Herr Kollege, ich bedauere Ihr kurzes Gedächtnis, wenn ich das so mit aller Deutlichkeit sagen darf. Erinnern Sie sich eigentlich noch an die Zustände zwischen den beiden deutschen Staaten vor 1969? Erinnern Sie sich daran, was damals Alltag war? Vergleichen Sie es bitte mit dem, was wir heute haben, und fragen Sie sich einmal, ob das, was wir in diesen Jahren getan haben, den Menschen genützt hat oder nicht.
Hier hat sich etwas entwickelt.
Aber damit an meiner und an unserer Haltung Ihnen gegenüber überhaupt kein Zweifel aufkommt: Das, was wir erreicht haben, ist nicht der Endzustand, den wir uns als Ergebnis dieser Politik vorstellen. Aber es sind Schritte auf dem Wege dorthin, und wir sind bereit, diese kleinen Schritte beharrlich weiterzugehen.
Meine Damen und Herren, die Regierungserklärung hat einen ganz bestimmten Akzent unserer Deutschland- und Europapolitik in einer dankenswerten Klarheit dargestellt. Der Bundeskanzler hat in seiner Regierungserklärung darauf hingewiesen, daß es auf Grund unserer Verfassung zwei Aufträge gibt, nämlich die Einheit der Nation zu bewahren und in einem vereinigten Europa dem Frieden der Welt zu dienen. Die jüngsten Entwicklungen zwischen Ost und West lassen auf einmal die Hoffnung, ja, die Möglichkeit aufkommen, daß eine Kombination dieser beiden Aufträge auch zu einer positiven Antwort auf die deutsche Frage führen wird. Wir alle hoffen, daß die Entwicklungen, die sich in der Sowjetunion, in Ländern des Warschauer Pakts und vielleicht eines Tages auch in der DDR vollziehen, zu einem, wie es immer genannt wird, gemeinsamen europäischen Haus führen werden, in dem dann auch die Deutschen ihr Selbstbestimmungsrecht werden ausüben können.
Nur, wenn von dem gemeinsamen europäischen Haus die Rede ist, dann wird man daran einige Vorbedingungen knüpfen müssen.
Die Statik in diesem Haus muß stimmen, und es darf nicht Vorbedingung sein, daß der eine das Mobiliar des andern übernimmt, sondern Vorbedingung muß sein, daß er in voller Freiheit in seinem Teil dieses Hauses seine nationale Identität bewahrt.
Innerhalb dieses Hauses darf es keine verschlossenen Türen geben, und das ist wohl für uns als Deutsche eine ganz wichtige Voraussetzung all dessen, was wir wollen.
Wir wollen nicht, daß die Deutschen in einem solchen gemeinsamen europäischen Haus eine Sonderrolle spielen. All unsere Partner und Nachbarn in Ost und West werden unter Bewahrung ihrer nationalen Identität in dieses Haus einziehen. Es ist überhaupt nicht einzusehen, warum ausgerechnet wir diese nationale Identität bei dem Einzug in das gemeinsame europäische Haus aufgeben sollten.
Deswegen sage ich hier: Es ist bei uns notwendig, daß wir uns darauf besinnen, wie es der Bundesaußenminister eines Tages gesagt hat, daß auch die Jahre seit Kriegsende aus dem einen Europa nicht zwei Europas gemacht haben und aus dem einen Deutschland nicht zwei Deutschlands. Vielleicht täten wir gut daran, auch in der Sprache unseres täglichen Umgangs miteinander und mit der anderen Seite exakter zu sein und nicht von Deutschland zu reden,
8128 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988
Ronneburger
wenn wir nur die Bundesrepublik Deutschland meinen,
und nicht von Europa, wenn wir nur an die Europäische Gemeinschaft denken.
Wenn wir uns nicht darauf besinnen, daß auch jenseits jener Grenze, die heute Europa und unser Vaterland teilt, Europäer leben, und zwar Mitteleuropäer nach historischem Verständnis, wenn wir uns der Gemeinsamkeit, der gemeinsamen Identität Europas nicht bewußt werden, dann wird es sinnlos sein, in ein solches gemeinsames Haus Europa einzuziehen.
Aber eines muß dann auch hier hinzugefügt werden, weil neben der Aussage von der Chance der Zweistaatlichkeit auch die Frage aufgetaucht ist, wie es denn um die Bewahrung des Friedens in Europa steht. Sind wir uns eigentlich darüber im klaren, daß derjenige, der Grenzen aufheben, der Grenzen durchlässig machen will, der Grenzen beseitigen will, dem Frieden einen besseren Dienst tut als derjenige, der Grenzen in die Zukunft hinein verlängern und sie gar mit Gewalt für einen großen Teil der Menschen undurchdringlich machen will? Deswegen ist unsere Politik, die auf Selbstbestimmungsrecht der Deutschen hinläuft, eine Politik, die dem Frieden in Europa dient. Derjenige, der versucht, uns bei einer solchen Lösung zu behindern, um diese Grenze so zu lassen, wie sie heute ist, der dient dem Frieden nun wahrlich nicht.
Deswegen werden wir diese Politik so weiterbetreiben. Deswegen werden wir mit kleinen Schritten weiter vorangehen. Deswegen werden wir nichts von dem aufgeben, meine Damen und Herren in der SPD-Fraktion, was wir einmal an gemeinsamer Deutschlandpolitik auch in der sozialliberalen Koalition betrieben haben.
Aber ich füge hinzu: in einer SPD-geführten Koalition, aber mit einer FDP-orientierten und -inspirierten Deutschlandpolitik. Dafür habe ich Ihnen vorhin ein nachdrückliches Beispiel mit auf den Weg gegeben.
Wir suchen eine europäische Friedensordnung, in der es dem deutschen Volk möglich werden wird, sein Recht auf Selbstbestimmung im Einklang mit den Interessen seiner Nachbarn in Ost und West zu verwirklichen. Wir treiben keine Deutschlandpolitik gegen irgend jemanden. Wir treiben Deutschlandpolitik für das deutsche Volk und für seine Zukunft.
Es wäre gut, wenn wir uns, so wie es auch der Bundeskanzler heute noch einmal gesagt hat, nicht nur darüber klar sind, daß wir hier vor einer Aufgabe von historischer Dimension stehen und die Lösung dieser Aufgabe nicht dem Lauf der Geschichte überlassen dürfen, sondern auch darüber, daß wir aufgerufen sind — wir, die wir heute und in den nächsten Jahrzehnten Verantwortung tragen —, im Sinne dieser Vorstellungen politisch gestaltend zu wirken.
Ich bedanke mich.