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    Plenarprotokoll 11/126 Deutscher Bundestag Stenographischer Bericht 126. Sitzung Bonn, Freitag, den 17. Februar 1989 Inhalt: Seiters CDU/CSU (Glückwünsche zum Geburtstag der Präsidentin) 9259 A Erklärung der Präsidentin zu Pressemeldungen über die Krankenversorgung der Abgeordneten 9282 A Zusatztagesordnungspunkt 5: Abgabe einer Erklärung der Bundesregierung zu einer möglichen Beteiligung deutscher Firmen an einer C-WaffenProduktion in Libyen in Verbindung mit Tagesordnungspunkt 21: Beratung der Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung an den Deutschen Bundestag über eine mögliche Beteiligung deutscher Firmen an einer C-Waffen-Produktion in Libyen (Drucksache 11/3995) Dr. Schäuble, Bundesminister für besondere Aufgaben, Chef des Bundeskanzleramtes . 9259 C Dr. Vogel SPD 9265 B Frau Geiger CDU/CSU 9270 C Frau Beer GRÜNE 9273 B Beckmann FDP 9275 A Dr. Haussmann, Bundesminister BMWi . 9277 B Gansel SPD 9278 C Genscher, Bundesminister AA 9282 D Kittelmann CDU/CSU 9284 A Dr. Mechtersheimer GRÜNE 9285 A Frau Beer GRÜNE (Erklärung nach § 30 GO) 9287 A Frau Traupe SPD (Erklärung nach § 32 GO) 9287 D Seiters CDU/CSU (Erklärung nach § 32 GO) 9288 A Mischnick FDP (Erklärung nach § 32 GO) 9288 A Hüser GRÜNE (Erklärung nach § 32 GO) 9288 B Zusatztagesordnungspunkt 6: Aktuelle Stunde betr. aktuelle Probleme der Wohnungsbaupolitik der Bundesregierung Dr. Hauff SPD 9288 D Dr.-Ing. Kansy CDU/CSU 9289 C Frau Oesterle-Schwerin GRÜNE . 9290C, 9294 C Dr. Hitschler FDP 9291 B Menzel SPD 9292 B Frau Rönsch (Wiesbaden) CDU/CSU . . 9293 A Zywietz FDP 9294 D Dr. Schneider, Bundesminister BMBau . 9296 B Reschke SPD 9297 D Dörflinger CDU/CSU 9299 A Dr. Stoltenberg, Bundesminister BMF . 9300 A Müntefering SPD Pesch CDU/CSU Frau Teubner GRÜNE (Erklärung nach § 32 GO) 9303 C Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes (Drucksache 11/3694) 9304 C II Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 126. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Februar 1989 Nächste Sitzung 9304 C Berichtigungen 9304 B Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . 9305* A Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zum Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes (Drucksache 11/3694) (Seesing [CDU/ CSU], Dr. de With [SPD], Funke [FDP], Frau Nickels [GRÜNE], Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär BMJ) 9305* C Anlage 3 Amtliche Mitteilungen 9311* B Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 126. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Februar 1989 9259 126. Sitzung Bonn, den 17. Februar 1989 Beginn: 9.01 Uhr
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    Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Dr. Ahrens * 17. 2. Frau Beck-Oberdorf 17. 2. Bindig 17. 2. Börnsen (Ritterhude) 17. 2. Breuer 17. 2. Frau Conrad 17. 2. Daweke 17. 2. Egert 17. 2. Dr. Faltlhauser 17. 2. Gallus 17. 2. Dr. Glotz 17. 2. Dr. Göhner 17. 2. Grünbeck 17. 2. Dr. Haack 17. 2. Haack (Extertal) 17. 2. Frau Hämmerle 17. 2. Dr. Hauchler 17. 2. Dr. Hauff 17. 2. Frhr. Heereman von Zuydtwyck 17. 2. Heimann 17. 2. Hiller (Lübeck) 17. 2. Ibrügger 17. 2. Jaunich 17. 2. Dr. Jenninger 17. 2. Frau Karwatzki 17. 2. Dr. Kreile 17. 2. Dr.-Ing. Laermann 17. 2. Dr. Graf Lambsdorff 17. 2. Maaß 17. 2. Dr. Mertens (Bottrop) 17. 2. Dr. Mitzscherling 17. 2. Möllemann 17. 2. Dr. Möller 17. 2. Dr. Neuling 17. 2. Paterna 17.2. _ Pfeifer 17. 2. Poß 17. 2. Regenspurger 17. 2. Reuschenbach 17. 2. Spranger 17. 2. Uldall 17. 2. Verheugen 17. 2. Weisskirchen (Wiesloch) 17. 2. Wetzel 17. 2. Frau Dr. Wisniewski 17. 2. Wissmann 17. 2. Würtz 17. 2. Zierer * 17. 2. Dr. Zimmermann 17. 2. * für die Teilnahme an Sitzungen der Parlamentarischen Versammlung des Europarates Anlagen zum Stenographischen Bericht Anlage 2 Zu Protokoll gegebene Reden zum Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes (Drucksache 11/3694) Seesing (CDU/CSU): Das Gesetz über den Vollzug der Freiheitsstrafe und der freiheitsentziehenden Maßregeln der Besserung und Sicherung - kurz: Strafvollzugsgesetz - vom 16. März 1976 hat in seiner Geltungszeit bereits sechs Änderungen erfahren. Während es bei der ersten Änderung vom 18. August 1976 u. a. um die Einfügung von Bestimmungen zur Überwachung von Besuchen in den Justizvollzugsanstalten ging und während bei der zweiten Änderung im Rahmen des Zweiten Gesetzes zur Verbesserung der Haushaltsstruktur vom 22. Dezember 1981 Finanzfragen behandelt wurden, hatten die späteren Änderungen doch schon das Ziel, einige spezielle Probleme des Strafvollzugs nach neueren Erkenntnissen zu beurteilen. Das Änderungsgesetz vom 20. Januar 1984 regelte die Unpfändbarkeit von Forderungen und das Rechtsbehelfsverfahren für den Maßregelvollzug Untergebrachter. Vom 20. Dezember 1984 ist ein weiteres Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes datiert. Damals beschlossen wir u. a. die Aufhebung von Vorschriften des 2. Strafrechtsreformgesetzes über die Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt und die Überweisung in den Vollzug dieser Maßnahme noch bevor diese Vorschriften am 1. Januar 1985 in Kraft treten konnten. Mit dem Gesetz zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes vom 27. Februar 1985 wurden durch die Änderung des § 101 Neuregelungen über die zwangsweise medizinische Untersuchung, Behandlung und Ernährung von Gefangenen beschlossen. Das Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit mußte eingeschränkt werden. Schließlich wurde mit dem Strafverfahrensänderungsgesetz 1987 der § 29 - Überwachung des Schriftverkehrs - teilweise neu gefaßt. Man kann sich nun die Frage stellen, ob sich das Gesetz von 1976 in der Praxis bewährt hat. Noch sind ja nicht alle Vorschriften dieses Gesetzes in Kraft getreten, weil ihre finanziellen Auswirkungen noch nicht tragbar erscheinen. Was kann man also heute feststellen? Ich glaube, daß die anfangs euphorischen Erwartungen einer nüchternen Betrachtungsweise gewichen sind. Wahrscheinlich war der Gegensatz zwischen dem Anspruch des Gesetzes und der Realität des Vollzugs zu groß. Dennoch dürfen wir sagen, daß das Gesetz einen wichtigen Schritt für die Wiedereingliederung von Straffälligen in die Gesellschaft darstellt. Zugleich wird aber auch der Schutz dieser Gesellschaft vor weiteren Straftaten weitgehend gewährleistet. Daß auch hier Ausnahmen die Regel zu bestätigen scheinen, ist betrüblich. Daß insgesamt eine Weiterentwicklung notwendig erscheint, zeigt uns der vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates. Er ist mehr als nur die 9306* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 126. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Februar 1989 Zusammenfügung von redaktionellen Änderungen und von klarstellenden Formulierungen. Es sind durchaus weiterführende Gedanken, über die zu sprechen sich lohnt. So ist es durchaus an der Zeit, sich zu überlegen, wie man der Realisierung der Forderungen des § 2 des Strafvollzugsgesetzes noch näherkommen kann. Es heißt dort: „Im Vollzug der Freiheitsstrafe soll der Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen. " Um dieses Prinzip „der sozialen Verantwortung" geht es auch mir. Es ist nicht zu leugnen, daß die Resozialisierung als Aufgabe des Strafvollzugs an Glaubwürdigkeit verloren hat. Umfrageergebnisse beweisen das. Wenn ich Umfragen auch nur sehr bedingt als Maßstab für gesetzgeberisches Tun ansehe, so werden hier jedoch Tendenzen deutlich, denen man notfalls auch entgegenwirken kann. Mit Wunschträumen werden wir der Situation nicht gerecht. Ich glaube, daß der Gedanke, eine opferbezogene Vollzugsgestaltung gesetzlich zu verankern und damit deutlicher als bisher werden zu lassen, weiterhelfen kann. Was bleibt denn von den grundlegenden Ideen des Strafvollzugs? Darf er Sühne für Taten sein? Soll er der Abschreckung dienen? Wie steht es mit dem Resozialisierungsgedanken überhaupt? Der Strafvollzug wird in neueren politischen Diskussionen von einigen insgesamt in Frage gestellt. Ich gehe davon aus, daß die Gesellschaft auch so lange Strafe und Strafvollzug braucht, wie Menschen fehlerhaft sind. Den ohne Ausnahme perfekten, ausschließlich auf Gesellschaft und menschliches Miteinander fixierten Menschen wird es nicht geben. Deswegen brauchen wir auch Regeln für dieses Miteinander. Und die Gesellschaft wird auch immer Sanktionen vorsehen müssen für die, die nicht bereit sind, sich an diese Regeln zu halten. Nun gibt es auch Menschen, die krankhaft fehlerhaft sind. Für sie haben wir besondere Regelungen und werden sie auch in Zukunft brauchen. Im Normalfall sollte der Strafvollzug, wie die Strafe an sich, auch Mittel zur Abschreckung sein. Es fragt sich, ob die Strafform und das Strafmaß abschreckend wirken oder der Strafvollzug. Wenn ich an Gesetzentwürfe mit dem vorgeschlagenen Strafmaß denke, kommen mir da manchmal Zweifel, ob wir diesen Abschreckcharakter richtig bewerten. Als Beispiel möchte ich zwei Vorhaben anführen: Da wird im Adoptionsvermittlungsgesetz vorgeschlagen, die verbotene Vermittlung von Leihmüttern mit einem Jahr Freiheitsstrafe zu belegen. Wenn das eine lukrative Angelegenheit ist, wird ein Jahr Haft wenig abschrecken. Wenn das Land Nordrhein-Westfalen vorschlägt, den Verkauf von Eberfleisch mit zwei Jahren Haft zu bestrafen, sieht das ganz anders aus. Eberfleisch ist nicht gesundheitsgefährdend, aber es stinkt. Der Bauer oder der Metzger wäre mit zwei Jahren Haft sicher äußerst hart getroffen. Er will nicht in den „Knast", wie man zu sagen pflegt. Die Strafe wirkt abschreckend. Entsprechen nun aber diese beiden Strafmaße wirklich der Bedeutung des verletzten Rechtsgutes? Allerdings kann auch der Strafvollzug durch sein Vorhandensein, durch seine Gelegenheiten, durch seine bekannten Abläufe abschreckend wirken. Vielleicht müssen wir diese inneren Abläufe noch mehr nach diesem Prinzip ausrichten. Es fragt sich nur, wie. Wichtig ist mir aber auch, den Sühnecharakter der Strafe nicht gering zu veranschlagen. Es ist natürlich hart, Menschen aus ihrem Lebenskreis herauszuholen, um sie in besonders gesicherten und bewachten Räumen zu „verwahren". Es darf nur letztes Mittel sein. Deswegen sollte die Freiheitsstrafe wirklich nur dem notwendigen Maß entsprechen. Aber es muß sie geben, um die Sühne für ein Vergehen leisten zu können. Und da brauchen wir für die Rechtssprechung und für den Vollzug eine Vielzahl von Differenzierungsmöglichkeiten. Die Differenzierungsmöglichkeiten brauchen wir aber auch für das Hauptziel des Strafvollzugs, den Straffälligen wieder zu einer sozialen Verantwortung und Verantwortungsbereitschaft zu führen. Ich habe den Eindruck, daß die negative Kritik der Bevölkerung am Strafvollzug sich weniger gegen den Resozialisierungsgedanken an sich als gegen die undifferenzierte Anwendung des Strafvollzugsgesetzes richtet. Ich meine, daß wir den Leitern und Bediensteten in den Justizvollzugsanstalten helfen müssen, dem Gesetzesauftrag so nachzukommen, wie wir es als notwendig ansehen. Wir müssen dann auch bereit sein, Verantwortung gegenüber der Öffentlichkeit zu übernehmen, wenn es zu „Pannen" kommt, die bei genauer Formulierung des Gesetzestextes zu vermeiden sind. Unter diesen Gesichtspunkten müssen auch die weiteren Vorschriften des vorliegenden Gesetzentwurfes betrachtet werden. Ich sehe hier im einzelnen noch Beratungsbedarf. Für besonders wichtig halte ich 1. Die Verankerung der opferbezogenen Vollzugsplanung und -gestaltung im Strafvollzugsgesetz; 2. die Frage, ob man auf das Erfordernis der Zustimmung eines Gefangenen zu seiner Verlegung in den offenen Vollzug generell verzichten kann; 3. wie man, kurz gesagt, das Verhalten des Gefangenen bei der Gewährung von Lockerungen im Strafvollzug und von Urlaub bewerten soll; 4. die Frage, wie wir tatsächlich die Einbringung besonders von Drogen in die Justizvollzugsanstalten erschweren, möglichst gar verhindern können. Ich bin mir auch noch nicht sicher, ob die Trennscheibe bei Gesprächen von Häftlingen mit den Verteidigern und ob die Kontrolle der Anwaltspost nun immer der Weisheit letzter Schluß ist. Darüber muß man im Zusammenhang mit anderen möglichen praktischen Maßnahmen sprechen und alles entsprechend bewerten. Es sind auch noch weitere Vorschriften zu diskutieren. So stellt sich die Frage, ob die Erhöhung des Arbeitsentgeltes von fünf auf sechs Prozent des durchschnittlichen Arbeitsentgeltes das letzte Wort sein kann. Dabei will ich durchaus auch die angespannte Haushaltslage der Länder, die ja die Zahlenden sind, in Betracht ziehen. Es ist ja schon erstaunlich, daß die Länder selbst einen Gesetzentwurf einbringen, der im Falle der Verwirklichung laufende Mehrausgaben entstehen läßt. Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 126. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Februar 1989 9307* Ich schlage vor, die Beratungen im Rechtsausschuß zügig aufzunehmen und sehr gründlich zu führen. Die Weiterentwicklung des Strafvollzuges im Sinne des Versuchs, Straffällige zu integrieren, ohne die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung zu vernachlässigen, bleibt eine wesentliche Aufgabe des Rechtsstaates. Dr. de With (SPD): Das zehnjährige Bestehen des Strafvollzugsgesetzes 1987 hatte eine breite Fachdiskussion, aber auch eine rege Debatte in der Öffentlichkeit ausgelöst. Zu fragen war nicht nur: Hat sich dieses erste Gesetz zur Regelung des Strafvollzuges bewährt? Hundert Jahre lang hatte es nur Verordnungen und Vereinbarungen über die Ländergrenzen hinweg und natürlich viele Reformversuche gegeben. Zu fragen war weiter: Was soll und muß geändert werden? Man war sich schnell darin einig, daß sich das Strafvollzugsgesetz grundsätzlich bewährt hat. Man war sich ebenso schnell darin einig, daß es nun endlich an der Zeit sei, die Gefangenen neben der Mitgliedschaft in der Arbeitslosenversicherung auch in die gesetzliche Krankenkassen- und die Rentenversicherung einzugliedern und das Arbeitsentgelt des Gefangenen, schon damals wie heute nur 5 % der Bemessungsgrundlage, auf 10 % anzuheben. Alle wissen aber auch, daß die Finanzminister den Justizministern jeden mit Ausgaben verbundenen Fortschritt diktieren oder, besser gesagt, dabei allzuoft mit dem Rotstift in den Arm fallen. In einer ganzen Reihe von Bereichen erfordern die bisherigen Erfahrungen redaktionelle Klarstellungen und das Ausgleichen von Unebenheiten. Das bedarf keiner Diskussion. Aber es gab und gibt zwei Streitpunkte: Der eine rührt ans Herz der Strafvollzugsreform überhaupt, nämlich an die Frage, ob das Vollzugsziel — die Resozialisierung — relativiert werden soll. Und der andere betrifft die Integrität des Gefangenen, nämlich seine Möglichkeit, frei mit seinem Verteidiger zu kommunizieren, sein Recht, nicht ohne Not durch- und untersucht zu werden, und seine Chance, von seinem sauer verdienten Arbeitsentgelt etwas mehr für sich verbrauchen zu können. Ortega y Gasset wird das Wort zugeschrieben, das Maß an Demokratie in einer Gesellschaft werde nicht an den in der Verfassung statuierten Mitwirkungsrechten erkennbar, sondern daran, wie frei in der Praxis gewählt werden könne. In leichter Abwandlung dieser Sentenz möchte ich sagen, das Maß an Freiheitsrechten in einer Gesellschaft wird nicht durch den Grundrechtskatalog der Verfassung erkennbar, sondern daran, welche Möglichkeiten dem Strafgefangenen zugebilligt werden. Nun hatten sich die im Bundestag vertretenen Parteien in einem sehr mühsamen Prozeß als Behandlungsziel — nach dem Gesetzeswortlaut als Vollzugsziel bezeichnet — in § 2 auf folgenden Wortlaut geeinigt: Im Vollzug der Freiheitsstrafe sollen Gefangene fähig werden, künftig in sozialer Verantwortung ein Leben ohne Straftaten zu führen (Vollzugsziel). Der Vollzug der Freiheitsstrafe dient auch dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten. Darunter war verstanden worden, daß Schuldelemente, also die Schwere der Straftat und der daraus resultierende Vergeltungsgedanke, im Strafvollzug, d. h. bei der Entscheidung über Maßnahmen der Resozialisierung nichts zu suchen haben. Schuld und Vergeltung sind durch das Maß der ausgeworfenen Strafe verbraucht. Das heißt weiter, ein Urlaub oder die Gewährung des offenen Vollzugs dürfen nicht mit dem Hinweis verwehrt werden, die Schwere der Schuld gestatte es nicht, wenn dies auch sonst möglich und geboten wäre. Nun hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts in Verkennung dieser Tatsachen mit Beschluß vom 26. Juni 1983 den Justizvollzugsanstalten bei der Entscheidung über die Gewährung von Urlaub aus der Haft für einen zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilten Gefangenen gestattet, dabei „auch die besondere Schwere seiner Tatschuld" zu berücksichtigen, also das Behandlungsziel im Sinne eines Schuldelements zu relativieren. In seinem bekannten abweichenden Votum hierzu hat Richter Mahrenholz — heute Vizepräsident des Verfassungsgerichts — sich vehement dagegen gewandt, indem er an Hand der Materialien nachwies, daß beide große Parteien nur ein Behandlungsziel wollten, nämlich die Resozialisierung, und dieses nicht nur vornehmlich — also mit der Möglichkeit der Relativierung — gelten sollte. Diese Entscheidung hat der Freistaat Bayern flugs benutzt, um mit Entschließung vom 21. August 1987 alle seine Justizvollzugsanstalten daran zu erinnern, daß die Tatschuld auch „bei anderen Vollzugsentscheidungen als der der Gewährung von Urlaub" und auch bei anderen Gefangenen herangezogen werden müsse. Die Justizministerin hatte gleichzeitig angekündigt, daß sie anstrebe, diese Rechtsauslegung im Strafvollzugsgesetz zum Ausdruck zu bringen. Entsprechend diesem Vorsatz hatte der Freistaat Bayern bei den Beratungen des vorliegenden Gesetzesantrages im Bundesrat auch folgenden Passus vorgeschlagen: Ein Gefangener kann auch dann im geschlossenen Vollzug untergebracht oder dorthin zurückverlegt werden, wenn dies zu seiner Behandlung wegen der Schwere der Schuld oder zur Verteidigung der Rechtsordnung geboten ist. bzw. Zur Erreichung des Vollzugszieles sollen die Einsicht des Gefangenen in seine Schuld sowie in die Folgen der Tat, insbesondere für das Tatopfer, geweckt und geeignete Formen des Ausgleichs angestrebt werden. Diese Änderungsvorschläge hat die Mehrheit des Bundesrates, Gott sei Dank, abgelehnt. Geblieben aber ist der folgende Passus: Zur Erreichung des Vollzugszieles sollen die Einsicht des Gefangenen in die Folgen der Tat, insbesondere für das Tatopfer, geweckt und geeignete Formen des Ausgleichs angestrebt werden. Niemand hat etwas dagegen, wenn der Gedanke des Täter-Opfer-Ausgleichs als Resozialisierungsziel 9308* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 126. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Februar 1989 auch verbal im Strafvollzugsgesetz ausgedrückt wird. Bedenken bestehen jedoch, wenn das mit den vom Bundesrat vorgeschlagenen, eben zitierten Worten geschieht. Denn damit wird die Gefahr begründet, daß — gewissermaßen „hintenherum" — doch wieder Schuldelemente in das Vollzugsziel Eingang finden. Darauf hat dankenswerterweise Justizminister Walter vom Saarland hingewiesen. Aber ganz offensichtlich hat auch das Bundesministerium der Justiz Bedenken. Denn es sagt in seiner Stellungnahme warnend, der Vorschlag gehe „weit über die Begründung hinaus" und erfordere deshalb eine Überprüfung im weiteren Gesetzesgang. Auch wir Sozialdemokraten wenden uns nicht gegen die Perspektive des Täter-Opfer-Ausgleichs; haben wir doch als erste diesen Gedanken in einer Gesetzesinitiative im Bundestag formuliert. Für meine Fraktion, die SPD-Bundestagsfraktion, kündige ich jedoch jetzt schon an, daß wir im Verlauf der weiteren Beratungen Anträge stellen werden, die die Formulierung zum Täter-Opfer-Ausgleich auf ein unmißverständliches Maß zurückführen und ausschließen, daß Schuldelemente bei Entscheidungen im Rahmen des Vollzugszieles Verwendung finden können. Natürlich ist es — gerade jetzt — sicher populärer, auf einen harten Strafvollzug zu drängen. Aber wirksamer und humaner ist es nicht. Und auf die Dauer sind damit auch nicht Stimmen von Wählern der sogenannten Republikaner zu gewinnen. Der Bundesrat hat nun weiter vorgeschlagen, daß der Anstaltsleiter beim Gespräch des Gefangenen mit dem Verteidiger die Trennscheibe soll einführen können, daß Briefe in Gegenwart des Gefangenen sollen geöffnet werden können — soweit bisher der Schriftwechsel nicht überwacht werden darf — und in gewissen Fällen der Schriftwechsel des Gefangenen mit seinem Verteidiger — nämlich bei Verurteilungen im Falle gewisser terroristischer Straftaten — soll überwacht werden können. Dies stellt einmal einen tiefen Eingriff in das Verhältnis Verteidiger-Strafgefangener dar und berührt im übrigen das besonders schützenswerte Gut der Gefangenen auf grundsätzlich freie briefliche Kommunikation. Wir wissen aber auch, daß das im Kern schon einmal praktiziertes Recht auf Grund von Änderungen während der sozialliberalen Koalition war. Gleichwohl heben wir mit dem Bundesminister der Justiz den Finger und betonen mit Nachdruck, daß der Handlungsbedarf hier einer besonderen Begründung bedarf und daß derartige Eingriffe keineswegs generalisierend erlaubt werden dürfen. Ebenso nachdrücklich erklären wir mit dem Bundesminister der Justiz, daß die neuen Vorschläge zur Durchsuchung und Untersuchung als tiefgreifende Eingriffe in die Integrität des Strafgefangenen äußerst sorgfältig auf die Waagschale gelegt werden müssen. Wenn dann noch in Betracht gezogen wird, daß der Bundesrat den Strafgefangenen noch zu Beiträgen zur Arbeitslosen- und Sozialversicherung heranziehen will, in welchem Fall der Bundesminister der Justiz sogar widerspricht — wir auch — , wird deutlich, daß der Bundesrat mit dieser Novelle zu Teilen den Scheideweg erreicht und hier und da überschritten hat. Das jetzt nach 5 % der sogenannten Bemessungsgrenze bezifferte Arbeitsentgelt des Gefangenen soll um 1 % erhöht werden. Eine Erhöhung muß erfolgen; aber bitte, auf 10 % der Bemessungsgrenze. Alles andere gäbe uns der Lächerlichkeit preis. Zur Zeit beträgt der Tagesverdienst des Gefangenen etwa zwischen 5 und 10 DM. 1 % mehr bedeutete lediglich eine Erhöhung von 50 Pf bis zu 1 DM pro Tag. Wir Sozialdemokraten werden bei den Beratungen im Rechtsausschuß nicht nur darauf dringen, daß die aufgezeigten heiklen Positionen auf dem Prüfstand des Anhörungsverfahrens untersucht werden. Der Rechtsausschuß wird sich die Zeit nehmen müssen, bei Besuchen von Strafanstalten die Situation vor Ort zu klären. Berücksichtigung finden muß dabei auch die Situation der Bediensteten und Mitarbeiter in den Anstalten, die es schwer genug haben. Außerdem wird die Entwicklung des Strafvollzugswesens im benachbarten Ausland in die Beratungen Eingang finden müssen. Und es ist ganz selbstverständlich, daß wir hier nicht nur den intensiven Meinungsaustausch mit den Ländern suchen, sondern auch Übereinstimmung erreichen müssen. Denn alle Justizvollzugsanstalten werden allein von den Ländern getragen. Das so schwierige Terrain des Strafvollzugsrechts ist bisher vom Deutschen Bundestag mit geringen Ausnahmen gemeinsam beschritten worden. Laute Töne oder gar harte Trommelschläge konnten aus den Beratungen zum Wohle der Strafgefangenen, aber auch der Gesellschaft im Sinne einer allein auf die Resozialisierung ausgerichteten Strafvollzugskultur vermieden werden. Selbstverständlich werden wir dabei das Sicherungsbedürfnis der Allgemeinheit nicht außer acht lassen. Wir Sozialdemokraten können nur hoffen und wünschen, daß diese Aufgaben des Vollzugs im Sinne des § 2 des bisherigen Strafvollzugsgesetzes durch die vorliegende Novelle nicht aufgeweicht, sondern verfeinert und verbessert werden. Funke (FDP): Der Gesetzentwurf des Bundesrates zur Änderung des Strafvollzugsgesetzes begegnet erheblichen Bedenken, auch wenn auf Grund der Beratungen des Bundesrates eine Reihe von „Giftzähnen" gezogen worden sind. So sollte offensichtlich nicht mehr die Resozialisierung des Täters im Vordergrund stehen, sondern die „Schwere der Schuld" und die „Verteidigung der Rechtsordnung ". Wenn auch diese Giftzähne gezogen sind, verbleibt bei einer Reihe von Änderungsvorschlägen der Eindruck, daß nicht die Resozialisierung des Täters im Vordergrund steht. Solchen Bestrebungen werden wir uns in der anschließenden Beratung im Rechtsausschuß widersetzen. Die Wiedereingliederung des Strafgefangenen in die gesellschaftliche Ordnung muß weiterhin im Vordergrund all unserer Überlegungen im Strafvollzug bleiben. Der Schwerpunkt des Gesetzentwurfs liegt nunmehr bei den Vorschlägen zur Regelung des Verkehrs des Verteidigers mit dem Gefangenen gemäß Nr. 11 bis 13 des Art. 1. So soll der Anstaltsleiter zur Anordnung der Trennscheibe bei Verteidigerbesuchen berechtigt sein. Der bislang unüberwachte Schriftwechsel kann kontrolliert werden, und im übri- Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 126. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Februar 1989 9309* gen soll in Einzelfällen der Schriftwechsel des Gefangenen mit seinem Verteidiger überwacht werden. Es kann nicht verkannt werden, daß in der Praxis ein gewisses Bedürfnis für eine stärkere Überwachung besteht. Hier macht es sich der Bundesrat jedoch allzu leicht. Der freie Umgang des Verteidigers mit seinem Mandanten ist ein hohes Rechtsgut und eine wichtige rechtsstaatliche Garantie für den Angeklagten bzw. Strafgefangenen. Hieran wollen wir nicht rütteln. Der Überwachungsbedarf hat in der Strafvollzugsanstalt zu erfolgen und nicht beim ungestörten Gespräch und dem ungestörten Schriftverkehr zwischen dem Verteidiger und dem Strafgefangenen. Auch die Vorschläge, die einseitig die Eingriffsbefugnisse der Strafvollzugsanstalt erweitern, werden von uns kritisch gesehen. Sie verändern den bislang ausgewogenen Interessenausgleich zwischen Strafgefangenen und den Bedürfnissen der Vollzugsanstalten. Hierzu zählt vor allem der Wegfall der Zustimmungsbedürftigkeit bei der Verlegung in den offenen Vollzug und die Untersuchung aus Sicherheitsgründen gemäß Art. 1 Nr. 21. Die Anhebung des Arbeitsentgeltes um 20 % bedeutet eine Erhöhung der täglichen Vergütung von DM 7,55 auf DM 9,06. Wenn wir auch eine Erhöhung des Arbeitsentgeltes begrüßen, so scheint uns diese Erhöhung nicht ausreichend. Nach wie vor wird von der FDP angestrebt, wesentlich höhere Arbeitsentgelte zu zahlen, dafür aber auch den Strafgefangenen in die gesetzliche Krankenversicherung und Rentenversicherung einzubeziehen. Vor allem die Einbeziehung in die Rentenversicherung ist besonders wichtig, um die Resozialisierung der Strafgefangenen zu erleichtern. Frau Nickels (GRÜNE): Das Bemerkenswerteste an dem heute zur Debatte stehenden Tagesordnungspunkt sind neben dem Inhalt der Vorlage, auf den ich sofort eingehen werde, vor allen Dingen die Entstehungsgeschichte und das Verhalten des Bundesjustizministers. Da richtet unsere Fraktion bereits vor 1 1/2Jahren eine detaillierte Große Anfrage an die Bundesregierung mit dem Ziel, die Bilanz von 10 Jahren Strafvollzugsgesetz zu ziehen und endlich einmal über Alternativen zum Gefängnissystem in der Bundesrepublik hier im Deutschen Bundestag zu beraten. Und was passiert? Bis heute war das BMJ nicht imstande, diese Anfrage zu beantworten. Zuletzt wurden wir diese Woche auf März vertröstet. Die angeblichen Gründe dafür — laut BMJ — : man habe noch nicht alle dafür notwendigen Informationen aus den Bundesländern. Zwischenzeitlich waren die Bundesländer — unter Beteiligung des BMJ — sehr wohl in der Lage, eine umfassende Gegenreform im Strafvollzug zu erarbeiten und heute hier vorzulegen. Fast drei Jahre ist es nun her, seit im Frühsommer 1986 der jetzige Tiefflugminister Scholz als damaliger Senator für Justiz und Bundesangelegenheiten in Berlin die anderen Justizminister der Länder einlud, nach zehnjähriger Geltung des Strafvollzugsgesetzes über die gemachten Erfahrungen zu beraten. Dem damaligen Senator ging es in seinem Brief allerdings nicht nur um Erfahrungsaustausch, sondern vielmehr um Grundsätzliches: er konstatierte Mängel im Strafvollzugsgesetz, so beispielsweise in der Soll-Vorschrift des § 3, die die Angleichung des Lebens im Vollzug an die allgemeinen Lebensverhältnisse fordert. Dieser Grundsatz wecke „unrealistische Erwartungen"; bei der Regelung von Vollzugslockerungen, wie z. B. Ausgang und Urlaub, müßten seiner Ansicht nach klare gesetzliche Vorgaben eingeführt und überlegt werden, „inwieweit die Tatschuld oder die Verteidigung der Rechtsordnung zu berücksichtigen sei". Der letzte Punkt wurde dann im Timmendorfer Strand zwar fallengelassen, aber weitgehende Einigkeit erzielte man dort bei Fragen des Täter-OpferAusgleichs, beim Wegfall der Zustimmung des Gefangenen zur Verlegung in den offenen Vollzug und bei der „Berücksichtigung der Bereitschaft des Gefangenen zur Mitwirkung an der Erreichung des Vollzugszieles bei der Gewährung von Lockerungen" . Von da ab setzte eine, zunächst unter Ausschluß der gespannten (Fach-)Öffentlichkeit stattfindende, später aber auch breit kritisierende Debatte über den neuen Kurs, den das Strafvollzugssystem in der Bundesrepublik steuern solle, ein. Vorläufiger Höhepunkt ist der heute zu beratende Vorschlag des Bundesrates. Nach dem bekannten und seit dem Regierungswechsel offensichtlich erfolgreichen Muster haben die CDU-regierten Länder auch hier das Anderthalbf ache gefordert, um das Ganze schließlich zu erreichen. Die ursprünglich geplante Schuldschwereklausel zu Einschränkung von Vollzugslockerungen gegenüber Gefangenen ließ man später fallen, offensichtlich um den jetzt weitgehend — mit Ausnahme des Landes Bremen — erreichten Kompromiß mit den SPD-Ländern zustande zu bringen. Diese Klausel braucht auch niemand mehr, denn die Justizbehörden benutzten erfolgreich die Entscheidung des BVG aus 1983, die zwei NS-Täter betrifft, um auch „normale" Gefangene unter Verschluß zu halten. Statt dessen hat man nun den auch in anderen Gesetzentwürfen bereits überstrapazierten Täter-OpferAusgleich zum Hebel für willkürliche, d. h. gerichtlich kaum nachprüfbare, Einschränkungen gemacht. Nicht genug der Umstand, daß das Strafvollzugsgesetz bereits jetzt von unbestimmten Rechtsbegriffen und Ermessensklauseln nur so wimmelt. Nun soll der Gefangene Vollzugslockerungen, die ja schließlich keine Gnadengeschenke, sondern notwendige Behandlungsmaßnahmen sind, wenn man gefangene Menschen nicht ganz und gar von der Außenwelt abschotten und dann irgendwann plötzlich in die Gesellschaft hineinwerfen will, nur noch dann erhalten, wenn er dafür „geeignet erscheint" und wenn „sein Verhalten im Vollzug die Bereitschaft zeigt, an der Erreichung des Vollzugszieles mitzuwirken", namentlich „Wiedergutmachung" leistet. Der Grundgedanke, daß Straftäter und Straftäterinnen selbstverständlich den angerichteten Schaden wenigstens finanziell ersetzen und so einen Beitrag zum Täter-Opfer-Ausgleich leisten sollen, ist natürlich völlig richtig und wird von uns nicht erst seit heute 9310* Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 126. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Februar 1989 immer wieder betont. Bei dem hier vorgestellten Konzept fragt man sich aber, wie denn dieser Schadensersatz vonstatten gehen soll. Bisher erhalten Gefangene eine Eckvergütung von 7,33 DM täglich; diese würde nach dem Entwurf auf etwa 8,75 DM täglich, also monatlich unter 180 DM „angehoben". Von diesem Geld will und muß der Gefangene aber auch noch notwendige Einkäufe — Zusatzlebensmittel und Körperpflegemittel — tätigen. Was dann noch übrigbleibt, dient dem Überbrückungsgeld, mit dem der Gefangene den notwendigen Lebensunterhalt für sich und seine Familie für die ersten vier Wochen nach der Entlassung sichern soll (§ 51 Abs. 1 StVollzG). Die Augenwischerei, die diese Überstrapazierung des Täter-Opfer-Ausgleichs in Verbindung mit der Erhöhung des Arbeitsentgeltes darstellt, kann nicht den Blick darauf versperren, daß Sie mit dieser Generalklausel ( „Bereitschaft zum Ausgleich der Tatfolgen") sich weiter der Rechtsprechung entziehen und neue Gründe zur Einschränkung von Lockerungen schaffen wollen. Wo eine materielle Entschädigung der Opfer nicht möglich ist, bleiben nur allgemeine Bußfertigkeit und Heuchelei und deren Anerkennung oder Nichtanerkennung durch die Anstalt. (Dieser Satz entstammt einer Stellungnahme hierzu, die von Prof. Dr. Fest an der Uni Bremen verfaßt wurde). Und die Strafverteidigervereinigungen in der Bundesrepublik sprechen in diesem Zusammenhang von einem „Etikettenschwindel" weil die Rechte des Gefangenen eingeschränkt würden, ohne daß das Opfer tatsächlich mit einer Schadenswiedergutmachung rechnen könne, die an einer wirklich einigermaßen gerechten Entlohnung scheitere. Immerhin betragen die Schulden eines Gefangenen im Erwachsenengefängnis durchschnittlich 45 000 DM. (s. Stellungnahme der BAG der Sozialarbeiter/Sozialpädagogen in den JVA's v. 27. 1. 89, Blatt 77) Geradezu erschreckend sind die Vorschläge auch in bezug auf den zukünftigen Rechtsschutz für Gefangene: Wie damals befürchtet, soll die Trennscheibe jetzt sogar für Verteidigerbesuche bei „normalen", d. h. nichtterroristischen Gefangenen eingeführt und auch Anwaltspost geöffnet und untersucht werden können (§ 29 Abs. 3). Immerhin hat die Bundesregierung zu diesem Punkt Bedenken angemeldet. Weiterhin sollen Gefangene, die gerichtlichen Rechtsschutz suchen, einen Kostenvorschuß zahlen müssen. Schon jetzt heben die Gerichte die Streitwerte in den entsprechenden Verfahren nach § 109 dermaßen an, daß die Kosten viele Gefangene abschrecken, sich überhaupt noch zur Wehr zu setzen, wenn sie sich ungerecht behandelt fühlen. Hiermit aber schneidet man dem größten Teil der Gefangenen nun endgültig den Weg zum Gericht ab, und das ist ja offensichtlich auch so beabsichtigt. Nur diejenigen, die Privatvermögen im Hintergrund haben, können weiterhin Rechtsschutz beanspruchen. Dieses Sondergesetz gegen Gefangene — denn im Verwaltungsverfahrensrecht gibt es aus gutem Grund keine derartige Vorschußpflicht — wird mit der Behauptung begründet, Gefangene würden „mutwillig und mißbräuchlich " derartige Anträge auf Gerichtsentscheidung stellen. Zum einen ist es aber jetzt bereits so, daß die gefangenen Antragsteller/innen im Falle des Unterliegens selbstverständlich die Gerichts- und Anwaltskosten zu tragen haben, zum anderen liegt die gerichtliche Ablehnung sehr oft darin begründet, daß der Antrag schon aus formalen Gründen unzulässig ist, weil der Betroffene z. B. Fristen versäumt oder Vorverfahren da, wo sie notwendig wären, nicht eingehalten hat. Anstatt in diesem so sensiblen „besonderen Gewaltverhältnis", wie es in Gefängnissen nun mal besteht (BVG), Rechtsmittel zu verkürzen, sollte man z. B. die Prozeßkostenhilfe ausweiten und anwaltliche Beratung in den Anstalten erleichtern. Im übrigen liegt die relativ hohe Mißerfolgsrate dieser Anträge auf gerichtliche Entscheidung nach § 109 StVollzG sicherlich darin begründet, daß das Strafvollzugsgesetz im Gegensatz zu anderen öffentlich-rechtlichen Gesetzen aus einer Vielzahl unbestimmter Rechtsbegriffe und Ermessensvorschriften besteht. Hier Konkretisierung und damit Rechtssicherheit für Gefangene und Bedienstete zu schaffen wäre ein weitaus sinnvolleres Anliegen einer Reform als die Motive, die hinter dem vorliegenden Entwurf mit seinen hehren Formulierungen mehr schlecht als recht verborgen sind. Die GRÜNEN und andere Kräfte in der bundesrepublikanischen Kriminalpolitik fordern seit langem statt dessen 1. die leistungsgerechte Bezahlung der Gefangenen und ihre Einbeziehung in die Sozial- und Krankenversicherung. (Hierzu werden bedauerlicherweise keine Vorschläge gemacht, statt dessen erlaubt man die mittelalterliche Zellenarbeit über weitere fünf Jahre hinaus.) 2. Lockerungen, offener Vollzug und die Empfehlung von seiten der Anstalt, eine vorzeitige Entlassung nach zwei Dritteln der verhängten Strafe, sollten nicht wie bisher Ausnahme bleiben, sondern zur Regel werden. Würden hierzu die notwendigen gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, könnte sowohl für die erfolgreiche Resozialisierung des/der einzelnen Gefangenen als auch für die Sicherheit der Bevölkerung weit mehr erreicht werden als durch weitergehende Beschränkungen im Strafvollzug. Auch so bedauerliche und schreckliche Ereignisse, wie die Gladbecker Geiselaffäre sollten niemanden zu solch populistischen Schnellschüssen verführen. Dr. Jahn, Parl. Staatssekretär beim Bundesminister der Justiz: Der Schwerpunkt des Gesetzentwurfs liegt bei den Vorschlägen zur Regelung des Verteidigerverkehrs. Hinichtlich dieses gesamten Komplexes hat die Bundesregierung in ihrer Stellungnahme eine Überprüfung vorgeschlagen, weil einerseits ein Bedürfnis der Praxis nach wirksamen Maßnahmen nicht von der Hand zu weisen ist, andererseits aber den Belangen einer wirksamen Verteidigung besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden muß. Über weitere Einzelaspekte des vorliegenden Gesetzentwurfes ist bereits gesprochen worden. Ich möchte deshalb hier nur noch zwei kriminalpolitisch erwünschte Vorschläge herausgreifen: Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 126. Sitzung. Bonn, Freitag, den 17. Februar 1989 9311* Erstens die beabsichtigte Anhebung des Arbeitsentgelts der Gefangenen. Sie wird die Motivation des Gefangenen für seine Arbeit im Vollzug erhöhen. Darüber hinaus wird sie in vielen Fällen auch die Eingliederung nach der Haft erleichtern. Der Gefangene wird nämlich mehr Überbrückungsgelder als bisher ansparen können. Schließlich wird sie dem Täter auch die Möglichkeit eröffnen, schon während des Vollzuges einen Beitrag zur Wiedergutmachung der Tatfolge zu leisten. Die seit langem überfällige Erhöhung des Arbeitsentgelts entspricht damit der Intention des Strafvollzugsgesetzes. Sie wird von der Bundesregierung deshalb uneingeschränkt unterstützt. Zu begrüßen ist zweitens der Vorschlag, Maßnahmen zum Ausgleich von Tatfolgen schon in den Vollzugsplan mit einzubeziehen. Hierin kommt der Gedanke des Täter-Opfer-Ausgleichs zum Ausdruck, der dem Bundesminister der Justiz sehr am Herzen liegt. Wie Sie sich erinnern können, haben wir erst 1986 das Opferschutzgesetz verabschiedet. Es hat als neuen Strafzumessungsgrund auch das Bemühen des Täters um Ausgleich mit dem Verletzten eingeführt. Die Ergänzung des Vollzugsplans würde diesen im Strafrecht verwirklichten Gedanken auf den Strafvollzug übertragen. Auch diese Vorschläge des Gesetzentwurfs sind sicher kein Riesenschritt zur Verbesserung des Strafvollzuges. Sie sind aber ein Beitrag, die soziale Verantwortung und Eingliederung von Gefangenen zu fördern und die Allgemeinheit vor weiteren Straftaten zu schützen. Diese Ziele finden die volle Unterstützung der Bundesregierung. Bei Änderungen des Strafvollzugsgesetzes kommt es vor allem darauf an, das Grundprinzip der Resozialiserung des Gefangenen im Auge zu behalten. An dieser Zielrichtung des Strafvollzugsgesetzes ist jeder Änderungsentwurf zu messen. Anlage 3 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner Sitzung am 10. Februar 1989 beschlossen, den nachfolgenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gem. Art. 77 Abs. 2 GG nicht zu stellen. Gesetz über Agrarstatistiken (Agrarstatistikgesetz — AgrStatG) Fischwirtschaftsgesetz (FWG) Gesetz zur Förderung der Einstellung der landwirtschaftlichen Erwerbstätigkeit (FELEG) Gesetz zur Änderung besoldungs- und wehrsoldrechtlicher Vorschriften Gesetz zur Änderung des Zweiten Wohnungsbaugesetzes und des Wohnungsbaugesetzes für das Saarland (Wohnungsbauänderungsgesetz 1988 — WoBauÄndG 1988) Gesetz zur Schaffung eines Vorrechts für Umlagen auf die Erzeugung von Kohle und Stahl (EGKS-UmVG) Gesetz zu dem Abkommen vom 4. Dezember 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Staat Kuwait zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen und zur Belebung der wirtschaftlichen Beziehungen Gesetz zu dem Abkommen vom 23. November 1987 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Venezuela zur Vermeidung der Doppelbesteuerung der Unternehmen der Luftfahrt und der Seeschiffahrt Gesetz zu dem Protokoll vom 26. März 1986 zur Änderung des Übereinkommens vom 4. Juni 1974 zur Verhütung der Meeresverschmutzung vom Lande aus Gesetz zur Einführung eines zusätzlichen Registers für Seeschiffe unter der Bundesflagge im internationalen Verkehr (Internationales Seeschiffahrtsregister — ISR) Zu dem letztgenannten Gesetz hat der Bundesrat folgende Entschließung gefaßt bzw. angenommen: Der Bundesrat begrüßt ebenso wie der Deutsche Bundestag die Zielsetzung des Gesetzes, durch die Einführung eines Internationalen Seeschiffahrtsregisters Schiffe unter deutscher Flagge zu halten, einen Beitrag zur Wiederherstellung der Wettbewerbsfähigkeit deutschflaggiger Schifte zu leisten und langfristig qualifizierte Arbeits- und Ausbildungsplätze für deutsche Seeleute zu erhalten. Er fordert die Bundesregierung deshalb auf, durch eine Änderung der Schiffsbesetzunqsverordnung umgehend sicherzustellen, daß der überwiegende Anteil der Arbeitsplätze des Führungspersonals und der für die Qualifizierung notwendigen Ausbildungsplätze an Bord der im Internationalen Seeschiffahrtsregister eingetragenen Schiffe für deutsche Seeleute erhalten bleibt. Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß gemäß § 80 Abs. 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Auswärtiger Ausschuß Drucksache 11/1031 Drucksache 11/2535 Drucksache 11/3277 Ausschuß für Forschung und Technologie Drucksache 10/5298 Die Vorsitzenden folgender Ausschüsse haben mitgeteilt, daß der Ausschuß die nachstehenden EG-Vorlagen zur Kenntnis genommen bzw. von einer Beratung abgesehen hat: Innenausschuß Drucksache 11/3200 Nr. 2.1 Ausschuß für Wirtschaft Drucksache 11/3558 Nr. 3.1---3.4, 3.8-3.12 Drucksache 11/3636 Nr. 2.3-2.7, 2.9, 2.10 Drucksache 11/3703 Nr. 2.4 — 2.9 Drucksache 11/3831 Nr. 1, 2, 4-10 Ausschuß für Forschung und Technologie Drucksache 11/2956 Nr. 2.5 Drucksache 11/3021 Nr. 2.13 Drucksache 11/3558 Nr. 3.38 Der Bundesminister für das Post- und Fernmeldewesen hat mit Schreiben vom 26. Januar 1989 gemäß § 17 Abs. 5 Postverwaltungsgesetz den Haushaltsplan der Deutschen Bundespost für das Haushaltsjahr 1989 übersandt. Die Unterlagen liegen im Parlamentsarchiv zur Einsichtnahme aus.
  • insert_commentVorherige Rede als Kontext
    Rede von Angelika Beer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren! Die Bundesrepublik wird zunehmend berüchtigt für die Lieferung von Rüstungsgütern in alle Welt und für die Lieferung von Material und Know-how, das die Produktion und den Einsatz von Massenvernichtungswaffen erlaubt: die U-BootTechnologie und Kampfhubschrauber nach Südafrika, Atomtechnologie in das gleiche Land und Tornados nach Jordanien. Schlupflöcher und illegale Verschiebungen von tödlichem Material werden zum Prinzip. Schließlich sind wir eine Exportnation, und die Freiheit des Außenhandels ist eine heilige Kuh, selbst wenn sie über Leichen geht.
    Nun kam es zur Lieferung von Know-how, von Komponenten und von Zwischenprodukten für chemische und biologische Waffen in den Nahen Osten. Der Irak hat offensichtlich mit bundesdeutscher Hilfe C-Waffen produziert und im Krieg gegen den Iran und
    gegen kurdische Dörfer auch eingesetzt. Zehntausende von Toten waren die Folge. Wir erinnern uns noch sehr gut daran, wie noch zu diesem Zeitpunkt von Politikern eine Unterstützung des Irak gegen den fundamentalistischen Iran gefordert wurde, bis in die grüne Bundestagsfraktion hinein. Diese Giftgaseinsätze führten zwar zu einem kurzzeitigen Aufschrei, aber nicht zu einem „Skandal", wie wir ihn nun erlebt haben.
    Den jetzigen Skandal um eine bundesdeutsche Beteiligung in Rabta in Libyen verdanken wir — hier ist ein gewisser Grad von Dankbarkeit durchaus am Platz — der US-Regierung und den US-Medien. Ohne das, was aus Kreisen der Bundesregierung als „antideutsche Kampagne" aufgefaßt wurde, Herr Kohl, wäre die Rolle der BRD

    (Kittelmann [CDU/CSU]: Was ist das denn wieder?)

    in diesem möglichen Fall von C-Waffen-Produktion von der Bundesregierung im üblichen Stil selbstzufriedener Ignoranz unter den Teppich gekehrt worden. Daß die US-Regierung gerade Rabta und nicht die zahlreichen anderen, noch sehr viel besser dokumentierten Fälle von Schreibtischtäterschaft der Bundesrepublik zum Anlaß genommen hat, die Bundesregierung vorzuführen, steht auf einem ganz anderen Blatt. Auch die Tatsache, daß gerade die US-Regierung wenig Grund hat, in diesen Angelegenheiten mit erhobenem Zeigefinger auf andere zu zeigen, schmälert nicht das Verdienst, diesen Skandal ausgelöst zu haben.
    Wir müssen also inzwischen davon ausgehen, daß die Bundesrepublik so ziemlich alles zu liefern bereit ist, was tötet, wenn nur die Kasse stimmt, — an wen auch immer. Juristische Feinheiten werden hier keine Rolle spielen, auch in Zukunft nicht.
    Bundesminister Haussmann ist in dieser Frage von moralischen Zweifeln noch immer nicht angekränkelt.

    (Beckmann [FDP]: So ein Quatsch!)

    Sie, Herr Minister Haussmann, haben uns nämlich vorgestern auf einer Pressekonferenz verraten, warum die Bundesregierung einige juristische Veränderungen vornehmen will. Es geht Ihnen und der Regierung nicht darum, Massaker an Zivilisten und das Vergasen ganzer Dörfer zu verhindern. Minister Haussmann, Sie haben formuliert, die gesetzlichen Maßnahmen seien notwendig, um den Ruf der deutschen Wirtschaft zu schützen. Großartig, Herr Minister! Endlich zieht also Glasnost auch in Bonn ein. Massaker — scheißegal, Hauptsache, das Image bundesdeutscher Konzerne wird nicht belastet.

    (Zuruf von der CDU/CSU: Das ist ein Vokabular hier! — Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)

    Solche offenen Worte wissen wir durchaus zu würdigen, Herr Haussmann. Sie wiesen dann noch darauf hin, daß die Wirtschaft „viel Verständnis" für die Politik der Regierung gezeigt habe, was nicht sonderlich erstaunlich ist. Sie brachten das auf den Punkt mit dem Satz: „Sie haben das gleiche Interesse wie wir. "



    Frau Beer
    Wie schön, welche Idylle! Schreibtischtäter der deutschen Großindustrie leisten Beihilfe zum Massenmord, und dem Bundesminister für Wirtschaft fällt nichts anderes ein, als eine Interessengemeinschaft und -identität der Regierung mit der Wirtschaft zu proklamieren.
    Andererseits: Nach Monaten des Vertuschens und der Lüge durch die Bundesregierung tut soviel Offenheit gut. Sie, Herr Minister Schäuble, tun sich da wesentlich schwerer, wenn Sie z. B. dem staunenden Publikum einreden möchten, bestimmte Informationen hätten bereits 1980 existiert, nur hätten Sie im Januar 1989 noch nichts davon gewußt. Wenn Herr Minister Schäuble gar meint, seit Januar habe sich das Bild eigentlich nicht verändert, zugleich aber inhaltlich in entscheidenden Punkten das Gegenteil von dem verkündet, was er im Januar erklärte, dann würde man sich doch wünschen, er holte sich bei seinem Kollegen Haussmann einige Nachhilfe an Zynismus und Offenheit.
    Der Besitz und erst recht die Weiterverbreitung chemischer und biologischer Waffen, meine sehr verehrten Damen und Herren, sind eine unerträgliche Vorstellung. Wenn das in einer Region wie dem Nahen und Mittleren Osten geschieht, ist die Sorge natürlich besonders groß und angebracht, gleichgültig, ob die jeweiligen Waffen im Besitz des Iran, des Irak, Syriens, Ägyptens, Libyens oder Israels sind. Wir treten nach wie vor für ein völliges Verbot aller B- und C-Waffen überall auf der Welt ein und für entsprechende überfallartige Verifikationskontrollen. Alles andere sind Scheinlösungen, die ähnliche Vorgänge lediglich legalisieren.
    Die Bundesregierung hat diesem Ziel einer weltweiten Ächtung dieser Waffensysteme schweren Schaden zugefügt und ihr Eintreten für ein weltweites völliges C-Waffen-Verbot, zuletzt in Paris, dem Verdacht bloßer Demagogie ausgesetzt. Dafür tragen Sie die volle Verantwortung, auch indem Sie die eben gerade eingeforderten Verifikationsmaßnahmen selber in Zusammenarbeit mit den westlichen Alliierten und vor allen Dingen den USA auf der letzten Konferenz verhindert haben.
    Wir sind aber nicht allein für ein Verbot von B- und C-Waffen, sondern für eine völlige Beseitigung sämtlicher Massenvernichtungswaffen überhaupt. Die Vorstellung etwa, Atombomben oder bestimmte konventionelle Waffensysteme seien erträglicher als chemische Waffen, wäre völlig absurd. Vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte ist eine Initiative der Bundesrepublik zur Beseitigung sämtlicher Vernichtungsmittel längst überfällig.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Schließlich reicht es auch nicht aus, mit erhobenem bundesdeutschem Zeigefinger nur immer nach außen zu weisen. Zahlreiche Stoffe, die in bestimmten anderen Ländern sehr wohl zweifellos als C-Waffen-Komponenten aufgefaßt würden, lagern mit großer Selbstverständlichkeit als zivile Chemikalien in Chemiekonzernen der Bundesrepublik. Wir GRÜNEN haben seit langem — ich wiederhole diese Forderung hier — eine grundlegende Umstrukturierung der chemischen Industrie bei uns und deren Entgiftung gefordert. Wir klagen diese auch heute ein.

    (Beifall bei den GRÜNEN)

    Schließlich sollten wir auch nicht vergessen, daß auch bei uns B-Waffen-Forschung betrieben und zum Teil aus dem Verteidigungshaushalt finanziert wird. Dies mag unter der harmlosen Überschrift „B-WaffenSchutz-Forschung " firmieren; jeder unabhängige Experte weiß aber inzwischen, daß es eine Trennung von offensiver Forschung und Schutzforschung auf diesem Gebiet nicht geben kann und nicht geben wird.

    (Dr. Weng [FDP]: Der Schutz der Bevölkerung ist Ihnen egal?)

    Wir fordern daher erneut die sofortige Einstellung der entsprechenden Projekte in der Bundesrepublik. Ein Antrag liegt Ihnen dazu heute vor. Wir bitten um Ihre Zustimmung, wenn Ihnen tatsächlich an einer Beseitigung der B- und C-Waffen gelegen ist, wenn es Ihnen tatsächlich darum geht, nicht weiterhin stille Beihilfe zum Massenmord zu leisten.

    (Beifall bei den GRÜNEN — Kittelmann [CDU/CSU]: Unverschämtheit! Merken Sie eigentlich, wie unverschämt Sie sind?)

    Die Bundesregierung hat als Reaktion auf diesen Skandal einige Maßnahmen vorgeschlagen. Es ist aber deutlich, daß es sich dabei lediglich um Imagepflege und eine Begrenzung des außenpolitischen Schadens, insbesondere im Verhältnis zu den USA, handelt, nicht aber um eine politische Kehrtwende. Es handelt sich um eine politische Kosmetik zur Beruhigung der internationalen Öffentlichkeit. Sie werden sich — das verspreche ich Ihnen — damit nicht einer Untersuchung z. B. der Lieferung von Mykotoxin und biologischen Waffen und der Herstellung dieser Waffen und Kampfstoffe sowie der dazu geleisteten Beihilfe an den Irak entziehen können.
    Die GRÜNEN fordern ein Verbot sämtlicher Massenvernichtungswaffen weltweit und sämtlicher Forschung an B- und C-Waffen.

    (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Wir werden zu diesem und auch zu noch nicht angesprochenen Fragen in der nächsten Woche einen Untersuchungsausschuß beantragen. Sollte der Protest der SPD gegen das Vorgehen der Bundesregierung ernst sein und die Jahreszahl 1980 keinen Hintergrund haben, erwarten wir auch Ihre Unterstützung für diesen Untersuchungsausschuß.

    (Beifall bei Abgeordneten der GRÜNEN)

    Das Übel muß an der Wurzel gepackt werden.
    Sie, Herr Kohl — wo ist er überhaupt; hat er sich wieder verdrückt: „Augen zu und durch"? —

    (Bohl [CDU/CSU]: So wichtig sind Sie gar nicht!)

    und Sie, Herr Haussmann und Herr Schäuble, tragen die politische Mitverantwortung . . .


Rede von Dr. Rita Süssmuth
  • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (CDU)
  • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (CDU)
Frau Abgeordnete Beer, Sie haben jetzt — —




  • insert_commentNächste Rede als Kontext
    Rede von Angelika Beer


    • Parteizugehörigkeit zum Zeitpunkt der Rede: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
    • Letzte offizielle eingetragene Parteizugehörigkeit: (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

    . . . für den bereits erfolgten Einsatz von Giftgas gegen Kurden. Sie sind zugleich politisch mitverantwortlich für mögliche zukünftige Massenmorde in der Dritten Welt an der Zivilbevölkerung.

    (Lebhafter Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP — Bohl [CDU/CSU]: Das ist doch eine Unverschämtheit! Eine Frechheit!)