücklen 11625 D Gedenkworte der Präsidentin zum 50. Jahrestag des Zweiten Weltkrieges; Begrüßung polnischer Gäste und des Bundespräsidenten 11626 A, B Tagesordnungspunkt: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung aus Anlaß des 50. Jahrestages des Ausbruchs des Zweiten Weltkrieges Dr. Kohl, Bundeskanzler 11626 C Brandt SPD 11633 A Dr. Dregger CDU/CSU 11637 A Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE 11640 C Dr. Graf Lambsdorff FDP 11644 B Wüppesahl fraktionslos 11647 C Jahn SPD (Erklärung nach § 31 GO) 11649 B Dr. Lippelt (Hannover) GRÜNE (Erklärung nach § 31 GO) 11649 C Namentliche Abstimmung 11650 A Nächste Sitzung 11651 D Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . 11653 A Anlage 2 Schriftliche Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Hirsch und Dr. -Ing. Laermann (alle FDP) zur Abstimmung über die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 11/5114 und 5117 11653* D Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Seesing (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entschließungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5114 11654* A Deutscher Bundestag — l 1. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. September 1989 11625 154. Sitzung Bonn, den 1. September 1989 Beginn: 9.00 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens SPD 01. 09. 89 * Frau Beer DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Frau Berger (Berlin) CDU/CSU 01. 09. 89 Böhm (Melsungen) CDU/CSU 01. 09. 89 Börnsen (Ritterhude) SPD 01. 09. 89 Dr. Briefs DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Bühler (Bruchsal) CDU/CSU 01. 09. 89 * Carstensen (Nordstrand) CDU/CSU 01. 09. 89 Clemens CDU/CSU 01.09.89 Frau Conrad SPD 01. 09. 89 Dr. Daniels (Regensburg) DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Frau Fischer CDU/CSU 01. 09. 89 Frau Fuchs (Verl) SPD 01. 09. 89 Frau Garbe DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Gattermann FDP 01.09.89 Genscher FDP 01.09.89 Graf SPD 01.09.89 Haack (Extertal) SPD 01. 09. 89 Frhr. Heereman von CDU/CSU 01. 09. 89 Zuydtwyck Heimann SPD 01.09.89 Frau Hensel DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Hoss DIE 01.09.89 GRÜNEN Frau Hürland-Büning CDU/CSU 01. 09. 89 Hüser DIE 01.09.89 GRÜNEN Jaunich SPD 01.09.89 Jungmann (Wittmoldt) SPD 01. 09. 89 Frau Kelly DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Klein (Dieburg) SPD 01. 09. 89 Klose SPD 01.09.89 Kretkowski SPD 01.09.89 Kroll-Schlüter CDU/CSU 01.09.89 Leonhart SPD 01.09.89 Lüder FDP 01.09.89 Maaß CDU/CSU 01.09.89 Meyer SPD 01.09.89 Möllemann FDP 01.09.89 Dr. Müller CDU/CSU 01. 09. 89 * Frau Nickels DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Niegel CDU/CSU 01. 09. 89 * Dr. Nöbel SPD 01. 09. 89 Pfuhl SPD 01. 09. 89 * Dr. Pick SPD 01. 09. 89 Regenspurger CDU/CSU 01.09.89 Reuschenbach SPD 01.09.89 Dr. Rüttgers CDU/CSU 01. 09. 89 Frau Saibold DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Dr. Scheer SPD 01. 09. 89 Anlagen zum Stenographischen Bericht Abgeordnete(r) Fraktion entschuldigt bis einschließlich Frau Schilling DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Dr. Schöfberger SPD 01. 09. 89 Seehofer CDU/CSU 01.09.89 Stobbe SPD 01.09.89 Stratmann DIE 01.09.89 GRÜNEN Such DIE 01.09.89 GRÜNEN Frau Terborg SPD 01. 09. 89 Tietjen SPD 01.09.89 Dr. Todenhöfer CDU/CSU 01. 09. 89 Uldall CDU/CSU 01.09.89 Vogt (Düren) CDU/CSU 01. 09. 89 Voigt (Frankfurt) SPD 01. 09. 89 Frau Dr. Vollmer DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Vosen SPD 01.09.89 Frau Walz FDP 01. 09. 89 Wartenberg (Berlin) SPD 01. 09. 89 Dr. von Wartenberg CDU/CSU 01. 09. 89 Westphal SPD 01.09.89 Dr. Wieczorek SPD 01. 09. 89 Frau Wilms-Kegel DIE 01. 09. 89 GRÜNEN Wissmann CDU/CSU 01.09.89 Frau Würfel FDP 01. 09. 89 Zierer CDU/CSU 01.09.89 Dr. Zimmermann CDU/CSU 01. 09. 89 * tür die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlage 2 Schriftliche Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Frau Dr. Hamm-Brücher, Dr. Hirsch und Dr.-Ing. Laermann (alle FDP) zur Abstimmung über die Entschließungsanträge auf den Drucksachen 11/5114 und 11/5117 Die Unterzeichner werden keinem der beiden Entschließungsanträge zustimmen, weil sie damit ihr Bedauern zum Ausdruck bringen wollen, daß es anläßlich des Gedenkens an den 1. September 1939 nicht gelungen ist, eine gemeinsame Erklärung aller Fraktionen zu verabschieden. Dann hätte lieber auf Entschließungen ganz verzichtet werden sollen. 11654 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 154. Sitzung. Bonn, Freitag, den 1. September 1989 Anlage 3 Erklärung nach § 31 GO des Abgeordneten Seesing (CDU/CSU) zur Abstimmung über den Entschliefungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 11/5114 Die Bundesrepublik Deutschland kann und darf keine Gebietsansprüche gegen die Volksrepublik Polen erheben. Die Grenzen eines wiedervereinigten Deutschlands mit Polen werden aber erst in einer Friedensordnung festgelegt, die die Teilung Europas beendet. Dabei geht es darum, das friedfertige Zusammenleben des deutschen und des polnischen Volkes auf immer zu sichern. Ich befürchte, daß der Entschließungsantrag der SPD-Fraktion auf Drucksache 11/5114 diesem Ziel nicht dient, sondern die Konfrontation zwischen Menschen unterschiedlicher Auffassung fördern soll. Er könnte mehr Unfrieden als Frieden schaffen. Deswegen muß ich diesen Antrag ablehnen.
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    Rede von Dr. Helmut Kohl


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)

    Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wir gedenken heute in Deutschland, in Europa und weltweit des Beginns des Zweiten Weltkrieges vor 50 Jahren. Als frei gewählte Vertreter des deutschen Volkes sind wir hier besonders in der Pflicht. Wir stellen uns diesem Auftrag — mit jenem Ernst, den dieser Tag von uns verlangt.
    Trauer bewegt uns an diesem Tag - und das Bewußtsein für die Verantwortung, die wir in Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg empfinden.
    Besondere Verantwortung erwächst uns aus der Tatsache, daß der Zweite Weltkrieg durch jenes verbrecherische Regime entfesselt wurde, das damals die Staats- und Regierungsgewalt in Deutschland innehatte.
    Trauer empfinden wir über das Leid, das Menschen und Völkern im deutschen Namen und von deutscher Hand zugefügt wurde. Wir trauern um die vielen unschuldigen Opfer aus der Mitte unseres eigenen Volkes.
    Dieser Krieg war nach dem Willen seiner Urheber ein gnadenloser Rassen- und Vernichtungskrieg. Er erreichte eine Dimension des Grauens, die es nie zuvor gegeben hatte — und die es nie wieder geben darf. Er war letzte Konsequenz einer totalitären Ideologie, die in ihrer Wahnvorstellung eine Rasse zum Götzen erhoben hatte.
    Die Erinnerung daran wachzuhalten, schulden wir den unschuldigen Opfern, allen voran jenen der Shoah, des beispiellosen Völkermords an den europäischen Juden; den Polen, denen Hitler den totalen Versklavungs- und Ausrottungskrieg erklärt hatte; den Sinti und Roma; den vielen anderen Opfern der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.
    Wir trauern um die Opfer von Entrechtung und Unterdrückung, die Hitlers Diktatur zunächst über Deutschland und dann über die Welt gebracht hat; um die unschuldigen Opfer an den Fronten des Krieges und der Heimat; um die Opfer der Vertreibungen.
    Wir schließen in unser Gedenken auch die Millionen von Soldaten aus so vielen Nationen ein, die in Kriegsgefangenschaft ums Leben kamen oder als Kriegsversehrte in die Heimat zurückkehrten.
    Wer könnte die Frauen vergessen, die vergeblich auf ihre Männer, und die Mütter, die vergeblich auf ihre Söhne gewartet haben! Wie viele Kinder haben Vater oder Mutter verloren!
    Sich der unschuldigen Opfer zu erinnern, heißt: das Grauen im Gedächtnis zu bewahren, es sich — im ursprünglichen Wortsinne — zu vergegenwärtigen. Es muß uns immer Mahnung sein und darf nicht durch falsche Vergleiche verharmlost werden. Hüten wir uns davor, gedankenlos oder gar in polemischer Absicht Worte wie „Faschismus" oder „Widerstand"



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    ohne weiteres auf aktuelle Sachverhalte anzuwenden!
    Es gibt nicht nur die Versuchung, Vergangenes zu verharmlosen. Gedanken- und gefühllos sind auch jene, die vor dem Leid in unserer Zeit die Augen verschließen. Wir sollten in diesem Augenblick auch an jene Menschen und Völker denken, denen noch immer ein Leben in Würde und Freiheit versagt ist.
    Nach diesem Weltkrieg und der Vernichtungswut der Jahre 1939 bis 1945, nach Auschwitz und Babi Jar, nach Oradour und Lidice konnte unsere Welt nie wieder so sein wie davor. Deshalb müssen sich Traditionen und scheinbare Selbstverständlichkeiten immer wieder einer kritischen Prüfung unterziehen lassen.
    Kontinuität, meine Damen und Herren, ist nur verantwortbar als bewußtes Anknüpfen an das Gute, das sich eben nicht zerstören läßt. Dazu gehören die freiheitlichen Traditionen in der Geschichte unseres Volkes. Sie sind die sittliche Substanz, aus der wir, vor allem die Gründungsväter und -mütter unserer Demokratie, die Bundesrepublik Deutschland formten — das freiheitlichste Gemeinwesen, das es je auf deutschem Boden gab.
    Gewiß: Auch nach 1945 meldeten sich noch manche Unbelehrbaren und Unverbesserlichen zu Wort. Doch wurden sie — und dafür sind wir dankbar — von den allermeisten Überlebenden entschieden verurteilt und ein für allemal zurückgewiesen. Denn diese hatten die Wirkung der alten Unheilslehren am eigenen Leibe erfahren. Sie wußten nur zu genau um deren verheerende Wirkung.
    Das Böse in der Geschichte hat auf Dauer keinen Bestand. Das gibt uns Hoffnung. Mit seiner Wahnvorstellung vom Rassenstaat widersetzte sich Hitler jeder historischen Erfahrung. Die Geschichte ging über ihn hinweg. Nach zwölf Jahren versank das von ihm so genannte „Tausendjährige Reich" in Schutt und Asche.
    Es ist wahr: Allzu viele Menschen in Deutschland, auch manche im Ausland, hatten sich vom Tyrannen blenden und irreleiten lassen. Das Urteil über die NS-Diktatur hängt indes allein von ihren Untaten ab, ihrem Vernichtungsfeldzug und dem Völkermord.
    Die Wunden, die der Zweite Weltkrieg geschlagen hat, sind, wie wir wissen, bis heute noch nicht verheilt. Sie haben sich ins Gedächtnis der Völker eingebrannt, und sie haben die Menschen auch persönlich gezeichnet — jeden einzelnen, der diese Zeit des Schreckens erlebt hat, und sei es als Kind.
    Mich selbst lassen bis heute die Bilder nicht los, die sich mir 1939 — ich war damals neun Jahre alt — und in den Kriegsjahren danach eingeprägt haben. Ich erinnere mich noch heute an die Schrecken der Bombennächte in meiner Heimatstadt, an die vielen Toten auf den Straßen und in zerstörten Häusern.
    Andere haben noch heute die Viehwaggons der Todeszüge vor Augen, vollgepreßt mit Menschen auf dem Weg in die Vernichtungslager; die Schlachtfelder des Krieges, wo Millionen von Soldaten Angst, Not und Tod erlitten; die endlos scheinenden Kolonnen ausgemergelter Kinder, Frauen und alter Menschen auf der Flucht und bei der Vertreibung und die
    Flüchtlingszüge, in denen sich Mütter an ihre erfrorenen Kinder klammerten.
    Jene, die damals unschuldig ihr Leben verloren, und jene, die die Schrecken überlebten — sie alle mahnen, nicht zu vergessen, daß die unveräußerliche Würde des Menschen immer und überall Maßstab unseres Handelns bleiben muß. Prüfstein ist dabei immer die Würde des Schwächsten.
    Gerade bei uns in Deutschland darf die Erinnerung an das Vergangene nicht verlorengehen. Sie ist uns Deutschen eine schwere Last. Aber sie hat uns auch geholfen, unser Gemeinwesen, unsere Republik verantwortungsbewußt zu gestalten. Sie bleibt Voraussetzung dafür, daß uns das auch in Zukunft gelingt.
    Anders als nach dem Ersten Weltkrieg gab es nach 1945 keine Diskussion über die Kriegsschuld. Hitler hat den Krieg gewollt, geplant und entfesselt. Daran gibt es nichts zu deuteln. Wir müssen entschieden allen Versuchen entgegentreten, dieses Urteil abzuschwächen. Das ist ein Gebot der Wahrhaftigkeit und des politisch-moralischen Anstands.
    Es ist auch Gebot eines recht verstandenen Patriotismus, meine Damen und Herren. Denn Hitlers Vernichtungswille hatte sich zuletzt auch gegen unser eigenes Volk gerichtet. Im Angesicht der totalen Niederlage wollte er es mit sich in den Abgrund reißen. Er hatte von „Volksgemeinschaft" gesprochen. Doch in Wahrheit wollte er viele Gruppen unseres Volkes ausgrenzen, nicht integrieren. Er war von der Wahnidee der Rasse beherrscht. Ihr ordnete er alles unter, auch die Idee der Nation.
    Er hatte von „göttlicher Vorsehung" gesprochen. Doch in Wahrheit ging es ihm um die Zerstörung religiöser Bindungen, um die Zerstörung christlich geprägter Moralität. Die sittliche Kultur unseres Landes, die sittliche Kultur Europas bedeutete ihm nichts, die eigene Willkür alles.
    Wir dürfen am heutigen Tag dankbar feststellen, daß sich unsere Bundesrepublik Deutschland, unser freiheitliches Gemeinwesen, fundamental von allem unterscheidet, was die nationalsozialistischen Gewaltherrscher anstrebten. Wir haben in über 40 Jahren durch gemeinsame Anstrengung eine Republik aufgebaut, die der Freiheit und dem Frieden verpflichtet ist und hohe Achtung in der Welt genießt. Unsere Bundesrepublik Deutschland ist fest gegründet auf genau jene Werte, die Hitler zutiefst verhaßt waren und die er fanatisch bekämpfte.
    Meine Damen und Herren, die Männer und Frauen, die im Parlamentarischen Rat über das Grundgesetz berieten, waren sich dieses Gegensatzes voll bewußt. Sie handelten aus persönlicher Erfahrung heraus. Sie hatten den Aufstieg des Nationalsozialismus erlebt. Doch die wenigsten von ihnen hatten sich damals vorstellen können, wohin die Hitler-Diktatur einmal führen würde. „Wehret den Anfängen! " — das war deshalb ihr Leitgedanke. Denn das Unheil nahm nicht erst 1939, sondern schon Jahre davor, schon vor 1933, seinen Lauf: Was zu Beginn noch aufhaltsam gewesen wäre, ließ sich im Lauf der Zeit immer schwerer anhalten oder gar rückgängig machen.



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges lehrt zudem, daß Macht, zu welchem Zweck auch immer verliehen, nur durch Gegenmacht zu kontrollieren ist.
    Die Schuld der nationalsozialistischen Machthaber wird um kein Jota verkleinert, wenn wir heute feststellen: Im Innern versagten Teile der gesellschaftlichen und politischen Eliten. Der Demokratie von Weimar hatten zu viele die Loyalität verweigert. Und später gaben sich nicht wenige — teilweise bis zum Schluß — der Illusion hin, der Fanatismus der nationalsozialistischen Machthaber lasse sich durch Kompromisse und Zusammenarbeit zähmen.
    Es stimmt auch, daß europäische Mächte ungewollt eine Entwicklung förderten, die Hitlers Pläne objektiv begünstigte. Sie hatten ihn auch falsch eingeschätzt.
    Die verbreitete Sehnsucht nach „Frieden in unserer Zeit" — wie Neville Chamberlain es 1938 nach München ausdrückte — war gewiß verständlich. Aber sie war ein schlechter Ratgeber. Damals kam es darauf an, die Pläne des Diktators mit wachem Blick zu durchschauen.
    Nur eine umfassende Balance der Kräfte vermag einen dauerhaften Frieden verläßlich zu garantieren. Wahrer Friede setzt jedoch mehr voraus. Deshalb bekennen wir uns in unserem Grundgesetz ohne jeden Vorbehalt „zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt" .
    Aus den Erfahrungen der Zwischenkriegszeit, meine Damen und Herren, ist der Schluß zu ziehen, daß ein fairer Ausgleich nicht gelingen kann, wenn guter Wille nur auf einer Seite besteht.
    Die Vorgeschichte des Zweiten Weltkrieges hat die Gemeinschaft freier Völker gelehrt, wie wichtig es ist, wachsam zu sein. Diese Lehre gilt nach wie vor — mögen wir jetzt auch im Verhältnis zu unseren Nachbarn im Osten und Südosten Europas Zeugen eines grundlegenden Wandels sein. Wir alle wünschen uns, daß die ermutigenden Entwicklungen unserer Zeit Bestand haben, ja, daß sie sich fortsetzen mögen. Was in unserer Kraft steht, wollen wir dazu beitragen. Denn gerade wir Deutschen sind dazu besonders verpflichtet.
    Das folgt nicht zuletzt aus dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939. Wir Deutsche begreifen die besondere Verantwortung, die uns daraus erwächst, daß Hitler nach Abschluß dieses von vielen so genannten Teufelspaktes Polen mit Krieg überzog. Damit wurde dieses Land das erste Opfer des nationalsozialistischen Rassen- und Vernichtungskrieges.
    Die damaligen Vereinbarungen bedeuteten eine schändliche Mißachtung der Unabhängigkeit und territorialen Integrität Polens, der baltischen Staaten, Finnlands und Rumäniens. Dieser Anschlag auf das Völkerrecht, nicht zuletzt auf das Selbstbestimmungsrecht, war durch nichts, aber auch gar nichts zu rechtfertigen. Wir verurteilen ihn und die nachfolgenden Gewalttaten ohne jede Einschränkung.
    Die Bundesregierung hat mehrfach zum Ausdruck gebracht, daß die Vereinbarungen von 1939 für die Bundesrepublik Deutschland nicht rechtsgültig sind. Das bedeutet auch, daß wir aus dem Pakt selbst und aus seinen Zusatzvereinbarungen keinerlei Rechtfertigung für nachfolgende Völkerrechtsverstöße des Deutschen Reiches und der Sowjetunion herleiten.
    Der Hitler-Stalin-Pakt war das Produkt eines zynischen Zusammenspiels zweier Diktaturen. Die eine der beiden ist in dem von ihr selbst entfachten Inferno ein für allemal untergegangen. Die Sowjetunion steht — 36 Jahre nach Stalins Tod — mitten in einem schmerzhaften Prozeß der kritischen Selbstprüfung im Zeichen „neuen Denkens".
    Im Zweiten Weltkrieg nahm eine Entwicklung ihren Anfang, die sich nach dessen Ende gewaltsam vollzog. Unser Vaterland wurde geteilt. Für die Deutschen in der DDR und für viele Völker in Mittel-, Ost- und Südosteuropa wurde das Kriegsende zum Ausgangspunkt für die Ablösung der einen Diktatur durch eine andere. Die Spaltung Deutschlands und Europas läßt sich durch den Zweiten Weltkrieg zum Teil erklären, jedoch in keiner Weise rechtfertigen.
    Deshalb sind Äußerungen wie jene von Generalsekretär Gorbatschow hier in Bonn im Juni dieses Jahres, wonach die Nachkriegsperiode zu Ende gehe, ein Signal der Hoffnung für alle Menschen und Völker, die unter der Teilung Europas und Deutschlands ganz unmittelbar zu leiden haben und die sich wünschen, daß der gegenwärtige Zustand endlich friedlich überwunden wird.
    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, über viele Generationen hinweg hat das einst geteilte Polen unverzagt an der Idee seiner nationalen Zusammengehörigkeit festgehalten. Gerade die Erinnerung an das Schicksal Polens kann uns Deutschen helfen, die Last der Teilung zu tragen, solange wir nicht „in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands" vollendet haben.
    Im gemeinsamen Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung fühlen wir uns in besonderer Weise mit dem polnischen Volk verbunden. Der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels Wladyslaw Bartoszewski, der unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft Schreckliches am eigenen Leib erdulden mußte, hat hierzu vor einiger Zeit erklärt: „Die Überwindung der deutschen Teilung liegt auch im Interesse Polens. Wir wollen westwärts von uns eine Demokratie." Professor Bartoszewski hat als Freund der Deutschen die Gemeinsame Erklärung polnischer und deutscher Katholiken zum 1. September 1989 unter dem Titel „Für Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in Europa" unterzeichnet.
    Auch der neue polnische Ministerpräsident Tadeusz Mazowiecki gehört zu den Unterzeichnern. Ich will gerne hier und heute die Gelegenheit nutzen, dem polnischen Ministerpräsidenten von Herzen unsere guten Wünsche für sein schwieriges Amt zu übermitteln.

    (Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN)




    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Wir wollen, daß er Erfolg hat. Wir wollen ihn nach Kräften dabei unterstützen; das will ich hier auch für mich persönlich bekennen.
    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, es gibt keinen Zweifel: Der gegenwärtige politische und gesellschaftliche Wandel in den Staaten des Warschauer Pakts eröffnet die historische Chance zur Verwirklichung der Menschenrechte für all jene Europäer, denen sie in den vergangenen Jahrzehnten verweigert wurden — und damit auch für alle Deutschen.
    Die Bundesregierung ist fest entschlossen, diese Chance zu nutzen. Unser Ziel bleibt — so hat es Konrad Adenauer beim Deutschlandtreffen der Schlesier am 11. Juni 1961 ausgedrückt —, „daß Europa einmal ein großes, gemeinsames Haus für alle Europäer wird, ein Haus der Freiheit" .
    Im Europa der Zukunft muß es vor allem um Selbstbestimmung und Menschenrechte gehen, um Volkssouveränität und nicht so sehr um Grenzen oder um Hoheitsgebiete. Denn nicht souveräne Staaten, sondern souveräne Völker werden den Bau Europas dereinst vollenden.
    Nie wieder darf Europa den verhängnisvollen Weg von der Humanität über die Nationalität zur Bestialität gehen, wie ihn Grillparzer im vergangenen Jahrhundert vorausgesagt hatte.
    Im deutschen Namen und von deutscher Hand ist dem polnischen Volk Furchtbares angetan worden. Wer weiß hierzulande eigentlich noch, daß die Konzentrationslager auf polnischem Boden auch dazu bestimmt waren, die Eliten dieses Volkes auszulöschen? Aussöhnung ist nur möglich, wenn wir die ganze Wahrheit aussprechen.
    Wahrheit ist auch, daß über zwei Millionen Deutsche — unschuldige Menschen — auf Flucht und Vertreibung ihr Leben verloren. Der Verlust der Heimat hat bei vielen Millionen unserer Landsleute tiefe Wunden geschlagen.
    Diese bitteren Erfahrungen dürfen nicht verdrängt werden. Aber wir wollen daraus lernen. Denn welchen Sinn soll es haben, wenn Deutsche und Polen gegeneinander aufrechnen, wie dies einige hüben und drüben leider immer noch tun? Spätere Generationen werden uns danach beurteilen, was wir heute dafür tun, daß sie in Frieden und in gemeinsamer Freiheit leben können.
    Das Beispiel der deutsch-französischen Aussöhnung und Freundschaft beweist, daß Gräben, die jahrzehnte- oder gar jahrhundertelang bestanden haben, sich überwinden lassen. Und das Beispiel unseres Verhältnisses zum Staate Israel und zu Juden in aller Welt zeigt, daß bei gutem Willen auf allen Seiten selbst über tiefe Abgründe Brücken geschlagen werden können.
    Wir wollen Verständigung zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk. Das ist unsere Pflicht, und es entspricht auch der Sehnsucht beider Völker. Diesem von uns allen empfundenen Wunsch hat auch der Herr Bundespräsident zu Beginn dieser Woche in seiner Botschaft an den polnischen Staatspräsidenten Ausdruck verliehen. Fünfzig Jahre nach
    Beginn des Zweiten Weltkriegs ist die Zeit gekommen für eine dauerhafte Aussöhnung.
    Wir wissen um die Bitterkeit, die im Krieg gegen Deutschland entstand — in Polen, in Frankreich und später in der Sowjetunion, die über 20 Millionen Kriegsopfer zu beklagen hatte. Die allermeisten Völker Europas erfuhren schweres Leid von deutscher Hand. Viele davon sind heute unsere Partner, ja Freunde.
    Dankbar sind wir all jenen, die uns nach dem Ende von Krieg und Gewaltherrschaft die Hand zur Versöhnung reichten, allen voran dem amerikanischen Volk, das schon sehr früh mit großzügiger Nahrungsmittel- und Aufbauhilfe ein unvergessenes Zeichen tätiger Nächstenliebe und auch politischer Weitsicht setzte. Weise Staatsmänner wie Präsident Harry S. Truman und George Marshall und viele, viele Privatpersonen hatten Anteil an solchen Werken des Friedens.
    Aus Frankreich nenne ich Joseph Rovan, der schon wenige Monate nach seiner Befreiung aus dem Konzentrationslager Dachau den Satz niederschrieb: „Je mehr unsere Feinde die Züge des menschlichen Gesichts ausgelöscht haben, um so mehr müssen wir diese in ihnen selbst respektieren, ja sogar verschönern. "
    Bei der Verständigung mit Polen hat es in den letzten Jahrzehnten schon wegweisende Schritte gegeben. Ich will hier besonders die vielfältigen Initiativen aus dem Bereich der Kirchen erwähnen.
    Mit dem Warschauer Vertrag von 1970, den damals der Kollege Brandt unterzeichnete, gelang ein weiterer Schritt in diese Richtung. An Buchstaben und Geist dieses Vertrages werden wir uns weiterhin halten. Wir sollten darüber nicht weiter diskutieren. In der Präambel bekunden Polen und die Bundesrepublik Deutschland ihren Willen, der inzwischen herangewachsenen neuen, der jungen Generation eine friedliche Zukunft zu sichern und — ich zitiere — „dauerhafte Grundlagen für ein friedliches Zusammenleben und die Entwicklung normaler und guter Beziehungen" zu schaffen.
    Anfang der 80er Jahre, meine Damen und Herren, als Polen eine schwere Zeit durchmachte, brachte die Bevölkerung der Bundesrepublik Deutschland in einer Welle großer Hilfsbereitschaft ihre Solidarität mit dem polnischen Volk zum Ausdruck.
    Ich bin überzeugt, daß sich die gesellschaftliche Öffnung in Polen günstig auf unsere Bemühungen auswirken wird. Die Möglichkeiten für eine Verständigung zwischen unseren Völkern werden um so besser, je weiter die Entwicklung zu mehr persönlicher Freiheit in Polen voranschreitet. Denn wahre Versöhnung ist nicht nur eine Frage menschlichen Wollens, sondern natürlich auch der politischen Gegebenheiten.
    Vorurteile und Mißtrauen haben auf Dauer keine Chancen mehr, wo Grenzen überschritten werden dürfen, wo Informationen und Meinungen frei ausgetauscht werden und Menschen — vor allem auch junge Leute — einander in Freiheit begegnen können.



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    So konnte die deutsch-französische Aussöhnung nicht zuletzt deshalb so gut gelingen, weil sie auf dem gemeinsamen Fundament von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit aufbaute und weil in immer häufiger werdenden Begegnungen und Gesprächen zwischen Franzosen und Deutschen ein neues Verständnis füreinander wuchs.
    Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, wo die Freiheit verlorengeht, ist bald der Friede verspielt — zunächst im Innern und dann nicht selten auch nach außen.
    Die Hitler-Diktatur und der Zweite Weltkrieg warnen uns immer wieder vor der Verführungskraft des Extremismus oder gar des Totalitarismus. Die Gefahr des Extremismus ist stets gegenwärtig — auch in einer freiheitlichen, offenen Gesellschaft.
    Es ist für eine freiheitliche Demokratie daher unerläßlich, solchen Versuchungen so früh wie möglich entgegenzuwirken. Vor dem Hintergrund der Geschichte der nationalsozialistischen Diktatur heißt das, Menschen durch den Rechtsstaat davor zu bewahren, eines Tages den Verstrickungen des Totalitarismus ausgesetzt zu sein.
    Meine Damen und Herren, die freiheitliche Demokratie ist kein abstraktes Prinzip. Sie betrifft jeden einzelnen ganz unmittelbar. Es geht um seine Freiheit. Es geht um sein persönliches Glück. Tragen wir gemeinsam dazu bei, daß dies allen bewußt bleibt.
    Die Menschen sind vor jener Zweideutigkeit in einer totalitären Diktatur zu schützen, die sich aus Verführung und Gewalt, aus Recht und Unrecht, aus Anpassung und Zwang zusammensetzt. Das nationalsozialistische Regime verstrickte Menschen guten Willens in ein verwirrendes, in ein diabolisches Netz, dem zu entkommen immer schwieriger wurde.
    Die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwammen mehr und mehr. Die Redlichkeit des einzelnen war immer weniger Gewähr für richtiges Verhalten. Mit dem Schwarz und Weiß eines Holzschnitts läßt sich daher ein gerechtes Bild der Generationen unserer Eltern und Großeltern nicht zeichnen.
    Bis heute empfinden wir Deutschen in besonders schmerzlicher Weise den zwiespältigen Charakter menschlicher Existenz in dem von Hitler entfesselten Krieg. Es gehört zur Tragödie jener Zeit, daß die Loyalität und die Vaterlandsliebe von Millionen Menschen — an der Front wie in der Heimat — für verbrecherische Zwecke mißbraucht wurden.
    Es gehört zur Perfidie und Perversität totalitärer Systeme, daß sie Menschen gezielt in Situationen verstricken, in denen es zwischen Schuld und Selbstgefährdung kaum mehr eine Alternative gibt.
    Auf der einen Seite stehen die Soldaten, die an den Fronten des Zweiten Weltkriegs kämpften und litten. Die meisten von ihnen waren ehrlich und aufrichtig überzeugt, ihrem Land treu zu dienen. Es gab zahlreiche Beispiele von Tapferkeit und menschlicher Größe, denen Hochachtung gebührt.
    Solche Einstellungen verdienen es nicht, herabgesetzt oder gar verhöhnt zu werden. Denn mit ihnen verbindet sich die Erfahrung von Tod, Schmerz und
    Angst — und bei vielen von quälenden Zweifeln des Gewissens.
    Auf der anderen Seite stehen die Verbrechen der Nationalsozialisten. Sie lassen sich nicht aus dem Kriegsgeschehen ausblenden. An diesem Widerspruch mußten damals viele leiden.
    Wenn wir von den Trümmern sprechen, die der Nationalsozialismus hinterlassen hat, dann sollten wir uns stets auch der Verheerungen bewußt bleiben, die in den Herzen und in den Köpfen der Menschen angerichtet wurden. Sie lasten als seelische Hypothek nicht nur auf jenen, die in Verstrickung gerieten. Sie belasten Enkel und Kinder, die sich selbst um ein gerechtes Urteil über die Generationen ihrer Eltern und Großeltern bemühen müssen — vielleicht mehr bemühen müssen, als man gelegentlich den Eindruck hat.
    Wir müssen uns hüten, aus heutiger Zeit vorschnelle Urteile zu fällen. Wer von uns, meine Damen und Herren, könnte guten Gewissens von sich behaupten, daß er im Angesicht des Bösen die Kraft zum Martyrium aufbrächte? Und wer von uns kann eigentlich ermessen, was es damals bedeutete, im Bewußtsein der Gefahr für die eigene Person auch das Wohl der eigenen Familie aufs Spiel zu setzen?
    Die Menschen heute sind nicht besser und nicht schlechter als die Menschen damals. Aber sie stehen glücklicherweise nicht unter dem Zwang, sich unter den Bedingungen einer totalitären Diktatur entscheiden zu müssen.
    Wir erinnern uns in Dankbarkeit daran, daß selbst in der dunkelsten Periode unserer Geschichte, im Zeichen von Krieg und Diktatur, der Geist der Humanität nicht zerstört werden konnte. Es gab viele bewegende Beispiele von Hilfsbereitschaft, von Großherzigkeit und von Menschlichkeit — auch über die Fronten hinweg.
    Es gab Männer und Frauen, die Widerstand leisteten. Unter ihnen waren nicht wenige, die zunächst dem Diktator gedient hatten, bis sie merkten, daß sie — wie wohl auch die Mehrheit der Deutschen — verführt, verraten und ausgenutzt wurden. Sie hatten die Kraft umzukehren; viele haben dafür mit ihrem Leben bezahlt.
    Allein die Demokratie verlangt den Menschen nicht ab, was in der Regel über ihre Kräfte geht. Sie bietet ihnen Schutz vor der furchtbaren Entscheidung, die die nationalsozialistische Diktatur ihnen zumutete: nämlich allzu leicht Komplize zu werden oder Heldenmut beweisen zu müssen.
    Gerade in Erinnerung an die Hitler-Diktatur ist es daher wichtig, Bewegungen zu widerstehen, die eine umfassende Erlösung von allen Übeln dieser Welt als Programm verkünden. Wer — unter welchen Vorzeichen auch immer — das vollkommene Heil verheißt, der begibt sich mit Sicherheit auf den Weg zu neuem Unheil. Er hat nichts dazugelernt.
    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Abgründe unserer jüngsten Geschichte lehren, daß es zwischen Demokratie und Diktatur keinen Mittelweg, keine Gemeinsamkeit der Werte und keinen moralischen Kompromiß geben kann. Freiheit und



    Bundeskanzler Dr. Kohl
    Unfreiheit verhalten sich nun einmal so unverträglich zueinander wie Feuer und Wasser.
    Die Diktatur mag Menschen täuschen und blenden können; allein die Demokratie gewährt ihnen Selbstbestimmung, sie überzeugt durch Sinn für das menschliche Maß, durch Solidität und Berechenbarkeit. In dieser Nüchternheit liegt ihre Größe — und zugleich ein Grund dafür, daß sie manchem so wenig glanzvoll erscheint.
    Die Demokratie ist eben nicht geschaffen für den Zustand des nicht enden wollenden Rausches, sondern für die Normalität des Alltags. Sie setzt nicht auf das Heroische und auf das Außergewöhnliche, sondern auf das Humane und — im besten Sinne des Wortes — auf das Normale.
    Ausdruck einer lebendigen Demokratie sind Parteien und das Recht auf Opposition. Eben deshalb wurden die Parteien von Hitler so erbittert und gnadenlos bekämpft. Denn er wußte sehr wohl: Waren die Parteien erst einmal beseitigt, dann war auch die Demokratie tot.
    Wir sollten uns häufiger daran erinnern, daß führende Politiker der Nachkriegszeit wie der SPD-Vorsitzende Kurt Schumacher und der erste CDU-Vorsitzende Andreas Hermes die Gefängnisse und Konzentrationslager, ja die Todeszellen der NS-Diktatur erlebt hatten.
    Unsere Schlußfolgerung aus den Erfahrungen der Zeit bis 1933 muß lauten: Extremismus auf der politischen Rechten oder Linken kann nur dann Erfolg haben und zur Macht gelangen, wenn sich die Bürger von den demokratischen Parteien abwenden oder abseits stehen.
    Das Verhängnis ist kaum noch aufzuhalten, wenn zudem gesellschaftliche und politische Eliten die Hand reichen — womöglich in der Illusion, sie würden mit den Extremisten schon fertig werden. Wenn wir den Anfängen gemeinsam wehren, hat der Extremismus keine Chance. Wenn wir ihn dagegen als etwas Normales verharmlosen, kann er auch unsere Demokratie gefährden. Dagegen anzukämpfen, meine Damen und Herren, dafür ist es nie zu früh.
    Überfordern wir nicht unsere Demokratie — sie ist ein kostbares und auch durchaus zerbrechliches Gut! Lassen wir davon ab, sie als ein Allheilmittel für alle Nöte und Probleme dieser Welt mißzuverstehen. Verteidigen wir immer und überall unsere freiheitliche, rechtsstaatliche Ordnung, denn sie allein garantiert den Bürgern Freiheit und Recht. Sie allein schützt den einzelnen vor den Gefahren des Totalitären. Jeder von uns ist dazu aufgerufen, sie zu seiner persönlichen Angelegenheit zu machen.
    Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, Gerechtigkeit, Achtung des Rechts und Rechtssicherheit sind für die Existenz einer Demokratie so wichtig wie die Luft zum Atmen. Dies ist das wichtigste Vermächtnis des deutschen Widerstandes. Wer heute konsequent den Rechtsstaat verteidigt, wird morgen nicht in die Lage kommen, Widerstand leisten zu müssen. Gerechtigkeit, Achtung des Rechts und Rechtssicherheit wiederherzustellen war das zentrale Ziel des Widerstandes. Das trifft zumindest auf die große Mehrheit
    aller zu, die sich tapfer gegen das nationalsozialistische Regime erhoben. Würdigen wir daher heute gleichermaßen den Tischlergesellen Johann Georg Elser, den Obersten Claus Graf Schenck von Stauffenberg, den Kreisauer Kreis um Helmuth Graf James von Moltke, die „Weiße Rose" um die Geschwister Scholl, standhafte Persönlichkeiten wie Julius Leber und Carl Goerdeler und die vielen, vielen anderen, die sich aus Gewissensgründen der Gewaltherrschaft mutig entgegenstellten.

    (Frau Oesterle-Schwerin [GRÜNE]: Und die Lilo Herrmann!)

    Es bedeutet nicht nur eine Herabsetzung des deutschen Widerstandes, sondern es ist historisch falsch und gefährlich, den untrennbar auf die Diktatur bezogenen Widerstandsbegriff beliebig auf aktuelle Sachverhalte zu übertragen. Mit seinem Monopolanspruch bekämpfte der Nationalsozialismus alle anderen Weltanschauungen radikal. Als Feinde galten ihm gleichermaßen Christen und Sozialisten, Liberale und Gewerkschafter, Konservative und Kommunisten. Ohne das Zusammenwirken von Menschen ganz unterschiedlicher politischer Überzeugungen wäre uns Deutschen der Neuanfang nach 1945 so nicht gelungen.
    Nicht Erfolg oder Mißerfolg entscheiden über die sittliche Größe des Widerstandes. Das Attentat auf Hitler mußte gewagt werden — um jeden Preis.
    Besonders eindrucksvolle Worte hat Oberst Henning von Tresckow gefunden, der Stauffenbergs Handeln und Denken seit 1943 wesentlich beeinflußte. Wenige Stunden, bevor er in den Tod ging, faßte er noch einmal zusammen, was der tiefste Beweggrund seines Handelns war — ich zitiere — :
    Ich halte Hitler nicht nur für den Erzfeind Deutschlands, sondern auch für den Erzfeind der Welt. Wenn ich in wenigen Stunden vor den Richterstuhl Gottes treten werde, um Rechenschaft abzulegen über mein Tun und mein Unterlassen, so glaube ich mit gutem Gewissen das vertreten zu können, was ich im Kampf gegen Hitler getan habe. Wenn einst Gott Abraham verheißen hat, er werde Sodom nicht verderben, wenn auch nur zehn Gerechte darin seien, so hoffe ich, daß Gott auch Deutschland um unsertwillen nicht vernichten wird.
    Wir schulden den Männern und Frauen des deutschen Widerstandes tiefen Dank. Hohen Respekt zollen wir auch jenen, die sich durch Emigration dem Unrechtsregime verweigerten oder vor ihm fliehen mußten. Darunter war auch mancher, der dann aus Liebe zu seinem Vaterland die Hitler-Diktatur von außen bekämpfte. Denken wir an die Beispiele der Schriftsteller, die den Versuch unternahmen, mit der Macht ihres Wortes die Welt aufzurütteln und aufmerksam zu machen auf das, was in Deutschland geschah.
    Die allermeisten Emigranten haben nicht leichten Herzens ihr Vaterland verlassen, und manchem von ihnen ist es später auch schwergefallen zurückzukehren. Um so dankbarer sind wir jenen, die mithalfen, unsere Bundesrepublik Deutschland aufzubauen. Denn bis heute fördert gerade diese Mitwirkung ganz
    11632 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 154. Sitzung, Bonn, Freitag, den 1. September 1989
    Bundeskanzler Dr. Kohl
    wesentlich die Versöhnungs- und Friedensarbeit unserer Zeit.
    Meine Damen und Herren, ich möchte hier auch an einen Mann erinnern, der für mich zu den großen Helden des 20. Jahrhunderts zählt, an Raoul Wallenberg. Er setzte 1944, im Alter von 32 Jahren, sein Leben ein, um in Budapest Hunderttausend von Ermordung bedrohten Juden das Leben zu retten. 1945 wurde er in die Sowjetunion verschleppt. Er ist seitdem verschollen.
    In meinen Gesprächen habe ich Generalsekretär Gorbatschow auf das ungeklärte Schicksal dieses großen, mutigen Mannes hingewiesen. Ich hoffe sehr, daß in dieser Epoche des Wandels, in der in Staaten des Warschauer Paktes frei auch über das bedrükkende Erbe des Stalinismus gesprochen wird, das Schicksal Raoul Wallenbergs wirklich überzeugend geklärt werden kann. Ich begrüße es sehr, daß die sowjetischen Behörden kürzlich Angehörige von Raoul Wallenberg nach Moskau eingeladen haben.
    Frau Präsidentin, meine sehr verehrten Damen und Herren, an diesem 1. September wende ich mich besonders an die jungen Menschen in Deutschland. Sie tragen keinerlei Schuld für Diktatur und Weltkrieg — nicht kollektiv, weil es das prinzipiell nicht gibt, aber auch nicht individuell, weil ihr Lebensalter sie davor bewahrt.
    Dennoch tragen auch sie Verantwortung, weil die Vergangenheit gegenwärtig bleibt. Keiner von uns, kein Deutscher kann ihr entrinnen. Begreifen wir jedoch die Last der Geschichte auch als Chance: Wer die Geschichte dieses Jahrhunderts kennt, dessen Blick ist geschärft für die Gefahren und Verführungen unserer Zeit.
    Widerstehen wir auch der Versuchung, die während der NS-Zeit in Verruf gebrachten Werte der Heimatliebe und des Patriotismus heute zu verachten, weil sie damals mißbraucht wurden. Patriotismus geringzuschätzen wäre unbewußt im Sinne Hitlers. Generaloberst Ludwig Beck, einer der Männer des 20. Juli 1944, hatte dies erkannt und schrieb einmal tief erschrocken nieder — ich zitiere — : „Dieser Mensch hat ja gar kein Vaterland."
    Liebe zum Vaterland und Liebe zur Freiheit, Patriotismus und europäische Gesinnung dürfen allerdings nie wieder getrennte Wege gehen. Das ist die Konsequenz, die wir gemeinsam ziehen müssen.
    Ebenso kommt es darauf an, Tugenden wie Tapferkeit, Loyalität und Opferbereitschaft untrennbar an fundamentale sittliche Normen zu knüpfen. So leisten die Soldaten unserer Bundeswehr keinen Treueeid auf eine bestimmte Person, sondern sie geloben, jene Werte zu verteidigen, die in unserer freiheitlichen Verfassung, dem vor 40 Jahren verkündeten Grundgesetz, verankert sind.
    Frau Präsident, meine Damen und Herren, die Generation der Gründer unserer Bundesrepublik Deutschland gestaltete die zweite deutsche Demokratie aus den Erfahrungen der Geschichte heraus. Sie führte unser Land auf den Weg jener freiheitlichen Traditionen zurück, die weder Krieg noch Gewaltherrschaft hatten zerstören können.
    Wir dürfen stolz sein auf unsere freiheitliche Verfassung, das Grundgesetz. Wir bekennen uns zum absoluten Vorrang der Würde des einzelnen Menschen in allen Bereichen seines Lebens; zur Absage an Krieg und Gewalt als Mittel der Politik und an jeden Revanchismus — eine Entscheidung, die gerade auch von den deutschen Heimatvertriebenen in der Stuttgarter Charta von 1950 mitgetragen wurde —; zu dem Ziel eines freien und geeinten Deutschland in einem freien und geeinten Europa.
    Es ist ein Zeugnis tiefer Menschlichkeit, daß die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes politischreligiös und rassisch Verfolgten einen Anspruch auf Asyl gewährten. Denn die Humanität eines Gemeinwesens erweist sich nicht nur in der Achtung von Freiheit und Menschenwürde der eigenen Bürger, sondern auch in der Aufgeschlossenheit für die Opfer von Unterdrückung und Gewalt in anderen Ländern.
    All diese Entscheidungen haben die Grundlage dafür gelegt, daß unser Gemeinwesen als friedliebender, dem Recht und der Freiheit verpflichteter Partner in der Welt ein Maß an Anerkennung erlangte, das sich 1945, nach dem Ende von Krieg und Gewaltherrschaft, wohl niemand zu erträumen wagte. Dies 40 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik Deutschland feststellen zu können erfüllt uns mit Genugtuung.
    Heute, meine Damen und Herren, sind wir Zeugen beim Aufbruch Europas in eine neue Epoche. Wir müssen bereit sein, diesen Aufbruch maßgeblich mitzugestalten. Ganz Europa steht ein umfassender Wandel bevor, eine tiefgreifende Veränderung in Wirtschaft und Gesellschaft. Zum erstenmal seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges zeichnet sich die Chance ab, daß es uns gelingt, aus dem Schatten des Ost-WestKonflikts herauszutreten. Was sich auf unserem alten Kontinent entwickelt, schlägt Menschen weltweit in den Bann.
    Welches Volk könnte an diesem Vordringen der Freiheit stärkeres Interesse haben als das unsere? Das Zerbröckeln jahrzehntelanger Verkrustungen in Europa schafft neue Hoffnung auch für die Einheit unseres Vaterlandes. Die Zeit arbeitet für, nicht gegen die Sache der Freiheit.
    So richten wir an diesem Tag der Erinnerung unseren Blick auch nach vorn. Bei aller Trauer, die wir in Erinnerung an den 1. September 1939 empfinden, sind wir uns der Verantwortung für die nachwachsenden Generationen bewußt. Diese Generationen werden uns einmal danach beurteilen, ob wir aus der Erfahrung von Krieg und Diktatur die richtigen Lehren gezogen haben — ob wir der Aufgabe gewachsen waren, auf Dauer eine bessere, eine friedlichere Welt zu schaffen.
    Wir haben die Vision einer Zukunft, in der die Völker der Welt in gemeinsamer Freiheit friedlich vereint sind, und wir werden und dürfen nicht nachlassen, dafür zu arbeiten. Im Gedenken an den 1. September 1939 wissen wir: Dies ist das wichtigste, das wertvollste Erbe, das wir den kommenen Generationen hinterlassen können.

    (Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie Beifall bei der SPD)






Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Das Wort hat der Abgeordnete Brandt.

  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Willy Brandt


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (SPD)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (SPD)

    Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vielleicht ist es zuviel verlangt, sollte einem zu den schwierigen Daten unserer jüngeren Geschichte immer noch Neues einfallen. Das Feld ist einigermaßen abgeschritten. Dabei wäre es verwunderlich — verwunderlich und bedenklich zugleich —, wenn es nicht über weite Strecken Übereinstimmung mit dem gäbe, was der Bundeskanzler hier vorgetragen hat. Vielleicht kommt es nicht immer auf neue Deutungen dessen an, was hinter uns liegt. Es gibt ja wohl Wahrheiten und Einsichten, die nicht oft genug in Erinnerung gerufen werden können, dies gerade in einem Zeitabschnitt, in dem sich zwischen den Teilen Europas so viel ändert, wie wir es gegenwärtig erleben.
    Ich finde es im ganzen ermutigend, daß bei allem sonstigen Wandel jenes doppelte Nein lebendig geblieben ist, das uns Ältere zusammenführte, als nach 1945 unser staatliches Notdach zu errichten war. Ich meine mit dem doppelten Nein das „Nie wieder" zu deutscher Schuld an Überfällen, kriegerischer Verwüstung oder gar Völkermord und das andere „Nie wieder" zur Knebelung des eigenen Volkes und zu dessen Selbstentmündigung. Das Versprechen und die Entschlossenheit — übrigens gemeinsam mit für die DDR-Verantwortlichen bekundet, von mir selbst in Erfurt mit dem Ministerratsvorsitzenden der DDR —, von deutschem Boden nie mehr Krieg ausgehen zu lassen, sollten richtig verstanden werden, nämlich als Ausdruck eines geläuterten Friedenswillens. Doch wir sollten uns auch dabei nicht überschätzen. Die anderen würden sich wohl zu schützen wissen, sollte in der Mitte Europas noch einmal jemand auf extreme Weise verrückt spielen wollen.
    Es läßt sich verstehen, meine Damen und Herren, daß nachwachsende Generationen auch bei uns mit Tagen, die an nationale Schande und europäisches Unglück erinnern, nicht besonders viel im Sinn haben. Der zeitliche Abstand fällt ins Gewicht. Wer jetzt 60 ist, war 10, als der Krieg begann, von dem hier gesprochen wird. Zu den Wahlen gehen jetzt junge Frauen und Männer, die eben geboren waren, als unsereins mit anderen heftig um die Ostverträge stritt. Ich denke, die Jüngeren möchten wissen, was die Zukunft bringt, ob die aufregenden Veränderungen im anderen Teil Europas das eigentliche Ende der Nachkriegszeit bedeuten und was dies für Deutschland besagen mag; doch wohl jedenfalls nicht eine neue Vorkriegszeit an Stelle der zu Ende gehenden Nachkriegszeit.
    Auch wenn ein paar Jahre — nein, ganz genau sind es noch etwas weniger als zwei Jahre — vergangen sind, ist in unser aller frischer Erinnerung, daß für die beiden militärisch mächtigsten Staaten der Welt zu Papier gebracht wurde: Ein mit Nuklearwaffen geführter Krieg kann nicht gewonnen und darf nicht geführt werden. Aus solcher Einsicht hat sich logisch ergeben, ernsthaft darüber nachzudenken, wie für unseren Teil der Welt und überhaupt zwischen West und Ost gemeinsame Sicherheit dauerhaft und zuverlässig verwirklicht werden kann.
    Es ist ja gewaltig, was sich über den großen Krieg hinaus in der Welt, nicht zuletzt in der Welt der Technik, verändert hat. Die 50 Jahre, die dem Jahr 1939 vorausgegangen waren, hatten es auch schon in sich. Das sind — man muß es sich klarmachen — die Jahre ab 1889, kurz bevor Bismarck ausschied. Das waren einmal 50 Jahre bis 1939, und dann begann die Periode, über die wir heute sprechen.
    Nun, gegen Ende des Jahrtausends, erleben wir den Griff in den Weltraum, das weltweite Fernsehen — das es ja sehr bald geben wird, das es fast schon gibt —, die wirkliche wirtschaftliche Umwälzung durch Mikrochips, zugleich das Bemühen um die Bändigung unvorstellbarer Zerstörungskraft; und die politische Weisheit bleibt gegenüber der Technik, wie man seit langem erfährt, im Rückstand.
    Hoffentlich haben wir in der Bundesrepublik Deutschland nicht die Augen davor verschlossen, daß in den letzten Jahrzehnten bei Konflikten in anderen Teilen der Welt an die 20 Millionen Menschen — eher mehr denn weniger — umgekommen sind. Wir sollten in dieser Stunde gewiß an das Leid denken, das den Menschen im Nahen Osten schon so lange zugefügt wird und das sie sich selbst zufügen, und daran, daß in Afghanistan, in Kambodscha und anderswo immer noch geschossen wird.
    Ich meine, wir dürfen auch den massenhaften, vermeidbaren Tod durch Hunger, Seuchen und Mangel an sauberem Wasser nicht aus den Augen verlieren, nicht die gefahrvolle Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen.
    Aber ich gebe zu: Gesicherter Frieden in Europa — das wäre ein wichtiger Baustein für eine menschenfreundlichere Welt. Aber es bedarf dann zugleich großer zusätzlicher Anstrengungen, um internationale Einrichtungen so auszubauen, daß moderne Erkenntnisse dem Überleben und Wohlergehen der Menschheit wirksam dienstbar gemacht werden können.
    Erfahrungen der Völker lassen sich weniger leicht vermitteln, als es schon manch einer an seinem Schreibtisch unterstellt hatte. Doch mag ich jenen erlauchten Geistern nicht folgen, die uns Menschen überhaupt die Fähigkeit absprechen, aus der Geschichte zu lernen. Zu hoch würde allerdings auch ich diese Fähigkeit nicht ansetzen wollen. Doch auf einem möglichst wahrhaftigen Umgang mit historischen Fakten sollte man mit Nachdruck bestehen. Ich sage „möglichst" nur deshalb, weil wir uns der Begrenztheit dessen klar sein sollten, was sich als zweifelsfrei feststellen läßt.
    Der geschichtlichen Wahrhaftigkeit wird — um ein wieder aktuell gewordenes Beispiel zu nennen — nicht gerecht, wer Stalin ins Feld führt, um Hitler zu entlasten

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    oder gar zu rechtfertigen. Was zur Verurteilung des sogenannten Hitler-Stalin-Paktes vom 23. August 1939 zu erklären ist, hat das Präsidium der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands vorbehaltlos und unmißverständlich zum Ausdruck gebracht.
    Im ubrigen: Nicht irgendwie und durch irgendwen hat der Zweite Weltkrieg begonnen, auch nicht nur im



    Brandt
    mißbrauchten deutschen Namen. Über Kurzsichtigkeiten vieler der Beteiligten nach 1918 — ich denke nicht nur an Versailles — läßt sich viel sagen. Eindeutig bleibt, auf 1939 bezogen, die hitlerdeutsche Schuld. Der neue Krieg unter dem Deutschland selbst so schwer leiden sollte, war schon vor dem Pakt vom 23. August 1939 geplant, vorbereitet, gewollt und hätte sich allenfalls durch vorweggenommene allseitige Kapitulation vermeiden lassen.
    Gelegentlich liest man, auch Polen sei 1939 nicht demokratisch regiert worden, was wohl stimmt, bloß hier nichts zur Sache tut. Wenn damit die Begründung einhergeht, Polen sei gar nicht überfallen, allenfalls mit einem Gegenangriff überzogen worden, so darf man das nicht durchgehen lassen. Es ist verbürgt, daß der sogenannte Führer vor seinen Generälen prahlte, er werde für die Rechtfertigung des Angriffs sorgen — wörtlich — , „gleichgültig, ob glaubhaft".
    Zu den hausgemachten, damals zu Hause gemachten Vorwänden gehörte ein fingierter Angriff auf den Sender Gleiwitz, nicht so weit entfernt von jenem damals kaum bekannten Ort namens Auschwitz, dessen Verbindung mit fabrikmäßigem Massenmord vor allem an den unzähligen jüdischen Opfern des Rassenwahns viele nie mehr haben abschütteln können. Jener Ort hat uns, die gebrannten Kinder der Menschheit, gelehrt, daß die Hölle auf Erden geschaffen werden kann; sie wurde geschaffen.
    Ich denke, die meisten werden es so empfinden wie ich, daß man den israelischen Verteidigungsminister versteht, der gestern an der Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem sagte, für das größte Verbrechen in der neuzeitlichen Geschichte könne es Entschuldigung und Vergeben nicht geben.
    Daß es, meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, für das eigene Volk so enden würde — keine Familie ohne Tote, Millionen ihrer Behausung in den zerbombten Städten beraubt, weitere Millionen ohne die alte Heimat und in der neuen Spaltung — , all das hat sich kaum einer vorstellen können, als es an jenem Freitag dem 1. September 1939 begann.
    Ich lebte, wie man weithin weiß, als von den Nazis Ausgebürgerter in nordeuropäischer Umgebung. Dort hoffte man — auch das gehört zur Erfahrung unserer Zeit — , neutral durch den Konflikt der Großmächte hindurchkommen zu können. Aber man war nicht sicher, wie ernst es werden würde.
    Am Sonntag, dem 3. September — ich hatte in der Redaktion die Aufgabe, während die anderen meinten, zu Hause bleiben zu können, englische Nachrichten zu hören; es gab eine Sondersitzung des britischen Unterhauses — , als die englische und französischen Kriegserklärungen vorlagen, kommentierte das Extrablatt der Zeitung, für die ich tätig war, es müsse sich erst noch zeigen, ob der Nervenkrieg eine neue Phase erreicht oder wirklich ein neuer Weltkrieg begonnen habe — September 1939.
    Aus Berlin und von der Wasserkante hörte ich — so bestätigen es ja die gedruckten Berichte seitdem vielfach: Über Deutschland legte sich in jenen Septembertagen eine lastende Stille; kein Jubel wie im August 1914, in jenem August 1914, als das europäische Ur-Unheil dieses Jahrhunderts begann; keine Blumen
    auf den Gewehrläufen, keine winkenden Bräute, nicht die angeberischen Sprüche auf den Eisenbahnwaggons, auch gottlob kein Segnen der Waffen und keine Flucht in den Krieg als Befreiung aus dem bürgerlichen Alltag.
    Ich erinnere hieran nicht als einer der Älteren, um etwas zu verniedlichen. Ich erinnere jedoch an die heimliche Furcht, die seit der sogenannten Machtergreifung nur noch selten aus den Herzen der Deutschen gewichen war — ob Gegner oder Anhänger des Regimes. Auch bei vielen aus der ja nicht kleinen zweiten Schicht bestimmte sie die Stunden des Katzenjammers nach den hochgejubelten Siegen.
    An jenem 1. September hofften die Naziführer mit ihrem Anhang, daß die Westmächte klein beigeben und sich trotz Polen arrangieren würden. Die plumpe Rechnung ging nicht auf. Die Mehrheit der Deutschen dürfte, anders als die bösen Wunschdenker an der Spitze, mit einer dumpfen, halb gelähmten Gewißheit verstanden haben, daß die Herrschaft des Todes mit letztem Ernst eingesetzt hatte. Man ahnte, daß Millionen nicht heimkehren würden. Daher das Schweigen, das Zeitgenossen ein bleiernes genannt haben.
    Gewiß, dies wurde in den ersten Kriegsjahren verdrängt und vergessen, doch nicht von allen. Es war in den Herzen der vielen, die schon früh einen der Ihren verloren. In den Lagern und Zuchthäusern ließ sich dieses Schweigen ohnehin nicht überspielen. Nach Stalingrad und El Alamain kehrte es allgemein und verstärkt wieder, und es nahm jenes entsetzliche Schweigen voraus, das sich nach 1945 über die Trümmer des Reiches legte, über die Ruinen Europas, vor allem auch der Sowjetunion. Es blieb, bei einigen nachdrücklicher als bei anderen, das Schweigen der Trauer, der Scham, der Mitschuld, jedenfalls der Mitverantwortung für das Schicksal anderer und vor dem eigenen Volk.
    Nicht notwendigerweise hat es so kommen müssen, wie es 1933 und 1939 gekommen ist. Nicht erst in den lebensgefährlichen Schriften des Untergrunds, nein, schon in den Aufrufen aus der Zeit der zu Ende gehenden Weimarer Republik war gewarnt worden, daß Hitler Krieg bedeute. Mit dieser Einsicht bin ich politisch erwachsen geworden. Aber ich habe nicht vergessen, daß vielen als Empfehlung erschien, was auf die anderen abschreckend wirkte.
    Die meisten, auch im Ausland, meinten, die Warnungen seien übertrieben. Durch linksintellektuelle Aufgeregtheit oder was als solche empfunden wurde, mochten sich nationalbürgerliche Grundinstinkte nicht anfechten lassen. Doch auch, wenn man nicht hatte hören wollen, daß X zu Y führe, in Wahrheit hörte man es doch. Man wollte es nicht glauben und fürchtete es dennoch.
    Da waren natürlich auch jene, die sich aufführten, als fürchteten sie nichts auf der Welt, schon gar nicht Gott. Die wollten Krieg, nicht bloß Krieg, sondern einen solchen, dessen maßlose Erniedrigung ihnen nichts ausmachte. Was sie wollten, hätte man auch damals wissen können. Doch denen, die es wußten und sagten, ging es nicht gut.
    Eine selbstkritische Frage drängt sich mir allerdings auch hier auf: Wenn man die Warnung vor dem, wo-



    Brandt
    hin NS-Herrschaft führen würde, buchstäblich und ganz ernst genommen hätte, wären dann nicht viel größere Risiken angemessen gewesen, um das deutsche und europäische Unheil abwenden zu helfen? Auch als klar war, daß Hitlers Krieg nur noch zu verlieren war, hätte sich beträchtliche menschliche und materielle Substanz vor der Vernichtung bewahren lassen.
    Die große Lehre jener Zeit lautet aus meiner Sicht: Wo die Freiheit nicht beizeiten mit großem Einsatz verteidigt wird, ist sie nur um den Preis schrecklich hoher Opfer zurückzugewinnen. Ein mündiges Volk darf die Macht nicht in die Hände von Verrückten und Verbrechern fallen lassen.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Das ist die eine Lehre. Zu ihr gehört, den Nachwachsenden nahezubringen, daß dies auch sie — über ohnehin nicht zu übersehende materielle Folgen hinaus — noch mit angeht. Sie lehnen es zu Recht ab, sich Verantwortung oder gar Schuld vererben zu lassen. Zu Recht lehnen sie das ab. Doch es geht nicht mehr um unser, es geht um ihr Leben. Nur wer begriffen hat, was damals geschah, wird sich gegen die Lähmung der Vernunft und die Aggression der Dummheit zu schützen wissen, wird auch die Kraft finden, die Gefahr des Krieges, so es an ihm liegt, immer von neuem abwehren zu helfen.
    Ich bleibe der Meinung: Der Bruch mit der bösen Vergangenheit hätte vor vierzig Jahren deutlicher ausfallen sollen. Ich sage ebenso deutlich: Der Idealismus großer Teile der damals jungen Generation ist schrecklich mißbraucht worden. Die Opferbereitschaft hart bedrängter einfacher Menschen ist nicht hinreichend gewürdigt worden. Sie, sowohl die aus Idealismus engagierten Jungen wie die vielen, nicht zuletzt die Frauen in den Bombennächten, hätten in der rückwärts gewandten Wertung besser wegkommen müssen, als sie unter den Bedingungen restaurativer Besatzungsdemokratie weggekommen sind, etwa im Vergleich zu manchen vermeintlichen Rechtswahrern und anderen Textdeutern, zumal den Propagandisten des Krieges nach außen und im Innern.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Ich darf hier hinzufügen, meine Damen und Herren: Wer noch immer oder wieder bei den Zerstörern Europas Anleihen macht, der fügt dem eigenen Volk Schaden zu. Aber auf leicht angebräunte Spatzen mit Kanonen zu schießen, das ergibt auch keinen Sinn.

    (Beifall bei Abgeordneten aller Fraktionen)

    Es wäre verwunderlich, um nicht zu sagen: verdächtig, wenn sich wie anderswo in Europa nicht auch bei uns in der Bundesrepublik Deutschland gelegentlich Leute zu Wort meldeten, die mit nationalistischen Ladenhütern aufwarten. Nur: Konzessionen darf man ihnen nicht machen.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Die eigentliche Antwort auf rückwärts gewandte Versuchungen, die andere große Lehre — eine hatte ich genannt — , heißt aus meiner Sicht: mit noch größerer Hingabe für Europa arbeiten, ohne damit ver-
    staubte Vorstellungen von deutscher Führung zu verbinden.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

    Die europäische Einigung — ich nehme voll auf, was der Bundeskanzler hierzu gesagt hat — bildete ein Kernstück in den Vorstellungen des deutschen Widerstandes, so auch des Kreisauer Kreises um den Grafen Moltke. Nebenbei gesagt, Herr Bundeskanzler, sind wir uns auch sicherlich einig, daß wir gelegentlich in Gefahr sind, den Widerstand der deutschen Arbeiterbewegung seit 1933

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN und bei Abgeordneten der FDP)

    nicht gleichermaßen zu würdigen wie das, was hinterher mit so großem Einsatz gewagt worden ist.
    Die deutschen Sozialdemokraten hatten übrigens die Vereinigten Staaten von Europa schon 1925 in ihr Programm geschrieben. Seit 1950 haben auf dem Wege zur westeuropäischen Gemeinschaft bedeutende Fortschritte erzielt werden können, und das ist gut. Inzwischen ist es Zeit, an Gesamteuropa zu denken. Daß sich diese Aufgabe stellen werde und wir den mittel-, ost- und südosteuropäischen Nachbarn nicht den Rücken zuwenden dürften, sagte ich meiner Partei vor über 25 Jahren, als sie mich an ihre Spitze berief: hier in Godesberg, Anfang 1964. Wir haben es beim Bemühen um Normalisierung im Ost-West-Bereich nicht vergessen.
    Ein faszinierender Prozeß der Neugestaltung führt uns nun dem größeren Europa näher. Aber: Ohne Widersprüche und Rückschläge wird es auch weiterhin nicht abgehen. Ich denke mir, Staaten auf Rädern wird die künftige europäische Hausordnung nicht vorsehen

    (Heiterkeit und Beifall bei der SPD)

    und keine Vertreibung und keine Trennmauer — schon gar nicht zwischen Angehörigen ein und derselben Nation —, auch nicht Regierungen, die von ein paar Dutzend Divisionen abhängiger sind als von der Verständigung mit dem eigenen Volk.

    (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wie immer: Wer das ganze Europa in den Blick faßt, kommt jedenfalls um Deutschland nicht herum.
    Mit dem Warschauer Vertrag vom Dezember 1970 wie mit dem voraufgegangenen Moskauer Vertrag haben wir die Kette des Unrechts durchbrechen, der Vernunft eine neue Chance geben, menschliche Erleichterungen fördern wollen. Mir war bewußt, daß sich die Siegermächte auf Grenzen verständigt hatten, die über ursprüngliche polnische Forderungen und Erwartungen hinausgingen. Mir war zum anderen bekannt, daß ein konservativer Nazi-Gegner wie Carl Goerdeler, der langjährige Leipziger Oberbürgermeister, und ein Sozialdemokrat wie Ernst Reuter, damals Oberbürgermeister von Magdeburg, vorausgesagt hatten, was Hitlers Krieg für die Ostgrenze bedeuten würde. Das kam nicht wie ein Blitz vom Himmel. Es gibt im übrigen nicht den geringsten Zweifel daran, daß unser erster Bundeskanzler auch



    Brandt
    hinsichtlich der früheren preußisch-deutschen Ostgebiete keinen Illusionen anhing. Schon er wußte, daß uns in der weiten Welt keine Regierung in Grenzforderungen unterstützen würde. Und es wäre mehr als peinlich, wenn man bei uns den Eindruck aufkommen ließe, es bedürfte russischer Truppen, um Polens Grenze gegen deutsche Ansprüche zu sichern.

    (Beifall bei der SPD und den GRÜNEN)

    Wer — im Gegensatz zum Geist des Warschauer Vertrages — die Grenzen in Frage stellt, statt sie durchlässig, wirklich durchlässig machen zu helfen, der gefährdet den Zusammenhalt und die Chancen neuen Zusammenhalts zwischen den Deutschen, wo sie heute leben.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN und der FDP)

    Was unser Bundespräsident dieser Tage dem polnischen Staatsoberhaupt geschrieben hat, sollte nicht nur unser aller Würdigung, sondern auch unser aller Zustimmung finden können.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Im übrigen verweise ich — mehr als pflichtgemäß — auf den Entschließungsantrag der sozialdemokratischen Fraktion dieses Hauses.
    Leider, Herr Bundeskanzler, war in diesem Sommer hier und da der Eindruck entstanden, von London und Paris, sogar von Washington sei der Weg nach Warschau kürzer als der von Bonn. Das polnische Volk und seine Regierung — das gilt gleichermaßen für Ungarn und für die anderen Länder, in denen die Prozesse der Erneuerung langsamer anlaufen — sollten spüren, daß wir uns ihnen in Solidarität verbunden fühlen.
    Bei dieser Gelegenheit, Herr Bundeskanzler, möchte ich eine kleine praktische Begebenheit erwähnen: Ich erinnere mich daran, daß Anfang der 80er Jahre die Post es den Hilfsbereiten ermöglicht hatte, Pakete ohne Porto nach Polen zu schicken. — Es muß ja nicht gleich Portofreiheit sein. Aber wenn ich höre — ich habe mich gestern bei den zuständigen Stellen vergewissert — , daß man jetzt, wo es ernster ist, die individuelle Hilfe erschwert — das Porto ist nämlich erhöht worden — , dann verstehe ich das nicht. Es ist überhaupt nicht verständlich, daß ein 10 kg schweres Paket, das, sagen wir einmal, einen Wert von 50 DM hat, mit 30,50 DM Porto auf den Weg zu bringen ist. Da muß sich eine vernünftigere Regelung finden lassen.

    (Beifall bei der SPD, den GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)

    Ich will im übrigen, wo es um größere Dinge geht, nicht unterstellen, daß die polnische Seite nur Wünsche vorbringt, die leicht zu befriedigen sind; das glaube ich nicht. Der Gedanke, die Kommission der Europäischen Gemeinschaft in die Hilfe für Polen einzuschalten, war gut. Von uns wird Zusätzliches erwartet; das weiß hier jeder.
    Wo es nach vorn führt und solide ist, werden wir uns große Mühe geben müssen. Selbsthilfe und europäische Unterstützung müssen wirksam ineinandergreifen, und zwar so, daß nicht neue drückende Abhängigkeiten entstehen.
    Ich will offen meinem Empfinden Ausdruck geben - das möchte ich zum Schluß sagen — , daß eine Zeit zu Ende geht, eine Zeit, in der es sich in unserem Verhältnis zum anderen deutschen Staat vor allem darum handelte, durch vielerlei kleine Schritte den Zusammenhalt der getrennten Familien und damit der Nation wahren zu helfen.
    Was jetzt im Zusammenhang mit dem demokratischen Aufbruch im anderen Teil Europas auf die Tagesordnung gerät, wird mit neuen Risiken verbunden sein, schon deshalb, weil es ein historisch zu belegendes und höchst vielfältig gefächertes, keineswegs erst durch den Hitler-Krieg belebtes Interesse der europäischen Nachbarn und der halbeuropäischen Mächte daran gibt, was aus Deutschland wird.
    Der Wunsch, das Verlangen der Deutschen nach Selbstbestimmung wurde in den Westverträgen bestätigt und ist durch die Ostverträge nicht untergegangen; sie bleiben Pfeiler unserer Politik. In welcher staatlichen Form auch immer dies in Zukunft seinen Niederschlag finden wird, mag offenbleiben. Entscheidend ist, daß heute und morgen die Deutschen in den beiden Staaten ihrer Verantwortung für den Frieden und die europäische Zukunft gerecht werden. Wir sind nicht die Vormünder der Landsleute in der DDR. Wir haben ihnen nichts vorzuschreiben, dürfen ihnen freilich auch nichts verbauen.

    (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der GRÜNEN, der CDU/CSU und der FDP)

    Ich habe vor mir einen Brief liegen — ich habe ihn nicht selber bekommen, sondern jemand hat ihn mir gestern gegeben — , einen Brief von einer Dame aus dem westlichen Sachsen, in dem sie von den Menschen schreibt, die Angst haben, daß das Leben an ihnen vorbeigehe, und in dem sie schreibt: Keiner hungert; aber jeder hungert nach etwas Besserem.
    Dies ist nicht das einzige bedrückende Zeugnis dessen, was die Menschen dort beschäftigt und uns mit angeht. Das Bewußtsein unserer Menschen hier, in der Bundesrepublik, wachzuhalten, daß die Nachbarn im anderen Teil Deutschlands zwar das kürzere Los gezogen, aber den Krieg nicht mehr als wir verloren haben, bleibt ein Gebot der Stunde.

    (Lebhafter Beifall bei allen Fraktionen)

    Und daß eine effiziente und unbürokratische Hilfe für bedrängte, in unverschuldete Not geratene Landsleute ein Gebot unserer Selbstachtung bleibt, sollte keiner weiteren Worte bedürfen.
    Ich möchte für meine politischen Freunde — und sicher nicht nur für diese — Dank sagen an alle nichtamtlichen und amtlichen Personen und Stellen, die nachbarliche und humanitäre Hilfe leisten und dabei auf störende Publizität verzichten.

    (Beifall bei allen Fraktionen)

    Jede Generation muß wohl von neuem lernen, was Albert Schweitzer die Ehrfurcht vor dem Leben genannt hat. Die Lebensliebe ist das große Geschenk, das den Überlebenden zuteil wurde. Wir haben sie weiterzugeben wie die Einsicht, die ich vor vielen Jah-



    Brandt
    ren — lange ist's her — auf die Formel zu bringen versuchte, daß Krieg die ultima irratio, Frieden jedoch die ultima ratio der Menschheit sei.
    Um Lebensliebe und Freiheitswillen zu bitten, das ist, wie ich es verstehe, die Pflicht, die uns die Erinnerung an den September 1939 vermittelt.

    (Anhaltender, lebhafter Beifall bei der SPD und den GRÜNEN — Beifall bei der CDU/ CSU und der FDP)