Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Der jährliche Bericht zur Lage der Nation ist traditionsgemäß Anlaß, in der Deutschlandpolitik Bilanz zu ziehen, aber nicht nur bei der Bun-
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Lintner
desregierung, Herr Kollege Dr. Vogel, sondern beispielsweise auch bei der Opposition. Doch darauf werde ich später noch zu sprechen kommen.
Die Bilanz der Bundesregierung, meine Damen und Herren, kann sich auch diesmal wieder durchaus sehen lassen. Wir können heute feststellen: Die deutsche Frage findet sichtbar mehr Interesse als früher, und sie kann wieder mit ernsthafter Aufmerksamkeit in Ost und in West rechnen.
Zentrale deutschlandpolitische Themen, wie die Frage der Wiedervereinigung, stoßen auf eine wachsende Resonanz. So ist zum Beispiel in der Bundesrepublik mittlerweile eine konstruktive Debatte über Wege und Schritte zur Wiedervereinigung in Gang gekommen.
Die klaren deutschlandpolitischen Bekenntnisse auch höchster Repräsentanten unserer westlichen Verbündeten bei Besuchen in Berlin und in der DDR und auch gegenüber Besuchern aus der DDR sind allein ein Ergebnis der Tatsache, daß die jetzige Bundesregierung die Forderung nach Wiedervereinigung der Welt mit sichtbar mehr Nachdruck und erkennbar größerer Ernsthaftigkeit vorträgt, als dies früher der Fall war. Besonders deutlich wurde dies kürzlich daran, wie Bundeskanzler Helmut Kohl bei seinem Treffen mit dem Generalsekretär Gorbatschow in Moskau offen, klar und ohne Scheu die Lösung der deutschen Frage gefordert hat.
— Herr Schily, Sie kennen ja die Sachverhalte,
ich brauche sie Ihnen ja nicht in Erinnerung zu rufen. Es sind Tatsachen, keine Meinungen.
Aber auch das Interesse der Sowjets an Abrüstung hat bis heute zu keiner konkreten, nachweisbaren Chance für die Wiedervereinigung geführt. Ich stelle das deshalb fest, weil es zu keiner neuen Legende von einer angeblich aus Kleinmut verpaßten Chance zur Wiedervereinigung kommen darf; denn darauf spekulieren so manche politischen Gruppierungen im Lande.
Im Mittelpunkt unserer Deutschlandpolitik — das hat der Bundeskanzler hier ja erneut klar und deutlich festgestellt — steht das Selbstbestimmungsrecht, ein im Völkerrecht verankertes, allgemein anerkanntes Menschenrecht, das keinem gegen seinen Willen geteilten Volk der Erde verweigert werden kann, so auch nicht dem deutschen Volk.
Die Bundesregierung ist deshalb gut beraten, wenn sie dieses Anliegen — das ist auch ein Unterschied zu früher — mit großer Selbstverständlichkeit und nachdrücklich als eine ganz natürliche Forderung überall in der Welt vertritt.
Auch die Präsidentin des Deutschen Bundestages,
Frau Süssmuth, hat dafür, wie ich meine, vor kurzem
bei einer Konferenz in Warschau ein gutes Beispiel gegeben.
Alle Vorschläge und Überlegungen, speziell dem deutschen Volk wegen seiner Geschichte diesen natürlichen Anspruch absprechen zu wollen, wie das unter anderem vom Herrn Kollegen Professor Heimann in einem Grundsatzpapier vom Sommer letzten Jahres getan worden ist, empfehlen den Deutschen die Anormalität.
Daß es also gelungen ist, aller Welt, darunter auch der Sowjetunion, nahezu bringen, daß es auf Dauer nicht gelingen kann, natürlicherweise Zusammengehöriges zu trennen, das ist einer der wichtigsten Erfolge der Deutschlandpolitik unserer Bundesregierung und speziell des Einsatzes des Herrn Bundeskanzlers.
Das sind, ebenso wie das Bemühen um die Stärkung des Bewußtseins der Einheit bei den Deutschen selbst, Elemente einer echten Konzeption und nicht nur von der aktuellen Situation eingegebene rein pragmatische Handlungen.
Die SPD — jetzt komme ich auf Ihre Bilanz, Herr Dr. Vogel — hat es, glaube ich, nötig, selbst einmal kritisch eine Bilanz ihres deutschlandpolitischen Zustands zu ziehen.
Dies schon deshalb, weil gerade in den letzten Tagen zu Gegensätzliches an Standpunkten aus den Reihen der SPD bekannt geworden ist.
So spricht zum Beispiel Egon Bahr von der „Illusion der Wiedervereinigung". Er tut sie wörtlich als „Quatsch" ab, nennt sie „objektiv und subjektiv Lüge", „Heuchelei, die uns und andere vergiftet", „politische Umweltverschmutzung". Das sind alles wörtliche Zitate aus den letzten Tagen, Äußerungen Ihres Fraktionskollegen.
Was ich, Herr Dr. Vogel, für den Gipfel des Zynismus halte, ist, daß er öffentlich Verständnis für den Schießbefehl geäußert hat, wie in der Presse zu lesen war.
— Doch, das hat er getan, lesen Sie es nach. Er hat gesagt, die Leitern wären am nächsten Tag ausverkauft, wenn ... So war er in der Presse zitiert worden. Ich habe bis heute kein Dementi gelesen.
Schon die Weigerung der Bundesregierung, eine verfassungswidrige konstitutive Vereinbarung mit der DDR über den Verlauf der Grenze an der Elbe zu treffen, ruft heutzutage Kritik bei der SPD hervor. Und ihr
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Vize Lafontaine — das kennen Sie ja — zieht ausländische Asylanten den deutschen Aussiedlern vor,
nennt die gegenteilige Auffassung gar „Deutschtümelei". Das alles, meine Damen und Herren, wird dann zwar von dem einen oder anderen in der SPD lustlos mehr oder weniger abgeschwächt, aber was eigentlich für die SPD gilt, das wird immer unklarer. Und auch Sie haben mit Ihren Ausführungen nicht zur Klarheit beigetragen.
Die SPD hat offenbar — das ist meine Vermutung — längst dem Ziel der Wiedervereinigung innerlich abgeschworen. Sie scheut sich nur, das auch öffentlich zuzugeben. Auch dafür ist der Herr Bahr bekanntermaßen ein Spezialist. Dauernd fordern Sie von der Bundesregierung konkrete Schritte, Schritte, die letztlich gegen das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes verstoßen würden. Die SPD tritt dabei vielfach, leider, muß ich feststellen, als Anwalt der SED und nicht des Wiedervereinigungsgebotes des Grundgesetzes auf.
Dabei ist es der Bundesregierung ohne Abkehr von Grundsätzen gelungen, die DDR-Führung beispielsweise wieder von dem unsinnigen Junktim zwischen der Elbe-Grenze und Maßnahmen gegen die Elbeverschmutzung abzubringen. Obwohl die Bundesregierung beispielsweise auch in Sachen Erfassungsstelle Salzgitter festgeblieben ist, wurde der Schießbefehl für die DDR-Grenzorgane offensichtlich modifiziert.