Herr Schily, Sie kennen die Vorstellungen, die wir vertreten, sehr genau aus verschiedenen Podiumsdiskussionen. Sie wissen, daß für uns die Vorstellung von Wiedervereinigung vor allem im Selbstbestimmungsrecht der Deutschen mündet. Das heißt, die Deutschen müssen sich in freier Willensentscheidung erklären können, wie sie sich staatlich organisieren wollen. Ich sehe darin keinen Zusammenhang mit der jetzt von Ihnen gestellten Frage.
All das, meine Damen und Herren, hätte die Bundesregierung, wäre sie den ständig wiederkehrenden Aufforderungen der SPD gefolgt, längst zugestehen sollen, ohne daß die SPD je von der DDR-Führung irgendwelche Zugeständnisse dafür verlangt hätte.
— Meine Damen und Herren, da brauchen Sie nicht beleidigt zu sein. Es ist objektiv einfach so: Die Opposition erschwert der Bundesregierung das deutschlandpolitische Geschäft nach Kräften, indem sie dauernd Vorleistungen verlangt, anstatt mit uns, mit der Bundesregierung die DDR-Führung nachhaltig zu mehr Rechtlichkeit und inneren Reformen zu mahnen.
Herr Dr. Vogel, Ihr gemeinsames Papier mit der SED
hat vor einigen Tagen — das werden Sie ebenfalls zur Kenntnis genommen haben — der ehemalige Bundeskanzler Helmut Schmidt als „überflüssig", gar als „schädlich" bezeichnet.
Davon haben Sie in Ihrem Vortrag eben aber nichts gesagt.
Wir alle, meine Damen und Herren, würden uns natürlich wünschen, daß die Bundesregierung in den innerdeutschen Beziehungen noch mehr hätte erreichen können. Einige Beispiele für Unerledigtes hat der Bundeskanzler bereits aufgeführt. Lassen Sie mich noch einiges hinzufügen. Ich meine, daß auch die Öffnung der sogenannten Sperrbezirke entlang der DDR-Seite der Grenze für Besucher aus dem Westen hinzukommen muß.
Ich meine auch, daß die DDR-Seite bereit sein sollte, weitere Landstriche und Städte in den grenznahen Verkehr einzubeziehen.
Auch die Art und Weise, wie die DDR-Führung seit einiger Zeit die kirchlichen Presseorgane behandelt, aber auch wie sie mit unseren Journalisten und Korrespondenten in der DDR umgeht, muß als Rückschlag im Vergleich zum schon Erreichten bezeichnet werden.
— Das ist auch nicht sein Anliegen.
Zu den negativen Entwicklungen gehört auch die härtere Gangart des Regimes gegenüber der eigenen Bevölkerung, das Verhaften und Einsperren politisch Andersdenkender, der rücksichtslose Machteinsatz bei jeder noch so geringen Kritik — siehe etwa die Entfernung von vier minderjährigen Schülern von einer Oberschule — das Vertriebsverbot der sowjetischen Zeitschrift „Sputnik", die Absetzung sowjetischer Filme, der dem Jugend- und Kulturklub verordnete Maulkorb in Sachen „Glasnost" und „Perestroika". Das alles, meine Damen und Herren, paßt überhaupt nicht zu den ständigen Beteuerungen
8106 Deutscher Bundestag — 11. Wahlperiode — 113. Sitzung. Bonn, Donnerstag, den 1. Dezember 1988
Lintner
der DDR-Führung, es zu keiner Beschädigung der innerdeutschen Beziehungen kommen zu lassen.
Die Bundesregierung hat — das muß man ihr bestätigen — mit Besonnenheit darauf reagiert, aber die Beschädigung der innerdeutschen Beziehungen tritt schon dann ein, wenn unsere Öffentlichkeit, d. h. wenn nach Meinung unserer Bevölkerung Hilfeleistungen und politisches Entgegenkommen gegenüber der DDR nicht mehr gerechtfertigt sind, weil es der DDR-Führung ganz offensichtlich am guten Willen zur Weiterentwicklung der Beziehungen in Richtung guter Nachbarschaft fehlt. Das senkt dann nämlich die Akzeptanzschwelle für deutschlandpolitische Maßnahmen beim Bürger, und damit schrumpft ganz zwangsläufig auch der Handlungsspielraum der Bundesregierung. Konkret heißt das, meine Damen und Herren: Auch der Geduldsfaden unserer Deutschlandspolitik ist nicht uferlos belastbar.
Die DDR kann sich auch nicht gegen Reformen und Neuerungen auf Dauer völlig verschließen, die von fast allen übrigen kommunistischen Staaten als geradezu unabänderlich und überlebensnotwendig anerkannt worden sind. Die arrogante Feststellung — die im übrigen durch nichts gerechtfertigt ist — der Altherrenriege, in der DDR seien Reformen nicht nötig, ist eine zu augenscheinliche Notlüge, als daß sie ernsthaft als berechtigt akzeptiert werden könnte.
Dabei ist die Bundesregierung erkennbar bemüht, der DDR-Führung stabile innerdeutsche Rahmenbedingungen zu bieten. Aber damit soll eben ein Mehr an Menschenrechten ermöglicht und gezielt der Bevölkerung geholfen werden. Die Rigidität des Regimes und auch seine Brutalität gegenüber den eigenen Leuten müssen diese Stabilität auf Dauer gefährden.
Meine Damen und Herren, ein Vorwurf — so z. B. von Herrn Maetzke am Montag in einem ,,FAZ"-Kommentar erhoben — kann der Bundesregierung im Ernst nicht gemacht werden, nämlich der Vorwurf, daß sie das eigentliche Ziel — die Wiedervereinigung — geopfert habe. Dieses Ziel ist für uns — Bundeskanzler Helmut Kohl, aber auch mein Parteivorsitzender Theo Waigel und andere haben es immer wieder betont — politisch und rechtlich ohne Abstriche gültig und verbindlich.
Damit ist geradezu zwangsläufig natürlich auch die Existenz der Bundesrepublik, aber auch der DDR in Frage gestellt. Sie gehen womöglich in einem neuen deutschen Gesamtstaat auf. Das ist aber nur eine logische Folge der Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht. Darüber muß sich natürlich auch die SED im klaren sein. Zweifel an dieser Komponente der Deutschlandpolitik, wie sie in diesem Kommentar geäußert worden sind, sind unberechtigt, auch wenn darauf nicht ständig hingewiesen wird.
Meine Damen und Herren, konkrete Ansatzpunkte für eine vernünftige Zusammenarbeit bieten sich u. a. bei Verkehrsfragen, beim Umweltschutz, in Wissenschaft und Technik, bei der Lehrlings- und Studentenausbildung und auch in der Landwirtschaft. Die DDR ist auf diese Zusammenarbeit im übrigen dringendst angewiesen, denn auch die Deutschen in der DDR verlangen mehr von ihrer politischen Führung. Sie sind damit unzufrieden, daß beispielsweise praktisch nichts Wesentliches gegen die extreme Umweltverschmutzung in ihrem Land getan wird.
Ein nach wie vor sehr schwieriges Kapitel — der Bundeskanzler hat es offen angesprochen — ist trotz steigender Zahlen die Familienzusammenführung und vor allem auch die Behandlung derjenigen geblieben, die einen Antrag auf Übersiedlung gestellt haben. Es liegt natürlich nicht in unserem Sinne, meine Damen und Herren, unsere deutschen Landsleute in der DDR zu ermuntern, die DDR zu verlassen. Aber diejenigen, die aus Verzweiflung über ihre Rechtlosigkeit, über die Willkür der Organe, wegen der mangelnden Freiheit oder der Perspektivlosigkeit den schweren Weg der Übersiedlung eingeschlagen haben, müssen von den zuständigen DDR-Stellen korrekt, d. h. gemäß den internationalen Vereinbarungen behandelt werden.
Meine Damen und Herren, im übrigen ist die DDR-Regierung natürlich selbst verantwortlich dafür, daß die Schlange der Antragsteller nicht abreißt.
Die Tatsache, daß nach der Antragstellung jede positive Perspektive für die Betroffenen und sogar noch für ihre Kinder in der DDR verlorengeht, zwingt die Antragsteller, geradezu eisern an ihrem Ausreisewillen festzuhalten.
Meine Damen und Herren, die Deutschlandpolitik besteht nicht nur aus den innerdeutschen Beziehungen. Auch die Ostgebiete und das Schicksal der Deutschen in den Siedlungsgebieten im Ostblock gehören dazu. Der Kollege Dr. Czaja wird sich dazu eingehend äußern.
Der Bericht zur Lage der Nation darf, obwohl er jährlich wiederholt wird, nicht zur bloßen Routine werden. Er bietet die Chance — für Regierung wie für die Opposition — , das Erreichte auch kritisch zu bilanzieren, Mißverständnissen wirksam entgegenzutreten, Klarheit über den grundsätzlichen und praktischen Kurs zu schaffen und die Hoffnung für die Lösung der deutschen Frage zu stärken. Diese Aufgaben hat die Bundesregierung in ihrer Bilanz voll erfüllt. Sie kann in vollem Umfang in Anspruch nehmen, daß sie diesen Anforderungen gerecht geworden ist.
Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion dankt der Bundesregierung für die Umsicht, die sie dabei an den Tag legt und gelegt hat, und ermuntert sie, auf diesem eingeschlagenen Weg aktiv weiterzugehen.