Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Die Verabschiedung der beiden Protokolle über die Errichtung eines Verteidigungs- und Sicherheitsrates sowie eines Finanz- und Wirtschaftsrates im Deutschen Bundestag und in der Französischen Nationalversammlung ist gut und wichtig — nicht nur für das deutsch-französische Verhältnis, sondern für das ganze Europa.
Es bleibt bei der westlichen Strategie, dabei, daß alle unsere Anstrengungen nur ein Ziel haben, nämlich Krieg zu verhindern, aber nicht Krieg zu führen.
Herr Kollege Mechtersheimer, den Frieden zu sichern heißt auch, den inneren Frieden zu bewahren. Zur Bewahrung des inneren Friedens gehört es auch, dem politischen Gegner und Konkurrenten nicht eine bösartige Gesinnung zu unterstellen.
Wir können streiten über die Ziele, wir können streiten über die Wege, diese Ziele zu erreichen, aber die Kraft einer demokratischen Gesellschaft, ihre Freiheitlichkeit und Toleranz lebt davon, daß man nicht der anderen Seite Ziele unterstellt, die sie nicht hat. Sie sollten sich überlegen, ob Sie wirklich bei dem bleiben können, was Sie heute den anderen Fraktionen des Deutschen Bundestages und unserem französischen Verbündeten unterstellt haben.
Wir setzen mit unserer Politik einen weiteren wichtigen Baustein für die Architektur der deutsch-französischen Beziehungen. Wir setzen konsequent eine Politik fort, die vor dem Hintergrund geschichtlicher Erfahrungen in Europa nicht nur für Deutsche und Franzosen wichtig ist, sondern wirklich für unseren ganzen Kontinent.
Die enge deutsch-französische Partnerschaft ist ganz gewiß auch nicht allein das Ergebnis der Bemühungen aller Bundesregierungen. Sie wird getragen von dem Willen der Menschen in Frankreich und bei uns, das Schicksal unserer beiden Länder gemeinsam zu gestalten und gemeinsam für Europa zu arbeiten. Daraus schöpft die deutsch-französische Zusammenarbeit ihre Kraft, ihre Dynamik und ihre Vitalität.
Deutsche und Franzosen haben sich die europäische Einigung zum Ziel gesetzt, und diese Ausrichtung unserer Zusammenarbeit verleiht ihr eine in der europäischen Geschichte bisher nicht dagewesene Dimension. Unsere europäischen Nachbarn verstehen und würdigen das gemeinsame deutsch-französische Engagement, weil sie wissen, daß sich diese Zusammenarbeit gegen niemanden richtet, daß sie aber allen Europäern nützt.
Denken Sie an das Zustandekommen der Europäischen Gemeinschaft — wäre das ohne die Aussöhnung mit Frankreich möglich gewesen? — , an die Westeuropäische Union, an die Zusammenarbeit im technologischen Bereich, an die Fortentwicklung der Europäischen Gemeinschaft zur Europäischen Union. Das geht nur, wenn Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland gemeinsam handeln. Deshalb hat unsere Zusammenarbeit eine europäische Finalität. Der belgische Außenminister Tindemans hat schon recht, wenn er die deutsch-französische Zusammenarbeit als Laboratorium für europäische Kompromißfähigkeit bezeichnet.
Die am 22. Januar dieses Jahres unterzeichneten Zusatzprotokolle zum Elysée-Vertrag sind ein sichtbares Zeichen dafür, was im deutsch-französischen Verhältnis erreicht wurde, und es ist mehr als ein symbolischer Akt, daß die beiden Parlamente zur gleichen Zeit darüber beraten.
Mit der Schaffung eines deutsch-französischen Verteidigungs- und Sicherheitsrates werden Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland ihrer europäischen Friedensverantwortung gerecht. Sie gehen voran beim Aufbau und Ausbau des europäischen Einigungswerkes, das unvollständig bliebe, wenn es nicht auch Sicherheit und Verteidigung umfaßte. Die Europäische Union, der wir uns verpflichtet fühlen, muß auch die Dimension einer Sicherheitsunion haben.
Wir Deutschen respektieren Frankreichs besondere Rolle im westlichen Bündnis. Frankreich ist sich bewußt, daß der eigene Sicherheitsraum nicht an seinen Landesgrenzen endet. Frankreich erkennt den bedeutsamen Beitrag an, den die Bundesrepublik Deutschland zur gemeinsamen Sicherheit aller Verbündeten leistet. Es erkennt den Friedens- und Freiheitsdienst der Soldaten der Bundeswehr an, der eine nicht ersetzbare Voraussetzung westlicher Sicherheit ist.
Präsident Mitterrand hat sich in seinen großen Reden, die er bei seinem Staatsbesuch vor einem Jahr und anläßlich der Entgegennahme des Karlspreises in Aachen am 1. November dieses Jahres gehalten hat, eindrucksvoll zu den Sicherheitsinteressen der Bundesrepublik Deutschland bekannt.
Wir werden den gemeinsamen Verteidigungs- und Sicherheitsrat zielstrebig dazu nutzen, alle die Sicherheit Europas angehenden Fragen, die Verteidigungspolitik ebenso wie die Rüstungskontrolle und Abrüstung, mit unseren französischen Freunden abzustimmen und gemeinsame Vorstellungen weiterzuentwikkeln.
Die Kernfrage der Sicherheit in Europa ist die Herstellung konventioneller Stabilität. Der letzte deutschfranzösische Gipfel hat erneut bestätigt, daß wir uns darin mit Frankreich einig sind und daß wir alles dafür tun, daß diese Verhandlungen schnell aufgenommen werden und bald zum Erfolg führen. Das Protokoll über den Verteidigungs- und Sicherheitsrat verpflichtet beide Länder, alle Anstrengungen zur Erhaltung des Friedens und zu seiner konstruktiven Gestaltung zu unternehmen. Unser Ziel ist die dauerhafte Friedenssicherung.
Herr Präsident, schon der Elysée-Vertrag sieht ausdrücklich die Ausdehnung der deutsch-französischen
8148 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988
Bundesminister Genscher
Zusammenarbeit auf neue Gebiete vor. Er fordert beide Regierungen auf, gemeinsam Mittel und Wege zu prüfen, ihre Zusammenarbeit im Rahmen des europäischen Einigungsprozesses in wichtigen Bereichen der Wirtschaftspolitik zu verstärken. Mit der Schaffung des deutsch-französischen Finanz- und Wirtschaftsrates wird dieser Auftrag des Elysée-Vertrages erfüllt.
Beide Länder haben sich zum Ziel gesetzt, ihre Wirtschafts- und Währungspolitik aufeinander abzustimmen. Der gemeinsame Binnenmarkt bliebe unvollständig ohne eine europäische Wirtschafts- und Währungsunion und ohne eine europäische Zentralbank. Um zu der notwendigen Konvergenz der Wirtschafts- und Währungspolitiken innerhalb der Gemeinschaften zu kommen, wird es auch in Zukunft gemeinsamer Anstrengungen der Bundesrepublik Deutschland und Frankreichs bedürfen. Schon jetzt kann festgestellt werden, daß die enge Zusammenarbeit in diesem Bereich uns diesem Ziel nähergebracht hat.
Ich denke, daß es auch ein gutes Zeichen ist, daß im Dezember zum erstenmal der deutsch-französische Kulturrat in Paris tagen wird. Damit geben wir unserer Zusammenarbeit auch die kulturelle Dimension, die unverzichtbar ist, um zur europäischen Identitätsfindung — und damit meine ich das ganze Europa — beizutragen.
Deutsch-französische Partnerschaft hat das ganze Europa im Auge, das durch seine gemeinsame Geschichte, durch seine gemeinsame Kultur und durch die Aufgabe gemeinsamer Zukunftsgestaltung verbunden ist. Deutsche und Franzosen haben ein historisches Beispiel der Versöhnung gegeben. Sie müssen kühne Konzepte für das ganze Europa, vom Atlantik bis zum Ural, entwerfen und verfolgen, für ein Europa, in dem Staaten unterschiedlicher politischer und gesellschaftlicher Ordnung im friedlichen Wettbewerb miteinander leben können. Unsere gemeinsamen Anstrengungen sind auf das Ziel ausgerichtet, eine ganz Europa umfassende Friedensordnung zu schaffen.
Präsident Mitterrand hat im Zusammenhang mit seinem Besuch in der Sowjetunion in der vergangenen Woche betont, daß die Annäherung der beiden Teile Europas die große Aufgabe am Ende dieses Jahrhunderts ist. Dieser großen Herausforderung wollen wir uns gemeinsam stellen. In der Präambel zum Protokoll über die Errichtung des Verteidigungs- und Sicherheitsrats bekennen sich beide Länder zu der für das Schicksal Europas entscheidenden Zielsetzung der Schaffung einer solchen europäischen Friedensordnung. Sie haben ihre gemeinsame Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß alle Völker unseres Kontinents das gleiche Recht auf ein Leben in Frieden und Freiheit haben und daß die Stärkung beider Voraussetzung für Fortschritte auf dem Weg zu einer gerechten und dauerhaften Friedensordnung in ganz Europa ist. Diese europäische Verpflichtung, die schon im Harmel-Bericht enthalten ist, erkennen wir, und danach handeln wir. Dieser Vertrag, diese Protokolle zeigen es; die Denkschrift, die wir der französischen Regierung zugeleitet haben, zeigt es auch.
Natürlich müssen wir uns der Frage stellen, ob eine engere Zusammenarbeit in der Europäischen Gemeinschaft dem ganzen Europa dient oder nicht. Ich denke, die Entwicklung zeigt, daß eine auf Offenheit und Zusammenarbeit angelegte Europäische Gemeinschaft eine Chance für das ganze Europa ist.
Herr Kollege Mechtersheimer, Sie werfen die Frage auf, ob das nicht Europa auseinanderführt.
Darf ich, wenn Sie sich darum Sorge machen, die Gegenfrage stellen, warum dann Ihre Redner, wenn es um die deutsche Nation geht, etwas dagegen haben, daß im gemeinsamen europäischen Haus für die Deutschen die Chance offengehalten wird, in einer Wohnung zu leben.
Meine Damen und Herren, wir haben im deutschfranzösischen Verhältnis viel erreicht. Die Bilanz, die wir in diesem Jahr anläßlich des 25. Jahrestages der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags ziehen konnten, spricht für sich selbst. Vieles bleibt noch zu tun. Deutsche und Franzosen sind sich bewußt, daß die Zeit nationaler Alleingänge unwiderruflich der Vergangenheit angehört. Die Gestaltung der Zukunft ist heute nur noch in europäischer Verantwortung möglich. Die Bundesrepublik Deutschland und Frankreich stellen sich gemeinsam dieser Verantwortung.