Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Die Antwort der Bundesregierung offenbart ein fundamentales Unwissen über alle wesentlichen Aspekte der in unserer Großen Anfrage thematisierten Probleme und ein völliges Desinteresse an der Erforschung der Ursachen von Unfruchtbarkeit.
Die Antworten sind durchgehend vage gehalten. Mühsame Versuche, die Wissenslücken zu bemänteln durch Verweise auf Untersuchungen in anderen Ländern, können nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Grundlagenwissen über Unfruchtbarkeit, ihre Ursachen, ihr Ausmaß und sinnvolle Therapieformen einfach dürftig sind.
Was wird nicht gewußt? Worüber wird nicht nachgedacht? Was wird nicht erforscht? Die Liste ist erschreckend lang: Studien zur Häufigkeit von ungewollter Unfruchtbarkeit liegen in der Bundesrepublik nicht vor. Umfassende Untersuchungen über die Veränderung der Häufigkeit von Unfruchtbarkeit sind in der Bundesrepublik nicht bekannt. Es fehlen arbeits- und umweltmedizinische Forschungen zu den Einflüssen von Arbeitsbedingungen, Umweltbelastungen, giftigen Stoffen in der Ernährung sowie Streß auf die Fruchtbarkeit. Es fehlen Untersuchungen zur Auslösung von Unfruchtbarkeit durch Medikamente, insbesondere durch Hormonbehandlungen und Verhütungsmittel.
Es gibt nur naturwissenschaftlich orientierte Forschung, die Fortpflanzung allein als biochemischen und biophysikalischen Prozeß begreift. Es fehlen Untersuchungen, die die lebensweltlichen und psychosomatischen Dimensionen von Fortpflanzung und Unfruchtbarkeit erforschen. Es können keine umfassenden Angaben gemacht werden zum Wissensstand bei Ärztinnen und Ärzten und anderen Multiplikatorengruppen über die Ursachen und die Möglichkeiten der Vermeidung von Unfruchtbarkeit.
Der düstere Kenntnisstand ist deshalb so aufschlußreich, weil gleichzeitig eine rasante Entwicklung bei den Methoden zur künstlichen Befruchtung und eine sehr einseitige Orientierung auf medizinisch-technische Abhilfe stattfinden.
Nach verschiedenen Schätzungen ist laut Bundesregierung von 10 % bis 15 % ungewollter Kinderlosigkeit bei Ehepaaren im reproduktionsfähigen Alter auszugehen.
Diesen Zahlen liegt die Definition von Unfruchtbarkeit bei nicht erfolgter Konzeption innerhalb von zwei Jahren zugrunde. Von wem diese Definition stammt, sagt die Bundesregierung nicht. Dafür erfahren wir, wie die WHO Unfruchtbarkeit definiert, nämlich etwas anders: Keine Konzeption innerhalb eines Jahres bei regelmäßigem Geschlechtsverkehr.
Wie nach der WHO-Definition die Zahlen für die Bundesrepublik zu schätzen wären, bleibt offen. Warum wohl?
Ich denke, daß das Verwirrspiel über verläßliche Daten Methode hat. Das schafft nämlich den Spielraum, je nach politischer Opportunität unterschiedlich vorzugehen und politische Vorgaben je nach Gusto zu legitimieren.
So ist es sehr interessant, daß die gleiche Bundesregierung, die in der Großen Anfrage — die Antwort stammt vom Mai 1988 — konstatiert, „daß in der Bundesrepublik keine dramatischen Veränderungen der Unfruchtbarkeit bzw. Spermaqualität in den letzten 20 Jahren eingetreten sind" , in ihrem „Kabinettsbericht zur künstlichen Befruchtung beim Menschen" drei Monate vorher, im Februar 1988, ungewollte Kinderlosigkeit aber als „Massenphänomen" bezeichnet.
Was denn nun? Ist ungewollte Kinderlosigkeit ein „Massenphänomen", oder ist sie es nicht? Gibt es dramatische Veränderungen in den letzten 20 Jahren, oder nicht?
Oder muß ab und zu dramatisiert und gut dosiert wieder abgewiegelt werden, damit die Methoden zur künstlichen Befruchtung zunächst für wenige — als Ausnahme und letztes Mittel deklariert — gesellschaftlich durchgesetzt werden können, um uns alle schleichend an die Reproduktionstechniken zu gewöhnen und uns von Protest und Widerstand gegen all das abzuhalten, was als Ursache für Unfruchtbarkeit zum Teil schon nachgewiesen, zum Teil mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist?
Wissenschaftler der Technischen Hochschule Aachen wiesen 1987 darauf hin, daß sich der Anteil der ungewollt kinderlosen Ehen in der Bundesrepublik in den letzten 20 Jahren mehr als verdoppelt habe: von 7 % auf 15 %. Sie vermuteten einen Zusammenhang mit Umweltbelastungen, da die Unfruchtbarkeit bei Berufsgruppen, die mit Chemikalien und Pestiziden arbeiten, überproportional hoch ist.
Barbara Menning, Gründerin einer Organisation in den USA zur Beratung ungewollt kinderloser Paare, kommt zu folgender Einschätzung: „Ich glaube, die Fortpflanzungsorgane sind eine Art Frühwarnsystem für die Menschheit. " Das ist zitiert nach: Gena Corea, Die Muttermaschine.
Und Anna Dorothea Brockmann — zitiert nach Streit, März 1988 — sagt:
Sterilität als Normalitätsabweichung und Krankheit verschiebt den Blick von gesellschaftlichen Ursachen reproduktiver Stagnation auf individuelle Verantwortlichkeit und private Heilungsangebote, also weg von Vergiftung, Verseuchung, Verstrahlung, Streß, Medikamenten oder auch sozialer Rollenverweigerung hin zu individualisierter Versagenszuschreibung und zu Reparaturtechniken der Gynäkologie.
Ungewollt kinderlos zu sein und sich keiner der machbaren Behandlungsarten zu unterziehen wird bei derartiger Definition nunmehr legitimationsbedürftig, auch subjektiv. Denn Unfruchtbarkeit gilt so als unnatürlicher Mangel, der der gesunden „Natur" der Frau widerspricht — womit die Reproduktionsmedizin einmal mehr den sozialen Zwang zur „mütterlichen Natur" der Frau unterstreicht und ausdehnt.
Also — sage ich — : Wenn die Natur es nicht mehr schafft oder sich weigert, muß halt die Technik ran.
Sterilitätsstörungen liegen zu fast gleichen Anteilen bei Mann und Frau; die Verantwortung, die Last der
Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988 8207
Frau Schmidt-Bott
Untersuchungen und vor allem die oft qualvollen Behandlungen aber traditionell einseitig wieder bei den Frauen.
Traute Schönenberg und Ute Winkler vom Femministischen Frauengesundheitszentrum Frankfurt, das seit zwei Jahren eine Beratung für ungewollt kinderlose Frauen anbietet, berichten, daß häufig Frauen zu ihnen kommen, die gynäkologisch bereits völlig „auf den Kopf gestellt" wurden, ohne daß sich ein Hinweis auf Schwangerschaftshemmnisse ergab. Die Autorinnen stellen dazu fest:
Die Partner der Frauen werden nicht oder erst zu einem späteren Zeitpunkt untersucht, da sie sowohl von den Gynäkologen als auch von den Frauen selbst „geschützt" werden.
In der Antwort der Bundesregierung liest sich das so:
... bei der Frau sind zur Feststellung oder zum Ausschluß einer Sterilitätsursache ungleich mehr Diagnoseschritte erforderlich als beim Mann. Da sich auch die Behandlungsmöglichkeiten vorwiegend auf die Frau beziehen, werden Frauen wegen ungewollter Kinderlosigkeit ungleich mehr behandelt als Männer. Das gilt in Ermangelung kausaler Therapien bei männlich bedingter Fruchtbarkeitsstörung z. T. auch, wenn die Kinderlosigkeit eindeutig durch den Mann bedingt ist.
Im Klartext: Frauen werden wegen Unfruchtbarkeit behandelt, obwohl sie gar nicht unfruchtbar sind. Frauen sind das Experimentierfeld für die Reproduktionsmediziner, denen es um den Embryo als Forschungsmaterial geht. Ich zitiere den englischen Gynäkologen Steptoe:
Hätten wir nicht an Embryos geforscht, wäre die künstliche Befruchtung niemals so weit gekommen ... Und wir mußten dafür einige hundert Embryos sezieren.
Zitiert nach „Gen-Report 1988".
Frauen werden zu „Eispenderinnen" degradiert, die das Rohmaterial liefern und die tendenziell ganz aus dem Vorgang des „Menschenmachens" ausgeschaltet werden sollen.
In Bologna gelang es in diesem Sommer einem Ärzteteam, eine aus einer Frau entfernte Gebärmutter künstlich mit Sauerstoffzufuhr und Hormongabe am „Leben" zu erhalten. Der implantierte Embryo entwickelte sich nach dem Bericht der Ärzte „ganz normal", bis nach 52 Stunden die Gebärmutter „zusammenbrach".
Herr Prof. Kurt Semm, Leiter des Kieler IVF-Teams, ist da ebenfalls ganz sachlich:
Die Aufzucht des homo sapiens im Reagenzglas ist auch meines Erachtens ein technisches Problem und nicht unlösbar ... warum soll es nicht möglich sein, die Plazenta, die ja lediglich nur an einer Membrane sitzt und die ganzen Nährstoffe der Mutter ... austauscht, an irgendeine Wand zu setzen, die wir technisch entwickeln und wo der ganze Embryo genauso genährt wird, wie in ihrem Unterleib?
— Zitiert nach „Gen-Report 1988".
Nach der extrakorporalen Befruchtung folgt jetzt also auch noch die künstliche Gebärmutter. Fürwahr ein schöner Fortschritt!
Die Entwicklung der gentechnologisch fabrizierten herbizid- und antibiotikaresistenten Pflanzen werden begleitet von der Vision des künstlich hergestellten Menschen, resistent gemacht gegen chlorierte Kohlenwasserstoffe und Pestizide, nach Eugenik-TÜV qualitätsgeprüft und für brauchbar befunden. Wenn wir aber sagen: hört auf mit dieser Frankensteintechnologie, dann gelten wir als Fortschrittsfeinde.
Stimmt: solchem Fortschritt stehen wir feindlich gegenüber.